von allgemeinem Interesse sprechen, von einer philosophischen Theorie, von einer geologischen Epoche, von einer Maschine oder von der Elektrizität, wie seine Intelligenz es ihm erlaubt hätte? Denn Pilet – es wird euch nicht entgangen sein – ist sehr intelligent Pilet ist kalt. Er ist ein sehr detachierter Beobachter. Er hat uns von Vauvenargues gesprochen, wie er es von einem Heissluftmotor getan hätte, ohne Emotion, ja ohne seine inneren Gefühle sehen zu lassen, oder wenigstens glaubte er, dass man nichts gesehen habe.
Wohl kaum einer der Bellettriens hat von Vauvenargues (1715–1747) gehört, der im Dienste des Königs an zahlreichen Feldzügen teilnahm, bevor ihn eine Kriegsverwundung zum Invaliden machte. Die letzten vier Jahre seines kurzen Lebens verbrachte er zurückgezogen mit Schreiben von Aphorismen. Für Pilet ist Vauvenargues ein wichtiger Philosoph. Die Denker des 17. Jahrhunderts «wollten, dass die Menschen von Natur aus schlecht, böse und pervers seien». Als Mann des nächsten Jahrhunderts habe Vauvenargues dagegen an die natürliche Güte der Menschen geglaubt, auf die Macht der Vernunft und «die Idee des Vertrauens des Menschen in sich selbst – alles, was den Individualismus schafft».
Secretan kann nachempfinden, was in Pilet vorgeht. Pilet bewundert den kühnen Soldaten Vauvenargues und strebt selbst nach la gloire – Ruhm, Ehre. Es folgen im Protokoll Sätze, die deutlich auf Vereinspräsident Pilet gemünzt sind und die sich geradezu hellseherisch anhören:
Ob im hitzigen militärischen Leben oder in den heftigen Kämpfen, die manchmal Studentenvereine in Aufregung versetzen, sieht man Männer, welche die gloire derart dienstfertig umwerben, dass sie sie zu ihrer tyrannischen Geliebten machen, und die bei ihnen oft bloss Bitterkeit und Abscheu zurücklässt, wenn sie ihr einmal nicht mehr gefallen.
Secretan bemängelt in Pilets Arbeit «mangelnde Originalität» und streut als Zugabe Salz in die Wunde:
Der Stil, dem Pilet anscheinend grosse Sorgfalt hat angedeihen lassen, ist weit entfernt davon, perfekt zu sein, er ist nicht einmal gut. Er hat gewisse Schwerfälligkeiten, die freilich beim Lesen mehr auffallen als beim Zuhören, und zudem verunstalten ihn einige Französischfehler.
Sein Stil soll schwerfällig sein, Französischfehler soll er gemacht haben? Pilet, der dünnhäutiger ist, als er zu sein vorgibt, wird die ätzende Kritik nicht goutiert haben.
9. Eine Demoiselle aus Orbe
Die belle histoire d’amour, die Marcel Pilet fürs Leben mit Mathilde Golaz verbinden wird, beginnt prosaisch an einem düsteren Dezembersamstag 1909. Die im Zug mit Hallo und Gesang aus Lausanne aufgebrochenen Bellettriens kommen um 17 Uhr im Städtchen Orbe am Fuss des Juras an. Statt des erhofften Empfangs mit Musik und Blumen steht am Bahnhof bloss ein Ehrenmitglied ihres Vereins, «begleitet von einem Herrn in Schwarz und einer leichten, aber kalten Bise.» In Gruppen von zwei oder drei begeben sich die Studenten zu den «guten Familien» in Orbe, die sie zum Abendessen eingeladen haben. Die einen geniessen dort den guten Wein, andere die Gesellschaft von charmanten Begleiterinnen.
Verspätet tröpfeln die Schauspieler im Casino ein, kleiden sich rasch um, kleben Schnäuze und Bärte an. Derweil schauen sich im Saal um die hundert Personen gegenseitig an und warten darauf, dass der Vorhang sich hebt. Hundert sind wenig, aber wenigstens sind es des gens biens! Endlich erschallt, vom Dorforchester gespielt, der Belles-Lettres-Marsch und «zweifellos zum ersten Mal» singen die Bellettriens le Sapin vert, «begleitet und beinahe richtig».
Sekretär Gagnaux, der die Exkursion protokolliert, spart seine Kritik an den Schauspielern für ihren Hauptauftritt in Lausanne auf. Dort wird das Stück Gringoire das Publikum «vibrieren» lassen. Und dort wird Pilets lebhaftes und wahres Spiel manch hübsche Augen zu Tränen rühren. «Unser Präsident bestätigte seinen Ruf als glänzender Schauspieler und verschaffte sich frenetischen Beifall.»
Ob die hundert Zuschauer in Orbe auch frenetisch Beifall geklatscht haben und ob auch dort die Mädchenaugen feucht wurden, verschweigt der Chronist. Jedenfalls war das Publikum «entzückt». Nachher wird der Saal für den Ball hergerichtet.
