Hanspeter Born

Politiker wider Willen


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der vorwitzige Henry oder «Harry», wie er sich trendig nennt:

      Die Mondnächte verlocken Sie zu sehr. Um dies zu verbergen, machen Sie eine leichtfertige Miene, aber Ihre Kameraden haben Sie durchschaut, sie haben Ihre Absicht erraten – erröten Sie nicht, dies ist sehr gut und passt zu Ihrem Alter!

      Weil sie immer tout émue, ganz gerührt, zu sein scheint, erhält sie den Couleurnamen Tante Emue, Tante Gerührt.

      Obschon die Mitglieder nach welscher Sitte schmolitz – deutschschweizerisch Duzis –, gemacht haben, spricht Harry, vulgo Rossard – frei übersetzt Rotznase –, Tillette weiter mit vous an. Er ist sich des Altersunterschieds bewusst und sie ebenfalls. An der letzten «schläfrigen» Sitzung vor den Sommerferien liest Tillette ihren Aufsatz vor. Im Protokoll macht sie in gespielter Bescheidenheit. Sie erzittere vor ihrer «aus markanten Persönlichkeiten zusammengesetzten Jury», die ihre «schreckliche Pfuscherei» lesen werde. Sie neckt «Rossard», der Lieder mit dem ewig gleichen Refrain summt und damit die Geduld der Versammlung strapaziert. Vergeblich habe man ihn ersucht, «mit diesem Radau aufzuhören»; ihn um Gnade gebeten, ihn angefleht, doch «nichts konnte den jungen Halbwüchsigen beruhigen».

      Dann wird die Protokollführerin sentimental. Wenn ihre «ungeschickte Feder» den zweiten Teil des Abends erzähle, verliere dieser «all seinen Charme und seine Poesie».

      Es war einfach köstlich, meine Lippen sind unfähig, die Gefühle von Dankbarkeit auszudrücken, die im Grund unseres Herzens ruhen. Danke, Rossard, für deine Liebenswürdigkeit. Wir hoffen, dass wir noch oft die unendliche Freude haben werden, deine warme, vibrierende und sympathische Stimme zu hören. 14. Juli 1910. Vice-Secrétaire Tante Emue.

      Hat sich Tillette in Henry – den schönen «Halbwüchsigen» – verguckt?

      Vielleicht. Aber auch ein anderer junger Rechtsstudent hat es ihr angetan, der Präsident von Belles-Lettres und Hauptdarsteller von Gringoire, dem sie ein halbes Jahr vorher, an jenem kalten Winterabend, in Orbe begegnet ist und mit dem sie – vielleicht – getanzt hat. Im Februar erhält der Präsident von Belles-Lettres eine an die Adresse Brasserie de Lausanne geschickte, unsignierte Karte. Darauf ist zu lesen, dass das petit comité du fanion sich «vor dem neuen Präsidenten von Belles-Lettres tief verneigt» und ihm Glück wünscht.

      Pilet hat die Identität der Absenderin erraten und flirtet zurück:

      Da ich nur die Adresse des Sekretärs des petit comité kenne – ich verdächtige ihn übrigens auch, Präsident zu sein –, viele Chargen für ein so kleines Köpfchen, schicke ich ihm meinen besten Dank für die liebenswürdige Karte. Wirklich, Mademoiselle, Sie sind mehr Bellettrienne, als man dies überhaupt sein kann, und es ist mir angenehm, eine Verbindung zu präsidieren, der Sie so viel Interesse entgegenbringen.

      Zum Schluss schreibt Pilet: «Weil wir in den nächsten Jahren in Orbe keine Abendveranstaltungen mehr organisieren werden, weiss ich nicht, was mich bewogen hat, Präsident zu bleiben. Vielleicht Faulheit. Merci noch einmal.» Keine Unterschrift.

      Den Entwurf ihrer kecken Antwort – sie hat sich mit der Formulierung viel Mühe genommen – bewahrt die spätere Mme Pilet-Golaz auf.

      Monsieur mon collègue …, weil Sie mich mit dem Titel Präsident ehren … seien Sie in Zukunft mit Ihren Liebenswürdigkeiten vorsichtiger! Scheint Ihnen mein so kleines, winziges Köpfchen so wenig fähig, schwere Lasten zu tragen? Sie müssen wissen, dass es sehr schlimm ist, auf diese Weise einen Anfänger, einen Schwachen, einen Unerfahrenen niederzumachen – und erst noch Sie, den ich für ein bisschen intelligent und gutartig hielt! – wie immer trügt der Schein! Sie verdienen Strafe … jedoch verzeihe ich Ihnen, hier der Beweis: die beiden Fotos, die Sie an die Wand Ihres Zimmers anstecken können, in Erwartung des Originals, vielleicht! Und ich grüsse Sie ganz herzlich, der Sekretär, nein, der verdächtigte Präsident!

      «In Erwartung des Originals, vielleicht!» Hohe Kunst des schriftlichen Flirtens.

