Salon, als Freunde aus der Nachbarschaft vorbeikamen, ein Mann und seine Frau, freundlich und lachend. Glückwünsche, alles Gute zum neuen Jahr. So weit geht alles gut. Aber dann fällt es diesem kahlköpfigen Monsieur Chalet – dies der Name des armen Kerls, ein Gemeinderat mit Verlaub – ein, Maman im Sinne eines Scherzes zu sagen: «Madame Pilet, erlauben Sie mir, Sie an diesem Silvesterabend zu küssen?» Und Maman, die den Spass versteht, antwortet: «Meine Güte, dies ist Sache des Ehemanns. Fragen Sie Papa.» Nie wäre es mir in den Sinn gekommen, dies petite mère auch nur im Geringsten übel zu nehmen! Aber sie hatte nicht mit ihrem Sohn gerechnet! Der unglückliche Monsieur Chalet tut so, als ob er seine – nennen wir es – ‹Drohung› – wahr machen will, als ihr wutentbrannter kleiner Marcel mit gesenktem Kopf auf ihn losstürzt, dem Bauch des armen Mannes einen mächtigen Stoss versetzt und ihn zu Boden streckt. Man hebt ihn auf, bemüht sich eifrig um ihn, er fühlt sich schlecht und man muss ihn nach Hause führen. Noch lange nachher litt er an Darmschmerzen und man befürchtete böse Folgen. Er ist dann einige Jahre später an einem ganz anderen Leiden gestorben.
Noch von einem anderen Kindheitserlebnis wird Marcel seiner Freundin erzählen, einem Erlebnis, das entschieden weniger spassig war. Sein Onkel und Götti Ernest, der jüngste Bruder seines Vaters, der in Lausanne Theologie studierte, kam oft am Sonntag bei ihnen in Cossonay zu Besuch. Marcels Mutter mochte Schwager Ernest. Es schien ihr, er habe Charakter und Wille, und sie verwöhnte ihn nach Noten. Der junge Student wusste, dass seine Schwägerin ihn schätzte, und profitierte von ihrer liebenswürdigen Gastfreundschaft. Dann kam Ernest nicht mehr nach Cossonay – er hatte sich mit einer hübschen Krankenschwester aus Avenches verlobt. Mit der Verlobten traf er sich öfter bei Marcels Grossmutter, die im Lausanner Pontaise-Quartier wohnte. Pilet im Brief an Tillon:
Eines Tages, ich weiss nicht mehr wieso, gehe ich allein zur Pontaise hinauf. Meine Grossmutter öffnet mir und – etwas aufgeregt – schiebt mich ohne irgendeinen Grund in die Küche. Dann holt sie ihren Sohn, also meinen Götti, der mit seiner Verlobten im Salon war. Und im Korridor diskutieren sie zusammen die niederträchtigste aller Gemeinheiten. Zu diesen traurigen Zeiten – es fällt mir schwer, Ihnen, Tillon, dies zu gestehen, aber es ist trotzdem besser –, also zu diesen traurigen Zeiten versuchte Papa, sich der lieben Maman zu entledigen. Dazu kam ihm kein anderes Mittel in den Sinn, als sie als «verrückt» hinzustellen. Ja, als «verrückt»! Man wollte sie in Céry [der psychiatrischen Klinik] einsperren und Gott weiss, und alle die Maman gekannt haben, werden es Ihnen sagen, dass Maman nie verrückt war. Oh, ja, ihre Verrücktheit war, dass sie zu gut war, ihren Mann zu sehr liebte, zu viel weinte, zu sehr an seiner Vernachlässigung und seiner Grausamkeit litt. Wie auch immer, er erklärte sie für verrückt und seine Familie beteiligte sich an dieser Gemeinheit.
Nun geschah Folgendes: Der von Maman geliebte und verwöhnte Onkel Ernest und die Grossmutter, die im Korridor zusammen tuschelten, fragten sich ernstlich, ob es sich schicke, dass man Marcel, den Sohn der «Verrückten», Ernests Verlobten vorstelle.
Und ich hörte alles, meine Tillon. Glücklicherweise war ich klein, war ich schwach, ich konnte nur leiden … Heute hätte ich Angst, Angst davor, zu viel Unheil anzurichten, Angst, sie lustvoll mit meinen Fäusten zu zermalmen. Doch Sie werden mich lehren, Tillon, dass es besser ist, zu reparieren, als zu zerstören.
Und was beschlossen Onkel Ernest und die Grossmutter? Obwohl Marcel tatsächlich das Kind der «Verrückten» war, war er ja gleichzeitig auch der Sohn von Papa. Man konnte ihn also der Verlobten seines Göttis vorstellen.
Der Vorfall hinterlässt Wunden. Marcel redet nicht mehr mit seinem Götti, auch nachdem Ernest Pilet ein geachteter Pfarrer in der historischen Kirche von Romainmôtier wird. Er will ihm erst verzeihen, wenn dieser sich bei der Mutter persönlich entschuldigt hat.
