Psychiater, Klinikdirektor und welscher Pionier der Psychoanalyse international einen Namen machen und mit der Légion d’honneur ausgezeichnet werden. Als kluger Menschenkenner lässt er sich nichts vormachen und behandelt seine Couleurbrüder mit nachsichtiger Ironie.
Tatsächlich ist es für Répond nicht einfach, die Thesen des Referenten wiederzugeben. Das Manuskript, das Pilet aufbewahren wird, beginnt mit den Worten:
Condorcet, der von sich sagt, er sei Philosoph – man sagt so viele Dinge –, behandelte Pascal als berühmten Narren. Seiner Meinung nach konnte ein Mathematiker, ein Mathematiker von Rang, nicht Christ sein. In seiner Beurteilung unterliess es Condorcet ganz einfach, der Zeit, in der Pascal lebte, seiner Erziehung und seinem Charakter Rechnung zu tragen.
Der noch nicht 18-jährige Frischling scheut sich nicht, erst einmal einer der Leuchten der Aufklärung eins aufs Dach zu geben. Natürlich macht Pilet Condorcets Fehler nicht. In seinem Referat erzählt er, wie Pascal unentwegt wissenschaftlich forscht, wie er die Welt der «subtilen Theorien der Philosophie» entdeckt. Doch Glanz und Grösse der Philosophen genügen Pascal nicht, «er sieht die Eitelkeit der Dinge dieser Welt und ihre Falschheit». Bleibt als einzige Hoffnung das Übernatürliche, Gott:
Gibt es Gott? Gibt es ihn nicht? Die Chancen sind für beide Auffassungen gleich. Was tun? Sich enthalten? Unmöglich! Ich muss wetten, gegen meinen Willen. Welches ist die beste Wette? Durch das Befolgen der mathematischen Lösungsregeln kommt Pascal dazu, auf die Existenz Gottes zu wetten. Aber auch wenn sein Verstand keinen Widerstand mehr leistet, weiss er aus Erfahrung, dass dies nicht genügt. Der Glaube kommt vom Herzen, nicht von der Intelligenz!
Pilet, selbst begabter Mathematiker und von der Mutter zum gläubigen Christen erzogen, versteht Pascal. Wenn ein grosser Denker wie Pascal den christlichen Glauben mit wissenschaftlicher Logik vereinbaren kann, beruhigt dies den grübelnden Youngster, der selbst Zweifel gehegt haben muss. Pascal, sagt Pilet, hat jetzt nur noch ein Ziel: Christus zu folgen, ihm überallhin und allzeit zu folgen. Zu diesem Schluss kam er – «auch wenn es Condorcet missfallen sollte» –, nicht weil er verrückt war, sondern «allzu logisch». «C’était être chrétien et mathematicien.»
Protokollführer Répond scheint es, dass «diese Kandidatenarbeit den Bellettriens imponiert hat». Am Schluss der Sitzung wird Marcel Pilet zusammen mit acht anderen Kandidaten in den Verein aufgenommen. Zwei Wochen später, bei seinem nächsten Auftritt, kommt das selbstbewusste Neumitglied weniger glimpflich davon.
Pilet deklamiert zwei Gedichte von einer zutiefst unbekannten Dichterin, deren Name ich ärgerlicherweise vergessen habe. Es ist darin die Rede von wilden Pferden, die durch eine blühende Wiese galoppieren. Simond, der erste Kritiker, findet die von Pilet vorgetragenen Gedichte idiotisch.
Die Kollegen kritisieren zudem seine abgehackte, herunterleiernde Vortragsweise und seine unangenehme «Ich pfeife darauf»-Haltung.
6. Pareto
Marcel Pilet geniesst die geselligen Abende mit Belles-Lettres im «Guillaume», aber er macht auch mit dem Studium der Rechte zügig vorwärts. In seinem ersten Semester – Winter 1907–1908 – belegt er elf Vorlesungen und bezahlt dafür 120 Franken Studiengeld. Die juristische Fakultät mit Sitz in der alten Académie geniesst einen hervorragenden Ruf. Geachtete Rechtslehrer wie die Professoren Roguin, Rambert, de Felice oder Herzen unterrichten neben dem schweizerischen auch das deutsche und französische Zivilrecht. Dies zieht zahlreiche Ausländer, vor allem Deutsche, aber auch Studenten aus der Türkei, anderen Mittelmeerländern, dem Nahen Osten und Afrika nach Lausanne.
Der juristischen Fakultät angeschlossen ist seit 1901 die Ecole des sciences sociales et politiques, an der kein Geringerer als Vilfredo Pareto (1848–1923), einer der Väter der Soziologie, lehrt. Pilet besucht in seinem ersten Semester beide von Pareto gegebenen Kurse, Economie politique und Sociologie. Paretos Theorie des Elitenkreislaufs, die ihn berühmt gemacht hat, bleibt umstritten, aber niemand bezweifelt die Originalität und Integrität des vom Waadtländer Staatsrat nach Lausanne geholten italienischen Gelehrten. Paretos These, dass Eliten auch in Revolutionen nicht von einer Masse ersetzt werden, sondern von einer Ersatzelite, hat Pilet überzeugt.
