Hanspeter Born

Politiker wider Willen


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und mit einer strengen und höchst groben Stimme instruiert sie ihre bewegungslosen und zitternden Rekrutinnen in der «Achtung steht!»-Stellung. Deutschland, Deutschland, was machst du mit deinen Kindern! Und, wenn man das gesehen hat, versteht man, dass, wenn sie gross sind, überzeugt singen: «Deutschland über alles».

      Die teils wörtliche zitierten Leipziger Impressionen – «Leipziger Lerchen» sind wie die «Basler Läckerli» ein beliebtes Gebäck – stammen aus der Masse von Briefen, die Marcel Pilet seiner Tillon, wie er Tillette jetzt nennt, zwischen 1909 und 1918 schrieb und die die verwitwete Mme Pilet-Golaz Jahrzehnte später in einem grossen Lederkoffer mit ins Altersheim mitgenommen hat. Die eigenen Briefe hat sie fast alle vernichtet. Auf einem noch geschlossenen Couvert steht à brûler.

      Marcel Pilet ist ein methodischer Mensch, der die Routine mag und sie nötig hat – ein homme d’habitude, wie er von sich sagt. Zeit seines Lebens wird er ein Gewohnheitsmensch bleiben, der es hasst, wenn man seine Kreise stört. In Leipzig, am Abend nach getanem Tagewerk, trinkt er einen dampfenden Tee, spielt seine Lieblingsmelodien auf der Geige, spielt Mozart für seine Tillon. Wenn er in Gedanken Tillon ganz nahe bei sich spürt, sucht er Stellen in einem ihm lieben Buch heraus und

      mit meiner Stimme der grossen Abende, der grossen Erfolge, lese ich sie Ihnen aus vollem Herzen vor. Ich verspreche Ihnen, dass ich selten so gut gelesen habe und dass ich weder Ihnen noch sonst jemandem je wieder so gut vorlesen werde. Denn ich lege meine ganze Seele, meine ganze Natürlichkeit hinein, ohne Raffinesse, ohne irgendwelche Pose.

      Was liest er vor? Zum Beispiel Der Jongleur von Notre-Dame von Anatole France, die Geschichte eines zum Mönch gewordenen ehemaligen Strassenartisten, der vor dem abgeschiedenen Altar der Heiligen Jungfrau seine allerbesten Kunststücke aufführt. Ganz allein, ohne Publikum, nur für die Verehrte. Genau das, was Marcel tut, wenn er für Tillons Foto rezitiert.

      Nachher nimmt Marcel seine Feder, um brieflich mit Tillon zu «plaudern». Während einer halben oder ganzen Stunde bringt er seine Gedanken über Gott und die Welt zu Papier – auf sorgfältig römisch nummerierten feuillets, Blättern in Oktavformat. Er macht sich selber lustig über seinen «epistolaren Enthusiasmus», der seine Feder ungebremst laufen lässt. Jeweils am Montag beginnt er mit seinen Aufzeichnungen und am Sonntag bringt er die meist 36 Seiten auf die Post.

      In den Briefen geht er manchmal schonungslos mit seinen eigenen Fehlern ins Gericht. Er gesteht, dass er gerne aufbraust und Leute mit bösen Bemerkungen verletzt. Einen Monat und einen Tag nach der heimlichen Verlobung mit Tillon in St-Sulpice macht er ihr ein schmerzliches Geständnis:

      Am gestrigen Nachmittag bin ich aus weiss nicht welcher Fatalität (wenn ich nur daran glauben könnte) der feigste und willensschwächste aller Marcels gewesen. Sie wissen, dieses zweite Ich, von den ich Ihnen manchmal mit einer verschwommenen Angst geredet habe und das mich erschreckt; dieses unbezähmbare ich, das meinen Willen vernichten möchte und das oft kaum zum Schweigen gebracht werden kann – eh! Bien, dieses Ich, dieses abscheuliche und verabscheute Ich, hat gestern, am 15. Mai, über mich als Herr geherrscht! Oh, wie, worin? Dies sind Dinge, die man nicht schreiben kann und die ich Ihnen später, um es zu bezwingen, erzählen werde. Es war nichts sehr, sehr Hässliches, aber trotzdem etwas Hässliches und an einem Tag wie diesem war es beschämend. Sie fragen sich vielleicht, warum ich das sage, wieso ich ihnen dieses peinliche Geständnis mache? Eben gerade, weil es peinlich ist, weil der wahre Marcel, wenn er die Oberhand gewinnt, wenn sein Wille endlich siegt, dies sofort ausnützt, um diesen anderen, gelegentlichen Marcel zu strafen, zu demütigen, zu töten. Und wenn Sie, Tillon, was ich nicht hoffe, später je diesen schlechten Charakter wahrnehmen sollten, zeigen Sie ihm Ihre Abneigung und zerstampfen Sie ihn ohne Mitleid und ohne Reue am Boden – ich bitte Sie darum.

      Dr. Jekyll und Mr. Hyde? Wohl eher der junge Werther in Leipzig. Es sei den Psychologen überlassen, den bösen «anderen» Marcel zu analysieren und herauszufinden, was das «Hässliche» gewesen sein mag, das er am Nachmittag des 15. Mai 1911 verbrochen hat.

