Hanspeter Born

Politiker wider Willen


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die meinen Gefühlen zuwiderläuft.

      Den eigenen Gefühlen misstrauen! Diese von Pareto gepredigte Weisheit hat Pilet zur seinen gemacht; er wird sie nie mehr vergessen. Seine Lausanner Studenten, zu «rigoroser Objektivität und zu einem scharfen kritischen Sinn» anhalten:

      Es ist sehr leicht und sehr verführerisch, für wahr zu halten, was eure Ideen bestätigt, oder – ein schlaueres, aber nicht weniger gefährliches Verfahren – in der Auswahl der Fakten bei denen aufzuhören, die keinen Einwand erheben und die euch nicht widersprechen. Der wissenschaftliche Geist verlangt, dass man die Fakten als das nimmt, was sie sind, ob sie euch gefallen oder missfallen.

      Kein Wunder, dass Pilet in den politischen Kreisen, in denen er sich später bewegen wird, oft auf blankes Unverständnis stiess. Sich selbst und seine Ideen infrage stellen ist dem Durchschnittspolitiker fremd.

      Und noch ein weiterer Gedanke Paretos scheint den Rechtsstudenten Pilet dauerhaft beeinflusst zu haben. Pareto sagt, man wisse «wenig oder nichts über die Auswirkungen irgendwelcher Änderungen des sozialen Zustandes», und derjenige, der Änderungen vorschlage, operiere aufs Geratewohl: «Er weiss, wohin er gehen möchte, aber er weiss nicht, wohin er wirklich gehen wird.» Wenn er einen Rat geben müsste, wäre es dieser: Jeder soll sich um seine eigenen Interessen kümmern und sich begnügen, unmittelbare und leicht vorhersehbare Wirkungen anzustreben.

      Jegliche Änderung des sozialen Zustands habe ausser einer direkten Auswirkung auch wesentliche indirekte Auswirkungen, die oft schwieriger einzuberechnen seien als die direkten:

      Dies ist einer der Gründe, weswegen die Gesetzgeber, wenn sie wirtschaftliche Phänomene regulieren wollten, bisher mehr Schlechtes als Gutes getan haben.

      Dass ein neues Gesetz manchmal mehr schadet, als nützt, ist eine Erkenntnis, die den Politiker Pilet-Golaz sein Leben lang begleiten wird.

      Pilet ist fasziniert von der «Entwicklung der Gesellschaften und der politischen Systeme» – Titel seiner eigenen Vorlesungen von 1947 – und hat vermutlich von dem reichen historischen Wissen, das Pareto vor seinen Zuhörern ausbreitete, Anstösse zu eigenen weiteren Studien erhalten. Er hat sich schon früh mit Montesquieu und seinem «magistralen Werk» De l’esprit des lois befasst, weil er dessen «so grossen und so tiefen Einfluss auf die Entwicklung der politischen Ideen und den Fortschritt der liberalen Demokratie» erkannte. 1952 wird er seinen Studenten berichten:

      Die Lektüre [von De l’esprit des lois] ist nicht gerade unterhaltsam und ich wage nicht euch anzuhalten, sie in Angriff zu nehmen. Ich weiss, welche Mühe ich selber gehabt habe, dies zu tun. Ich war zwanzig und las mit Vorliebe abends. Aber ich kam nicht über Seite 17 hinaus, worauf ich einschlief. Um dieses schläfrige Kap zu umschiffen, musste ich den Vorsatz fassen, am Morgen zu früher Stunde zu lesen. Nicht dass das Werk langweilig oder unverdaulich wäre, überhaupt nicht, aber es ist so reich an Substanz und Materie, dass seine Erfassung nicht in Häppchen geschehen kann. Vergessen wir nicht, dass es das Produkt von mehr als zwanzig Jahren Arbeit, Studien und Nachdenken ist Pilet verehrt Montesquieu, im Gegensatz zum anderen bedeutenden politischen Denker des 18. Jahrhunderts, von dem er zugibt:

      Ich mag Rousseau nicht, ich meine den politischen Rousseau, nicht den literarischen Rousseau. Gibt es etwas Köstlicheres, Aufrichtigeres und Melancholischeres als die Rêveries du promeneur solitaire oder die Confessions?

      Alt Bundesrat Pilet-Golaz missfällt der politische Rousseau, weil er am Ursprung der «jakobinischen, totalitären» Tendenz der demokratischen Entwicklung steht, die «auf dem Weg über den Marxismus zu den sogenannten Volksdemokratien von heute führt». Bestimmt hätte es Pilet gefreut, wenn er 1952 hätte voraussehen können, dass die «sogenannten Volksdemokratien von heute» keine vierzig Jahre später ein unrühmliches Ende finden würden.

       7. Die Bühne ruft

      Schon als Gymnasiast ist Marcel Pilet ein eifriger Theaterbesucher. Er erhält die Erlaubnis, im Lausanner Theater, in dem auch die vedettes, die Stars, aus Paris gastieren, sich hinter den Kulissen umzusehen. Die Beziehungen, die sein Vater als Kommunalpolitiker hat, machen es ihm möglich. Und natürlich träumt der junge Theaternarr davon, selbst einmal auf den Brettern, die die Welt bedeuten, zu stehen, vielleicht sogar als Berufsschauspieler.