       10. Romanze

       Samstag, 26. Juni 1909

      Ein Jahrmarkt in Orbe liefert dem im Militärdienst weilenden Präsidenten von Belles-Lettres den Vorwand, um mit den jungen Leuten des Fanion zusammenzukommen. Wie er Mlle Golaz ein Jahr später aus Deutschland schreibt, erinnert Marcel Pilet sich noch genau an jene «glückliche kermesse auf der Terrasse unter den schattigen Kastanienbäumen bei den alten römischen Türmen».

      Es war für mich ein grausamer, aber süsser Tag. Ja, auch ich liebte Sie bereits. Ich liebte die Anmut Ihrer Gesten, das Leichte Ihres Haars, die träumerische Güte Ihres Lächelns. Ich liebte Sie schon sehr stark und nur für Sie allein bin ich hingegangen.

      Grausam ist der Tag, weil er nicht weiss, ob Tillettes Herz schon einem andern gehört. Vergeblich wartet Pilet auf ein Zeichen der Zuneigung, mindestens ein Zeichen, dass er ihr nicht unsympathisch ist. Nichts dergleichen. Sie scheint ihm gar aus dem Weg zu gehen. Wieso also in Orbe bleiben? Er sagt zu seinem Kollegen Weitzel, er werde mit dem Siebenuhrzug nach Lausanne heimkehren.

      Dann kommt sie zu ihm und sagt ganz einfach: «Sie werden sehen, am Abend ist es immer viel besser. Bleiben Sie, ich garantiere es Ihnen!» Und er bleibt. Marcel redet mit Tillette, hört ihr zu, geht dorthin, wo sie hingeht. Er bewundert, wie im Tanz ihre Schritte gleiten, wie ihr Rock sich kokett und anmutig dreht. Dann ist die Reihe an ihm, sie «um den Gefallen eines Walzers zu bitten». Zum Schluss verabschiedet sie sich: «Auf Wiedersehen, auf bald einmal, in den Ormonts, hoffe ich.» In den Ormonts in den Waadtländer Voralpen besitzt die Familie Golaz ein Chalet.

      Man schreibt sich. Als une vieille amie, als alte Vertraute, gratuliert sie ihm zum Leutnantsgrad. Sie bittet ihn – als Kenner der Literatur und erfahrenen Theatermann – um Rat. An einer privaten Abendgesellschaft in Orbe möchte sie eine Stelle aus einem Theaterstück rezitieren und ersucht ihn um Vorschläge.

      Mittwoch, 1. September 1909

      An einem sonnigen Spätsommerabend hat der in den Manövern weilende Leutnant Pilet in einem Waadtländer Kaff Wachdienst. Gelangweilt liegt er im Stroh auf dem Bauch. «Mon lieutenant, ein Brief für Sie!» Tatsächlich, ein Brief, adressiert an «Monsieur le lieutenant Pilet, in den Manövern». Ein Brief nicht mehr von T. Golaz an den Präsidenten von Belles-Lettres, sondern von Tillette Golaz an Marcel Pilet. Ein Brief, der ihn an das maliziös hochgestülpte Näschen der heimlich Angebeteten erinnert und in ihm Träume von gemeinsamen Spaziergängen unter den Pappeln des Moores von Orbe weckt. Der Brief beginnt mit «Ihnen zu Befehl, mon lieutenant, würde ich antworten, wenn ich einer Ihrer kleinen Soldaten wäre und nicht eine demoiselle, die Sie zu wenig … oder zu gut … kennen».

      Genau ein Jahr später wird er der zu ma Tillon gewordenen Freundin schreiben:

      Schon liebkoste mich das Parfum Ihrer exquisiten Seele und berauschte mich. Ich war zufrieden, zufrieden, zufrieden. Ich wollte grundlos lachen, singen, schreien, mich im Heu wälzen.

      Leutnant Pilets Ordonnanz – der «impertinente Dupont, der sich mit mir alles erlaubt, aber ein guter Bursche, rauer Soldat, der für seinen Leutnant durchs Feuer gehen würde» – kommt zu ihm, zwinkert mit den Augen und bemerkt halb respektvoll, halb spöttisch: «Ganz gewiss ist der Brief von der bourgeoise, mon Monsieur, dass Sie so herauslachen.» Bourgeoise ist ein familiärer Ausdruck für Frau, Gattin, Freundin. Weiter fragt Dupont: «Ist sie hübsch?» Pilet hätte Lust zu antworten: «Eh, oui, Dupont, Du hast richtig geraten, wegen dieser Bourgeoise bin ich so fröhlich. Und ob sie hübsch ist? Oh, hübsch, hübsch wie eine Rose am Morgen.» Aber als Offizier, der auf seinen Rang achtet, erwidert er halb scharf, halb amüsiert, es sei schmählich für eine Ordonnanz, die etwas auf sich halte, derart dumm daherzuplappern und seinen Monsieur zu unterbrechen. Ausserdem sei sein Offiziersäbel dreckig und Dupont in seinem Zug der Faulste aller Faulpelze …

      Dupont nimmt den Verweis nicht ernst. Beim Weggehen gibt er seinem Leutnant einen leichten Ellbogenstoss und