Der Haussegen in der Familie Pilet hängt schief. Vater Edouard ist ein altmodischer Patriarch. Sein Wort gilt, Widerspruch wird nicht geduldet. Frau und Kinder zittern vor ihm und gehen ihm gerne aus dem Weg. Tüchtig ist er allerdings, der Gemeindeschreiber Pilet. In den fast sieben Jahren seiner Amtszeit ist es ihm gelungen, das Vertrauen seiner Mitbürger zu gewinnen. Er ist der heimliche sechste Gemeinderat, den der syndic gerne zurate zieht. Am 26. Februar 1897 berichtet die Gazette de Lausanne aus Cossonay, dass «man davon redet», den zum Präfekten ernannten und deshalb nicht mehr wählbaren syndic Jaquier als Waadtländer Grossrat durch M. Edouard Pilet, secrétaire municipal, zu ersetzen. Die Radikale Partei, die seit Jahrzehnten im Wahlkreis wie im Kanton das Sagen hat, setzt dann allerdings nicht Pilet, sondern den Gemeindepräsidenten von Rossy auf ihre Liste. Dies veranlasst «eine Gruppe Wähler», Pilet als Sprengkandidaten aufzustellen. Wie gewohnt gehen jedoch die drei dem Wahlkreis Cossonay zustehenden Sitze an die offiziellen Vertreter des Parti radical, die alle über 400 Stimmen machen. Auf den Aussenseiter Pilet entfallen immerhin respektable 174 Stimmen.
In der Waadt sieht man es nicht gerne, wenn ein junger Politiker sich mit den Parteigrössen anlegt und ein Extrazüglein fährt. Ob Edouard Pilet deshalb Cossonay verlässt oder ob er in Lausanne bessere berufliche und politische Aufstiegsmöglichkeiten erblickt, sei dahingestellt. Auf jeden Fall lockt Lausanne.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist die Kantonshauptstadt rapid gewachsen – 1850 zählte Lausanne 17 000 Einwohner, 1900 sind es fast dreimal mehr, 47 000. Seit zehn Jahren blüht die Wirtschaft, insbesondere die Baubranche. Geschäftshäuser, Hotels, Wohnbauten, Verwaltungsgebäude, Spitäler, Schulen schiessen aus dem Boden. Häusermakler, Immobilienverwalter und kundige Rechtsberater sind gefragt. Eben hat ein kantonales Gesetz den Beruf des agent d’affaires breveté geregelt. Edouard Pilet legt das Examen für das Brevet ab, hinterlegt die verlangte Kaution, erhält das Patent und eröffnet in Lausanne ein Büro. Das Amt des Gemeindeschreibers von Cossonay legt er im Juni 1897 nieder.
3. Vom kleinen Cossonay ins grosse Lausanne
Es ist der siebente Juli. Einige Minuten vor acht Uhr betrete ich, mit einer Mappe unter dem Arm und Angst im Herzen, den Eingang des Collège. Werde ich aufgenommen oder nicht? Marterndes Mysterium. Ich drücke noch einmal die Hand meiner Mutter und, aufgemuntert durch ihr «bon courage!», nehme ich meinen Platz im Examenssaal ein. Ich bereite mein Löschblatt und meine Feder vor, dann werfe ich einige Blicke auf diejenigen, die vielleicht meine Kameraden sein werden. Plötzlich Totenstille: Der Direktor ist eingetreten. Er macht Appell; als ich an der Reihe bin, antworte ich mit einem schüchternen «présent». Welche Momente, diese Minuten des Wartens! Als ich mein Diktat beginne, klopft mein Herz mit doppelten Schlägen. Le chameau … schreibt man eau oder au? Eine verfängliche Frage; oder später: à genoux – braucht es ein x, ein s oder gar nichts?
So zu lesen in einem Schulaufsatz mit dem Titel «Mein Eintrittsexamen ins Collège», in dem sich der 14-jährige Gymnasiast Marcel Pilet an einen fünf Jahre zurückliegenden Tag erinnert: Der Rotstift des Französischlehrers notiert am Rande des Aufsatzes: «übertrieben oder schlecht wiedergegeben». Gesamthaft findet Monsieur Biaudet, dass der Junge das Thema «gut gewählt» hat und «die Erzählung klar» ist. Allerdings bewertet er die «Phantasie und die literarische Sensibilität» als «schwach», den Stil als «im Allgemeinen korrekt, aber flach oder gewunden». Die meisten der vom Lehrer bemängelten stilistischen Fehler wird der Student Marcel Pilet ausmerzen können. Nicht alle. Ein gewisser Hang zur Übertreibung wird auch dem Bundesrat bleiben und gelegentlich – nur gelegentlich und an einem schlechten Tag – kann er flach oder gewunden schreiben.
Die Orthografie war nicht Marcels Stärke. Daran erinnert er sich auch noch als Bundesrat – 38 Jahre später. Tägliche dictées, welche die Mutter dem Jungen auferlegte, «hatten ihn – hélas – in dem Gefühl der Schwäche bestätigt». Nachdem am Examenstag das Diktat schlecht und recht beendet ist, geht es weiter mit Rechnen. In der bundesrätlichen Aufzeichnung lesen wir:
Aber die Arithmetik! Hier nimmt er seine Revanche. Er spielt mit den Ziffern – wie heute mit den Defiziten. Auf diesem Gebiet ist er unschlagbar. Man wird es sehen. Die Rechenaufgaben, die den Kandidaten gestellt werden, sind leicht. Einige Minuten des Nachdenkens, bis sie gelöst sind, und die Hand läuft über das Papier. Aber sie