Bedacht darauf, dass ihre Untertanen die Bibel lesen, hatten schon Leurs Excellences de Berne den Schulunterricht für obligatorisch erklärt. Der junge Kanton Waadt betrachtet die Erziehung der Jugend als eine seiner vordringlichsten Aufgaben. Er will im Schulwesen den ersten Rang einnehmen, was von Kanton und Gemeinde schwere finanzielle Opfer verlangt:
Dies spielt keine Rolle: Der Waadtländer will kenntnisreich, gelehrt, kultiviert sein, und wenn es sein muss, blutet er dafür aus allen Venen. Die Schule ist heilig.
So der Historiker Paul Maillefer, später Stadtpräsident von Lausanne, gescheiterter offizieller Bundesratskandidat und Fraktionskollege von Pilet im Nationalrat.
Am 10. Juli 1902 wird Marcel Pilet in die 3. Klasse befördert. Die jährliche Feier am Schluss des Schuljahrs ist ein Ereignis von öffentlichem Interesse. In der Gazette de Lausanne kann man lesen, wie sich genau um Viertel vor neun der Umzug von Lehrern und Schülern in Bewegung setzt, um vom Collège zur Kathedrale St-François zu marschieren, voran die Trommler, die Pfeifer und die neue Fahne. In der Kirche folgen sich Darbietungen des Schulchors und des Schulorchesters, Grussadresse der Kantonsregierung, eine Lesung und diverse Reden.
Schuldirektor Edouard Payot ermahnt die Schüler zur «Arbeit, die der Zweck des Lebens sein muss». Der zwölfjährige Marcel, der später als Bundesrat selber verschiedentlich in der Kathedrale St-François das Wort ergreifen wird, nimmt sich die Worte des directeur zu Herzen. Mangelnden Fleiss wird man ihm nie vorwerfen.
Edouard Payot, der mit starker Hand und Einfühlungsvermögen die Schule leitet, geniesst in der Öffentlichkeit hohes Ansehen. 35 Jahre nach der beschriebenen Abschlussfeier erweist auch Bundesrat Pilet-Golaz seinem ehemaligen Schulvorsteher die Reverenz. In einem Erinnerungsartikel erzählt er, wie er als Junge durch die hohe und düstere Doppeltüre ins Zimmer tritt, wo beim hellen Fenster, mit dem Rücken zum Cheminée er vor seinem Arbeitstisch sitzt:
Er der Direktor. Ah! Ja, Direktor, das ist er. Kein gravitätischer Direktor, der aus seinen erhabenen Lippen langweilige Sermone fallen lässt. Auch kein dilettantischer und überheblicher psychoanalytischer Direktor, der an seinen «Fällen» interessiert ist, wie ein Laborarzt an seinen Meerschweinchen; kein Erfinder von Theorien, kein Zerstörer von Charakteren. Nein, er ist Direktor, weil er dirigiert, weil er befiehlt, weil er will. Was will er? Oh, dies ist sehr einfach, so einfach, dass es unsere fortschrittlichen Geister nicht mehr verstehen. Er will, dass die Kinder, die ihm anvertraut sind – und es sind Kinder, er behandelt sie wie Kinder und er liebt sie gleichermassen –, arbeiten; dass sie auf Leistung trainieren; dass sie lernen, dass nichts Dauerhaftes ohne Mühe erlangt werden kann, dass die Arbeit ihren Reichtum in sich trägt, wenn sie nicht nachlässt, und ihren Lohn, wenn sie mit frohem Herzen verrichtet wird. Er will, dass die Guten gelobt, die Schwachen ermutigt und die Bösen bestraft werden. Er will, dass diese langsamen, unentschlossenen, rasch zufriedenen kleinen Waadtländer lebhaft, genau und sich selber gegenüber anspruchsvoll werden. Er will aus ihnen Männer machen.
Die Werte des Schuldirektors Payot sind bald einmal die Werte des Schülers Marcel Pilet und werden auch die Werte des Politikers Pilet-Golaz sein. Was tut der beflissene, strebsame Schüler in der Freizeit?
Unter den collégiens, die jeden Tag gruppenweise auf der place de St-François eintreffen, ist einer, der gerne einen kleinen Abstecher macht, um die Auslage der Buchhandlung anzuschauen. Es ist ein Braunhaariger mit feinen Gesichtszügen und lebhaften Augen. Sein gestärkter weisser Kragen liegt oft schief, seine Künstlerkrawatte aufgeknöpft – dies ist ihm gleichgültig –, und um die verlorene Zeit einzuholen, läuft er im Galopp die rue du Petit-Chêne herunter.
Festgehalten wird die Szene dreissig Jahre später in einer welschen Schülerzeitung von einer aufmerksamen Nachbarin.
Nachdem der Junge seiner verständnisvollen maman die Tagesereignisse – seine Erfolge und Enttäuschungen – erzählt hat, spielt er gerne mit seiner kleinen Schwester Indianer. Er träumt davon, später einmal Mexiko zu kolonisieren, auch auf die Gefahr hin, skalpiert zu werden. Er wird nicht allein gehen, zwei seiner Freunde haben versprochen mitzukommen.
