jenem Tag an gelang es mir, meine Männer besser zu nehmen. Am Schluss haben alle mir, dem Leutnant, den die meisten nicht ausstehen konnten – den anfänglich alle, bis zum Letzten, nicht ausstehen konnten – mit einem «bis zum nächsten Jahr» freundlich die Hand gegeben.
Donnerstag, 13. Oktober 1910
Telefon eines Freunds aus Yverdon, der mit Mutter und Schwester die Landwirtschaftliche Ausstellung in Lausanne besuchen will, die sich Pilet auf Drängen des Vaters bereits unwillig angeschaut hat. Kann Marcel ihr Führer sein? Er macht gute Miene zum bösen Spiel, steuert die Gesellschaft durch die Stände, als er kurz vor Mittag im Saal der Weine ein bekanntes, liebes Gesicht erblickt. Er sagt bonjour und geht weiter – «man ist Führer oder man ist es nicht». Schliesslich kann er sich von den Yverdonern verabschieden, setzt sich auf eine Bank «nicht weit von den Blumen, nicht weit von den Weinen», und wartet. Dort kommt ein Herr auf ihn zu: «Bonjour Monsieur Pilet, was tun Sie hier?» – «Wie Sie sehen, suche ich jemand!» – «Genau wie ich, suchen wir doch zusammen.» Der Herr, ein ehemaliger Bellettrien, jetzt Schuldirektor in Aigle, unterhält sich angeregt mit Pilet, bis dieser unvermittelt aufsteht, einige Worte stammelt und wegläuft. Er hat sie entdeckt!
Tillette hat ihre Entourage verloren, ist allein, schlecht gelaunt, sagt sie. Immerhin nimmt sie seine Begleitung an. Ein Jahr später erinnert sich Pilet noch an alles: die Vögel im Stroh, das Holz aus Orbe, den säuerlichen Most, die Stickereien, die «Maggi»-Pastinake, deren kulinarische Verwendung sie beide nicht kannten, das Portemonnaie, das sie ihm anvertraute, ihren Mantel, den er «mit einer Mischung von Glück, Heroismus und Ehrfurcht» auf seinem Arm trug. Ja, und dann hat sie halt ihren Zug verpasst. So spaziert man zusammen zur Buchhandlung Lapie und zu einem Laden, in dem sie Stickereien kauft. Zum Abschied sagt sie: «Und wenn Sie zum Artillerieschiessen kommen, verpassen Sie es nicht, bei uns im Haus vorbeizuschauen. Dies würde uns freuen.»
Sonntag, 30. Oktober 1910
Pilet kommt zum Pierrefleur-Ball nach Orbe. In den frühen Morgenstunden begleitet er Tillette nach Hause. Geplauder beim «weissen Rauch eines letzten Tees.» Am Nachmittag Spaziergang mit Freunden und Freundinnen im Tal der blauen Orbe, am Abend erstes langes Gespräch zu zweit unter Kastanienbäumen auf einer kleinen Terrasse.
Sie sassen neben mir, ein wenig müde, halb ausgestreckt auf einem Schaukelstuhl, Ihr Fuss spielte mit nichts in der Luft. Ich war beinahe am Boden, auf einem kleinen gestickten Schemel, und mit zitternder Hand habe ich ein Band, das sich von Ihrem Stiefelchen gelöst hatte, wieder zurechtgerückt oder getan als ob … Ich liebte Sie schon, von vollem Herzen.
Donnerstag, 10. November 1910
Bevor er ins Bett geht, schreibt er Tillette einen mehrseitigen Antwortbrief:
Ihr Brief! Sie können nicht glauben, welche Freude er mir gemacht hat, oder vielleicht können Sie es spüren. Ich wollte ihn lesen und nochmals lesen in meinem freundlichen, warmen Zimmer. Hier an meinem Arbeitstisch, wo ich meine gewohnten Chrysanthemen streichle und von meinem ganzen vertrauten und intimen chez moi umgeben bin; hinten in der Ecke meine grosse Pendule, welche ein wenig grob die Sekunden zählt, wie eine alte, durch ihre Aufgaben verhärtete Magd.
Dann wird der junge Mann noch poetischer. Er schreibt von den ruhig fallenden Blättern – den feuilles mortes (viele Jahre bevor Kosma und Prévert ihr weltberühmtes Lied schreiben werden):
Sie fallen, um auf ihrem geliebten Boden zu sterben, in einer bekannten Erde, die sie innig empfängt. Und das erinnert einen an die schönen Alten, die dort unten in dem unter der Sonne lächelnden Friedhof ruhen, am Rande der Strasse ganz am Ende des Dorfs. Wissen Sie, einer dieser kleinen bescheidenen Landfriedhöfe, die von einer Hecke von schwarzen Tannen umgeben sind. Mit einem alten Tor, das nicht mehr gut schliesst und wacklig der Hand nachgibt, die es aufstösst. Ich habe immer gehofft, auch an einem so friedlichen und ruhigen Ort in den grünen Feldern zu ruhen.