      Pilet ist oft einsam. In Leipzig hat er weder Familie noch Freunde und er bemüht sich auch nicht, neue Freundschaften zu schliessen. Höhepunkt der Woche ist der Sonntagmorgen, wenn der Briefträger einen lilafarbenen Umschlag mit einem langen Brief von Tillon bringt. Einmal erhält Marcel von Tillon Blumen zugeschickt, in einer alten Papierschachtel mit der Aufschrift «Derby», die «einen kleinen Hauch von jenseits des Kanals» vermittelt:

      Tillon, Sie haben für mich etwas Englisches, den hohen Hals, die recht eng geschlossene Taille, Ihre leichten goldenen Haare, aber vor allem Ihr zartes Lächeln, gleichzeitig fröhlich und träumerisch. Eine Träumerei im Nebel, die weit über das Land hinaussieht, wie eine mauve Sonne sich durch den Dunst hindurch senkt. All dies ist englisch! Sie haben von den Engländern mitgenommen, was sie an Graziösem, an Leichtem, an Frankem und Freiem haben, alles, was die Engländer vom französischen Blut behalten haben, würde ich sagen, und darüber hinaus, diese solide und gesunde Grundlage, die Vertrauen schafft und die den Charme und die Schönheit dieser angelsächsischen Charaktere ausmacht.

      Tillon ist es gelungen, sich nicht von den Schwächen der Engländer anstecken zu lassen, die da sind gemäss Pilet: «übertriebenes Phlegma, Glätte und Schwermut ihrer Gesichter, ihre Schlaksigkeit und ihre wenig geschmeidige Eleganz».

      Nein, was Sie von Ihnen mitgenommen haben oder besser was Sie mit ihnen gemeinsam haben, sind Ihre warme, zärtliche und beinahe heilige Verehrung für das Heim, für die eigenen vier Wände, das Zuhause. Und es sind alle diese feinen und delikaten Qualitäten, die «meine Tillon» zum köstlichen Engel machen!

      Home, sweet home. Romantischer Überschwang und klischeehafte Völkerpsychologie, wie sie vor über hundert Jahren gang und gäbe war. Immer wieder malt Marcel sich aus, was einmal sein wird. Er sieht eine umsorgende, liebevolle Gattin – Tillon natürlich –, einen Sohn, den er sich wünscht, seit er fünfzehn ist, vielleicht auch eine grössere Familie, ein gemütliches, geschmackvoll ausgestattetes, gastfreundliches Heim, einen Kreis von Freunden, Erfolg im Beruf. Ein brillanter Anwalt will er werden, doch zweifelt er an den eigenen intellektuellen und rednerischen Fähigkeiten.

      Ich habe normalerweise wenig Vertrauen in mich und erwarte eher, etwas falsch zu machen, als beim ersten Anlauf erfolgreich zu sein. Ich weiss nicht wieso, aber ich misstraue meinem Hirn, meinem Gedächtnis, meiner Logik und meiner Intelligenz ganz schrecklich.

      Eine Vorlesung Strohals macht Pilet Mut. Als der eminente Professor ein verzwicktes juristisches Problem zur Diskussion stellt, schweigen im Hörsaal alle deutschen Studenten, «wie übrigens fast immer, wenn man sie etwas fragt». Darauf liest Strohal den fraglichen Gesetzesartikel vor und räumt ein, dass dieser auf ersten Blick «völlig unverständlich» sei. Dies erstaunt wiederum den Hörer Pilet, der zwar auch schweigt, weil sein Deutsch zum Reden nicht ausreicht, der aber längst begriffen hat, worum es in dem Artikel geht. Dies beruhigt ihn: Sein «kleines juristisches Lausanner Gehirn» hat ein gutes Rechtsverständnis und eine innere Stimme sagt ihm:

      Hé, hé, dereinst wirst du kein mittelmässiger Anwalt sein, dem alle und vor allem die Klienten davonlaufen. Alles in allem wirst du eine gefragte Kanzlei und ein gut ausgestattetes Büro aufziehen können.

      Dies wird ihm erlauben, in Ruhe und nach eigenem Gutdünken zu leben. Nicht, dass ihm etwas daran liegt, reich zu sein – er glaubt nicht, dass Geld glücklich macht. Mittelmässigkeit hingegen, schreibt Pilet, bringt Schwierigkeiten und Kummer, während ein gewisser Wohlstand die Existenz erleichtert und ermöglicht, andern gegenüber grosszügig zu sein. Was Pilet vorschwebt, ist ein ausgefülltes Leben an der Seite seiner Tillon.

      Bei einem seiner Spaziergänge im Park sieht er ein elegantes Reiterpaar einträchtig Seite an Seite galoppieren. Nachher begegnet er den beiden im Restaurant:

      Zwei schöne Alte, ein noch frischer und glücklicher Frauenkopf mit sehr weissem Haar, ein energisches und starkes Männergesicht, der Bart schneefarben, die sich gegenseitig zulächeln wie im Frühling ihres Jahrs! Ah, wenn man bloss in vierzig oder fünfzig Jahren auf dem trauten Quai von Ouchy am Arm eines alten Advokaten eine kleine graue, sogar weisse Tillon sehen könnte – die immer noch lächelt, auf die Hand vertraut, die die ihre drückt, auf die Schulter, auf