Plötzlich scheint das Casino zusammenzukrachen. Die Scheiben zittern, die Türen wackeln in ihren Angeln. Keine Angst! Es ist bloss das Tanzorchester, das die schönsten Stücke seines Repertoires spielt. Jeder stürzt sich auf die Schönheit seiner Wahl. Der Ball beginnt. Die Bellettriens tanzen wenig und die dreissig Fräuleins von Orbe geniessen mehr, als ihnen lieb ist, das Glück, sitzen zu bleiben.
Die letzten Akkorde der Musik sind verklungen, langsam leert sich das Casino. Die Braven nehmen programmgemäss den Frühzug von 5 Uhr, andere schlafen im «Hôtel des deux Poissons», wieder andere unter der Casinobühne und wieder andere überhaupt nicht. Verfolgt von den wenig freundlichen Blicken der einheimischen Passanten, wandern sie übernächtigt und müde in den Morgenstunden durch die mittelalterlichen Strassen von Orbe, bis der Lausanne-Zug sie erlöst.
Ein paar jungen Fräuleins, Töchtern aus den guten Familien von Orbe, haben die frechen baladins, die Wanderschauspieler von der Uni Lausanne, imponiert. Darunter ist die aparte 22-jährige Tillette Golaz – die eigentlich Mathilde heisst, die aber niemand so nennt. Ihr vor neun Jahren verstorbener Vater war der mächtigste Politiker von Orbe: Sieben Jahre Militärdirektor, bevor er im Staatsrat einem Liberalen Platz machen musste und als Ständerat nach Bern abgeschoben wurde. Tillette lebt mit ihrer Mutter in einer eleganten Villa mit gepflegtem Garten, la maison carrée, von wo man auf den tief unten liegenden Fluss Orbe schaut.
Das Mädchen ging in Orbe in die Primarschule, die sie mit besten Zeugnissen immer als Klassenerste abschloss. In Lausanne besuchte Tillette das Gymnasium, wo sie «Kurse in der französischen Sprache, der deutschen Sprache, der englischen Sprache, Arithmetik, Geschichte, Geografie, Botanik und Physiologie belegte: Sie zeigte sich fleissig und ihr Betragen war in allen Belangen ausgezeichnet.»
Mit ihren Zeugnissen hat sie auch einen Zeitungsausschnitt aus dem Journal des Jeunes Filles aufbewahrt, eine Graphologierubrik:
Geordneter Geist, ordentlich, sparsam, kennt den Wert des Geldes. Misstrauisch, vorsichtig. Hat Stolz, eine sanfte Beharrlichkeit. Ist hingebungsvoll, hilfsbereit, andererseits ein wenig eigen. Hat Geschmack, Feingefühl, Schwung, ein bisschen Ehrgeiz, liebt die intellektuellen Dinge.
Die 16-jährige Tillette hatte der Zeitschrift unter einem Pseudonym geschrieben und um eine Beurteilung ihrer Schrift gebeten. Wenn man der Graphologie glauben will, war sie von «wohlwollender, sanfter, intelligenter, korrekter, liebevoller Natur», aber auch von «etwas wandelbarer Laune».
Die junge Dame ist gebildet, hat Sprachaufenthalte in England und Deutschland hinter sich, kennt auch bereits Paris und das Mittelmeer. In Orbe, wo sie sich um ihre Mutter kümmert, bei Wohltätigkeitsanlässen mitwirkt und vermutlich auf einen standesgemässen Ehemann wartet, langweilt sie sich.
In einem der damals üblichen Schulhefte mit schwarzem Deckel findet sich ein eigenartiges, von Tillette geführtes «Protokoll». Daraus ersieht man, dass in Orbe fünf
fröhliche junge Leute «von sprudelndem Geist» auf den Gedanken kamen, eine Vereinigung zu gründen mit dem «ganz einfachen Zweck», zusammen einige gute Stunden zu verbringen.
Das Fanion, Fähnchen, wie sich die jungen Leute nennen, ist eine Art Belles-Lettres, eine mit Frauen. Die Lausanner Sektion hat kurz zuvor die Aufnahme weiblicher Mitglieder abgelehnt. Die treibenden Kräfte sind die 21-jährige Tillette, und der 18-jährige Jusstudent Henry Vallotton. Wie eine «richtige» Studentenverbindung hat das Fanion Statuten, ein Wappen – in den Kantonsfarben Grün und Weiss –, eine Devise – amitié, gaîté, franchise. Weil Henry in Lausanne bei den Zofingern ist, übernehmen sie auch Bräuche dieser Vereinigung. Sie geben sich Couleurnamen und schaffen das Amt des Fuchsmajors, das Tillette übernimmt, während Henry «zum Unglück aller» als Sekretär verknurrt wird. Die unerforschlichen Wege des Schicksals wollen es, dass der Fuchsmajor und der Sekretär dieses eigenartigen Fähnchens, Tillette Golaz und Henry Vallotton, dereinst in Marcel Pilets Leben eine Hauptrolle spielen werden.
In den Fanion-Protokollen bemüht sich Henry, geistreich