Als Nationalrat wird sich Pilet an Pareto erinnern, wenn er in einer Rede die Bedeutung des Bauernstands für das gute Funktionieren unserer Institutionen hervorhebt. Die Bauern seien ein Element der Ruhe und der Besonnenheit, die es der Schweiz erlaubt hätten, «eine vollständig stabile Regierung zu bewahren». In der Stadt verlören die Generationen «ihre moralischen und intellektuellen Kräfte» schneller als auf dem Land, und würden nach einer gewissen Zeit von anderen Generationen abgelöst.
Dies ist es, war man gemeinhin die «Zirkulation der Eliten» nennt. Die Eliten kommen aus der Landschaft. Man muss verhindern, dass diese Quelle versiegt.
Jede Gesellschaft braucht eine Elite. Diese Auffassung mag zwar in egalitären Zeiten als «elitär» und «reaktionär» missbilligt werden, aber Pilet leuchteten Paretos Überlegungen ein. Als alt Bundesrat wird er nach Ende des 2. Weltkriegs in einem Vortrag vor «Ehemaligen Leipzigern» eindringlich für die grosszügige Unterstützung der deutschen Universitäten und ihrer Studenten durch die Schweiz plädieren.
Die Ausbildung einer Elite des Denkens ist unentbehrlich, wenn Deutschland wieder in die Gemeinschaft der zivilisierten Völker mit ihren Auffassungen von Recht, Freiheit und Menschenwürde eingegliedert werden soll.
Paretos kühler Pragmatismus, sein Liberalismus, seine Toleranz gegenüber Andersdenkenden und die Unerschrockenheit, mit der er gängigen Meinungen entgegentrat, müssen auf den jungen Studenten Pilet eine starke Wirkung ausgeübt haben. Der Italiener, der in seiner Einschätzung der Gesellschaft und des Menschen zu Pessimismus, wenn nicht gar Zynismus neigte, huldigte trotz angeschlagener Gesundheit in seinem eigenen Leben einer stoischen Philosophie: «Caro mio», schreibt er einmal dem Freund Linaker, «glaube doch, dass carpe diem das letzte Wort der menschlichen Weisheit ist.» Ein «Glas Chianti vom guten» sei mehr wert als «der Humanitarismus und alle seine Albernheiten.»
Am 4. Dezember 1951 wird in derselben Ecole des sciences sociales et politiques, an der Pareto gelehrt hatte, alt Bundesrat Pilet seine eigene Vorlesungsreihe über die «Geschichte der politischen Systeme» mit dem Satz beginnen: «Mein Gott, wie trügerisch sind die Ideen, denen die Leute nachleben und die uns oft in eine Sackgasse stossen.» Die Worte hätten von Pareto sein können.
Eine von Paretos Grundideen ist die, dass menschliches Verhalten und menschliches Denken meist nicht durch Vernunft oder Logik bestimmt werden, sondern durch Gefühle oder Leidenschaften. In einem Brief an einen italienischen Finanzbeamten schreibt er, wenn man gesellschaftliche Tatsachen untersuchen wolle, müsse man sich an die realen Fakten halten und nicht an Abstraktionen und Ähnliches. Um die Soziologie und die Geschichte zu verstehen, dürfe man nie «das Motiv, welche die Menschen, selbst in guten Treuen, für ihre Handlungen geben», als wahr akzeptieren, wenn man nicht zuvor sorgfältig untersucht habe, ob dies den Tatsachen entspreche:
Im Allgemeinen begehen die Menschen nichtlogische Handlungen, aber sie glauben und wollen glauben machen, dass es logische Aktionen sind.
In der vom knapp 18-jährigen Pilet besuchten «Ersten Kurs der angewandten politischen Ökonomie» sagt Pareto, dass von den Vertretern verschiedener politischer Theorien «gar wenige nur die Wahrheit suchen. Die Mehrzahl sucht Argumente für eine These, die ihnen die Leidenschaft eingeredet hat.» Vorurteile jeder Art – «Vorurteile aus Patriotismus, Vorurteile der Klasse, politische Vorurteile, theologische Vorurteile, Vorurteile der finalen Ursachen» – behinderten die Wahrheitssuche.
Niemand ist gefeit gegen Vorurteile, nichtlogisches Handeln und nichtlogisches Denken. In dem erwähnten Brief an Antonucci erzählt Pareto, wie er, der vorher noch nie an einer Universität doziert hatte, in Lausanne Volkswirtschaft und später auch Soziologie zuerst selber studieren musste. Dabei merkte er, dass er viele seiner eigenen vorgefassten Theorien revidieren musste, damit sie «wissenschaftlich wurden»:
Vor allem lernte ich, dem Gefühl zu misstrauen. Wenn jetzt eine Sache