Marcel erklärt, wieso er im Monat zuvor an der Abendgesellschaft in Orbe geschwiegen hatte, als Tillette das Gedicht La Brise aus Les Bouffons rezitierte. Ein Stück von Miguel Zamacoï, das mit Sarah Bernhardt in der Hauptrolle 1907 in Paris uraufgeführt wurde. Sehr gerne hätte er ihr ein Kompliment gemacht:
Sie sind so zierlich dahergekommen in Ihrem rosafarbenen, diskret engen Kleid, um uns von der Liebe dieses unglücklichen «Zephyr» zu erzählen; Ihre Stimme war der Reihe nach so liebwert, so ernst, so zornig, dass man sich genussvoll gehen liess, um der Legende des Gedichts nachzuträumen.
Er habe geschwiegen, weil er fürchtete, sie würde ein Kompliment als törichte Galanterie auffassen, «als die Höflichkeit eines Tänzers, der schmeicheln und den Geistreichen spielen will». Weil ihn Tillette um sein gerechtes Urteil gebeten hat, liefert er es:
Ausser zwei kleinen, ganz geringen Fehlern – der Sorge um perfekte Artikulation, die ein wenig weit getrieben wurde und die das Gefühl einer schwierigen und mühsamen Arbeit hinterlässt, und einer gewissen Eile im Redefluss – Sie markieren den Takt nicht genug – hat mich Ihre Brise absolut entzückt und dies ist der Grund, wieso ich Ihnen dazu kein Wort gesagt habe.
Liebe macht nicht ganz blind. Bellettrien bleibt Bellettrien, Schulmeister Schulmeister.
Zum Schluss seiner langen Epistel erwähnt Marcel noch, was ihn im Augenblick am meisten beschäftigt, die Theaterproben und das näher rückende Doktorexamen:
Unsere Theaterproben haben begonnen und fast jeden Abend gehen wir zum «Guillaume» hinauf, um uns die schwere Prosa des Avare in den Kopf zu hämmern. Dies ist nicht einfach und tatsächlich fehlt mir dieses Jahr die gewohnte Begeisterung. Mit Schuldgefühlen denke ich an meine bevorstehenden Examen. Beim blossen Gedanken durchzufallen, habe ich keine Lust mehr zu spielen – adieu, Molière, Belles-Lettres, Beifall und Kränze.
Mittwoch, 16. November 1910
Düsterer Regentag. Beerdigung. Ein Cousin von Marcel ist gestorben. Nachher trifft man sich bei Henry. Marcel hat das Gefühl, das Tillette ihn vielleicht ein wenig, ein klein wenig, liebt, und er freut sich, sie wiederzusehen. Doch sie ist reserviert, behandelt ihn gleich wie die andern Kollegen, mit der auserlesenen kameradschaftlichen Liebenswürdigkeit, die ihren Charme ausmacht und «die tötet», weil er mehr erwartet. Schweren Herzens kehrt er nach Hause, verflucht den Tag, verflucht das Leben. Er ist sicher, dass Tillette ihn nicht liebt, ihn nie lieben wird.
Freitag, 18. November 1910
Auf den späteren Abend verabredet Marcel sich mit Henry Vallotton, den er durch Tillette kennengelernt hat, den er zwar noch kaum kennt, dessen «offenes Herz, Aufrichtigkeit und Liebenswürdigkeit» ihn stark anziehen. Beide haben Proben, Pilet für den «Geizigen», Vallotton für einen Gesangsauftritt mit den Zofingern. Um zehn Uhr ist Pilet fertig, verlässt den «Guillaume», stapft durch den schweren schmelzenden Schnee, die Kälte, die leeren Strassen, um Henry am Sitz der Zofinger, der «Maison Blanche», abzuholen. Er wartet, wartet lange, einige unbekannte Zofinger treten heraus und das ist alles. Kein Henry. Auch kein Licht mehr im Haus. Kommt er nicht? Will er nicht kommen? Wie ein Dieb schleicht Pilet ins Zofinger-Haus. Dunkel, kein Mensch.
Er geht zum Bel-Air-Platz, wo Vallotton wohnt. Nichts. Kein Licht. Er wartet vor dem Hauseingang. Schliesslich erscheint Henry, hastig und nervös. Auch er hat den Kollegen überall gesucht. Man steigt in sein warmes Zimmer hinauf, beginnt leise miteinander über Tillette zu reden. Henry beruhigt Marcel, ermahnt ihn, heitert ihn auf. Dann wird alles zu viel für Henry, er bricht zusammen und gesteht: Auch er ist in Tillette verliebt gewesen, er hat auf seine Liebe verzichtet, gelitten – jetzt sind sie wie Bruder und Schwester:
An jenem Abend habe ich einen heroischen, übermenschlichen Menschen gesehen, ein edles Wesen, loyal, von perfekter Güte – ich, der ironische Causeur, der vorgibt, an nichts zu glauben, der beinahe sicher ist, dass das «Gute» und das «Schöne» nicht existieren, hatte er doch im Leben derart viel Hässliches gesehen, er, dessen drei Falten um den Mund seine ganze Desillusionierung und Verachtung für die Welt verrieten …
Und