      Die sogenannten théatrales sind eine Tradition bei Belles-Lettres. Jeden Dezember tritt die Theatertruppe der Studentenvereinigung vor vollem Haus im feudalen Lausanner Grand Théâtre auf. Vorher oder nachher ziehen die schauspielernden Bellettriens durch den Kanton und erfreuen das Publikum der grösseren Ortschaften mit ihren Aufführungen. Pilet ist schon von Anfang an Mitglied der Theaterkommission der Verbindung. Eine Hauptaufgabe der Kommission ist die Wahl der Stücke. Man bemüht sich um eine Mischung zwischen modernen Komödien, die eben in Paris mit Erfolg gespielt worden sind, und Klassikern. Man prüft, ob ein Stück allzu gewagt sei, um es keuschen weiblichen Ohren zuzumuten. Pilet ist hier liberal. Ein klein wenig risqué darf es schon sein, solange der gute Geschmack nicht durch Vulgaritäten verletzt wird.

      In der Theaterkommission kümmert sich Neuling Pilet um Dinge wie Saalmiete, Anschaffung von Kostümen, Druck der Programme, Korrespondenz mit Behörden, Verteilung der Rollen, Ansetzung der Proben – wer zu spät kommt, zahlt eine Busse. Soll man den Zofingern das Gewand von Louis XIV ausleihen? Pilet ist dagegen und der Vorstand auch. «Nieder mit Zofingen!», liest man in einem Protokoll. Bereits in seinem ersten Semester spielt Neuling Pilet mit.

      Am 20. Januar 1908 wartet im Grand Théâtre ein gut gelauntes Publikum auf die traditionelle (wegen des Todes des Rektors verschobene) Jahresendaufführung der Bellettriens. Auf den Rängen sitzen Verwandte und Bekannte, Altherren und Scharen von erwartungsvollen jungen Fräuleins, darunter viele Ausländerinnen – Russinnen hauptsächlich – aus Lausannes zahlreichen Mädchenpensionaten.

      Der Abend beginnt mit dem beliebten Prolog, in dem das Geschehen des abgelaufenen Jahres persifliert wird. Politiker, nicht zuletzt der in der Loge sitzende syndic, werden schonungslos aufs Korn genommen. Die Zuschauer lachen. Dann folgt als pièce de résistance die anspruchsvolle Komödie Le mariage de Figaro von Beaumarchais. Auch wenn man dem Darsteller Figaros «mehr Leben» gewünscht hätte, amüsiert sich das Publikum königlich. «Glückliche Jugend!», schreibt der Kritiker der Gazette de Lausanne. Ihm sind zwei «Debütanten, die viel versprechen», aufgefallen, «die Herren Simond und Pilet», der Letztere in der Rolle des Grafen Almaviva, eines tyrannischen alten Lüstlings.

      Die Theaterabende in der Provinz sind verbunden mit Bankett, Reden, Tanz. Der Sekretär von Belles-Lettres schreibt jeweils einen Bericht über die théatrales. Im Dezember 1909 liegt die Aufgabe bei Pilet. Wie es Brauch ist, kritisiert er den Auftritt der Kollegen:

      Rey ist viel besser gewesen, als man hätte glauben können. Gagnaux gab eine ausgezeichnete Soubrette in einem welschen Marktflecken. Secretan spielte einen manischen und affektierten Kammerdiener, der ganz gelungen war; man muss sagen, dass dies perfekt zu seinem Naturell passte, nicht dass er ein Kammerdiener wäre, sondern nun, Ihr versteht mich. Girardet und Pilet waren, was sie sind, immer ohne Fehler.

      Sekretär Pilet geistreichelt weiter:

      Um 2 Uhr früh verliess Belles-Lettres diese Stadt, die sie hatte verderben wollen. Die einzige Spur ihrer Durchfahrt war am nächsten Morgen die [rot-weisse] zofingische Farbe der Bettwäsche der Mädchen. Getrieben von Erinnerungen, vom Verlangen und von irgendeinem Teufel, hatten sie Ihr versteht mich. Ihre Mütter sahen darin das Zeichen von Gottes Finger und schworen sich, die Mädchen nie wieder zu den Abendveranstaltungen von Belles-Lettres zu führen.

      Will Pilet mit der schlüpfrigen Bemerkung den Kollegen imponieren? Dass die Bellettriens, junge Männer um die zwanzig, sich im Umgang mit dem schönen Geschlecht oft keinen Zwang antun, zeigen die Notizen auch anderer Sekretäre:

      Eine Gruppe von kühnen Bellettriens dringt [in Aubonne] bei der Modistin ein, die im Ort en vogue ist, und bald ist der ganze Laden drunter und drüber. Herzog umarmt die kleine Lehrtochter, Pilet berührt das Bein einer Arbeiterin, während Gagnebin geschickt die