Einstweilen erweist sich Marcel als intelligenter, genauer, gewissenhafter Schüler. Sein grösstes Vergnügen ist es, in den süssen und tiefen Augen seiner Mutter verdientes Lob zu lesen. Bereits jetzt erwacht der kritische Geist und formt sich das Urteilsvermögen des Schülers – dies dank der gescheiten Geschichten seines Vater, eines umtriebigen und fröhlichen Geschäftsmanns, der sich in die öffentlichen Angelegenheiten Lausannes einschaltet. Zu den Spielen im schattigen Park, zu der Lektüre von Abenteuerromanen, die ein Element der Phantasie ins Leben des Kindes bringen, gesellt sich die Musik. Erste und zweite Geige mit Klavierbegleitung. Das gleiche Trio, das die ferne Expedition vorbereitet, tritt im Salon an der Ouchy-Strasse auf.
Nach dem Abschlussexamen im Collège ist die Zeit für eine grosse Reise gekommen.
Die drei Freunde zählen ihr Vermögen, das sie grösstenteils Marcels guten Noten verdanken: 120 Franken. Man geht los, nicht in die Neue Welt, sondern in die Urschweiz, und weil man aufs Portemonnaie schauen muss, geht man zu Fuss los. Furka, Göschenen, Altdorf, Stans, am Schluss das Abschiedsbankett in Luzern, vis-à-vis dem Wasserturm: 1.50 Franken pro Kopf. Die jungen Patrioten haben die Luft von Wilhelm Tell und Winkelried so gut eingeatmet, so dass sie ihre letzte Mahlzeit mit würdiger Gravität einnehmen.
Sommerferien? In seiner Gymnasialzeit verbrachte Marcel zweimal sechs Wochen in der Deutschschweiz, einmal bei einem Gärtner auf dem Zürichberg. Das «stattliche Dorf im Berner Mittelland», von dem er als Bundespräsident 1934 in seiner 1.-August-Rede erzählen wird, war vermutlich der Bucheggberg —, auch wenn dieser im Kanton Solothurn liegt und bloss an den Kanton Bern grenzt:
Den ganzen Tag an der Arbeit, wie es sich gehört. Die Sense und der Rechen pfiffen und quietschten in der blonden Ernte. Unter der Last ächzend, die Garben golden schimmernd, kehrten die schweren Wagen zurück. Unter der brennenden Sonne schnauften und scharrten die von Mücken geplagten Gespanne vor Anstrengung. Dann plötzlich schwieg alles. Obwohl es ein Wochentag war, hatten sich die Männer rasiert. Angetan in sauberen Blusen und runden Hüten, sammelten sie sich. Die Frauen hatten ihre von der Stärke steifen Trachten mit ihren weiten kurzen Ärmeln und schweren glänzenden Ketten angezogen.
Wortlos, in stillschweigender Übereinkunft, hatte sich das ganze Dorf auf den Hügel begeben, von dem aus man die Alpen sieht. Ein alter, vom Gewitter gefällter Baum bildete den Scheiterhaufen. Gerade schoss die Flamme hoch und warf bei angebrochener Nacht Licht und Schatten auf die andächtigen Gesichter. Der Gemeindepräsident, ein trockener, ruhiger und langsamer Bauer, mahnt uns – mit der Autorität seiner fünfzig Jahre Rechtschaffenheit und Arbeit –, dass wir unseren Vorfahren viel verdanken, dass wir das, was sie für uns getan hatten, unsererseits für unsere Nachfahren tun müssen; dass unser Boden nur frei bleiben wird, wenn wir dessen würdig sind. Er sprach aus dem Herzen, er war kurz. Nachher sangen die Männer mit einer einzigen vollen, starken und ernsten Stimme «Oh, mein Heimatland, oh mein Vaterland». Das war alles. Unter den Sternen ging das Feuer aus. Die kleine Schar kehrte zu den Bauernhöfen zurück.
5. Ein Hauch von Phantasie
In der Hochkonjunktur, die 1903 beginnt und ihren Höhepunkt 1913 erreicht, ist Lausanne eine riesige Baustelle. Die alte historische Stadt muss den Bedürfnissen der neuen Zeit angepasst werden: Schaffung eines Kanalisationsnetzes, Ausdehnung des öffentlichen Verkehrs, Bau von Brücken, Untergrundpassagen, Boulevards. Alte Gebäude werden abgerissen, neue palastartige Bauten – der Palais de Rumine, der Bahnhof, die Galeries du Commerce, das Royal Hôtel in Ouchy – erheben sich und verändern das Stadtbild. Die verschiedensten Baustile – Neogotik, Neobarock, Art nouveau – wetteifern miteinander. Auffallend an der Lausanner Architektur jener Jahre sind die Suche nach Monumentalität, die raffinierte Ausstattung der Intérieurs, die reich geschmückten Fassaden. Ohne seine Geschichte zu verleugnen, will Lausanne eine moderne, elegante Grossstadt sein.
An den reizvollen Gestaden des Léman gelegen, gesegnet mit einem milden, fast mediterranen Klima, beseelt von