sich seinen Weg in den Ladenraum gebahnt. Beinahe wünschte sich River, er könne auch einen Riechkraftverstärker einfach abschalten, doch er besaß keinen, und so hoffte er, dass sein Magen der Herausforderung Stand hielt. River legte die Tüte auf eine der Theken. Mit seiner menschlichen Hand löste er vorsichtig die Klebebänder. Als er in die Tüte hineinsehen konnte, seufzte er erleichtert. Darin befanden sich weitere Beutel, durchsichtig und gefüllt mit weißem Pulver. Er hatte also tatsächlich die so heiß begehrten Drogen gefunden. River schloss die Tüte wieder so gut es ihm möglich war, und legte sie in eine Thermobox, die in Türmen an der Wand hinter der Kühltheke gestapelt waren. Dann schulterte er seine Tasche, griff sich die Box und verließ das Fish-House. Er lenkte seine Schritte nun schnell in Richtung Hafen, denn die Zeit drängte. Wenn er das Schiff verpasste, wäre alles umsonst. Die Straßen waren leer. River konnte das Meer immer deutlicher riechen. Er passierte die Water Street und sah zwei Männer, die es in einem verdreckten Hauseingang miteinander trieben. Sie bemerkten ihn und fragten, ob er mitmachen wolle. River vermutete, dass sie ihn in der Dunkelheit nicht als Cy erkannt hatten. Er verneinte kurz und eilte dann weiter, während die Männer ihre stoßenden Bewegungen wieder aufnahmen. River wurde klar, dass er es nicht mehr rechtzeitig schaffen würde, wenn er sich nicht beeilte. Also programmierte er sein rechtes Bein auf die höchste Geschwindigkeit, bei der sein linkes mithalten konnte. Die dunklen Gebäude mit ihren schwarzen Fensterquadraten rauschten nun schnell an ihm vorbei.
Während River lief, gaben die Wolken den Mond frei, der die Umgebung jetzt in sein helles Licht tauchte. River erreichte den Hafen und hielt abrupt an. Er war nur wenigen Menschen auf seinem Weg hierher begegnet, und sehr froh darüber gewesen. Doch mit einer Ansammlung am Hafen hatte er im Traum nicht gerechnet. Es mussten an die fünfzig sein. River überlegte fieberhaft, was das zu bedeuten hatte. Er wurde jedoch schnell darüber aufgeklärt, als ein Teil der Leute mit den Fingern auf ihn zeigte, und einige Männer brüllten:
»Da ist der Verräter! Cyborg-Abschaum, der sich vor seinen Pflichten drücken will. Los, wir zeigen ihm, was wir von ihm halten!«
Als die ersten Menschen ihn mit Gegenständen unterschiedlichster Art bewarfen, war River zunächst wie gelähmt. Faulige Abfälle, leere Konservendosen und Glasflaschen wurden nach ihm geschmissen. Nur wenige trafen ihn tatsächlich, doch River spürte den Zorn dieser Leute deutlich. Es war ein bunt zusammengewürfelter Haufen, der mit Sicherheit keinen organisierten Verband darstellte. Vermutlich handelten sie aus purer Verzweiflung und machten in ihrer Verblendung die Cys statt die Silvers für ihre Misere verantwortlich. Im Grunde waren sie für River harmlos. Doch einige von ihnen hatten auch eindeutig aggressivere Tendenzen und trugen Waffen bei sich.
Als ein Mann mit einer Pistole auf ihn zielte, reagierte River instinktiv. Seine beschleunigten Bewegungen ermöglichten es ihm, dem Mann die Waffe aus der Hand zu reißen, noch bevor der imstande war, auch nur einen einzigen Schuss abzufeuern. River setzte den Angreifer durch einen gezielten Schlag auf dessen Solarplexus außer Gefecht. Ein zweiter Bewaffneter hatte die Zeit genutzt, um ebenfalls auf River zu zielen. Er feuerte im selben Moment, als Rivers System die Flugbahn der Kugel bereits berechnet hatte. Während er dem Geschoss auswich, zielte River auf den Mann. Er streckte ihn mit einem gezielten Kopfschuss nieder. Als der Getroffene zu Boden fiel, stoben die Menschen auseinander. Die meisten von ihnen flüchteten in Panik.
River betrachtete den Toten. Es war nun das zweite Mal, dass er auf einen Menschen geschossen hatte, statt ihn zu verteidigen. Bis vor kurzem hatte er nur Silvers vom Leben zum Tode befördert. Nun jedoch war es anders. Er tötete jene, die er eigentlich beschützen sollte. River wartete auf ein Gefühl der Reue, doch es blieb aus. Die Männer hatten ihn angegriffen, und er hatte sich lediglich verteidigt. Dadurch waren auch diejenigen in Angst versetzt worden, die ihn noch vor ein paar Sekunden für seine Entscheidung bestrafen wollten. Aber welches Recht hatten sie dazu? Nur noch wenige beschimpften River, während sie flüchteten, die meisten waren jedoch bereits verschwunden.
Erst jetzt entdeckte River den Ozeandampfer, der auf Pier 15 zusteuerte. Es war ein großes Schiff, jedoch nicht so gigantisch wie die neueren Kreuzfahrtschiffe es gewesen waren. Einige Fenster waren hell erleuchtet. River verspürte den drängenden Wunsch, hinter einem davon zu sitzen, und das Festland bald schon in der Ferne verschwinden zu sehen. Als ihn jemand an die Schulter fasste, schlossen sich Rivers mechanische Finger blitzschnell um dessen Hand. Er ergriff jedoch Stahl und blickte seinem Gegenüber in zwei Okular-Implantate.
»Du hältst dich wohl für ein Glücksschwein, weil das Schiff hier heute für dich anlegt. Träumst von einem tollen Leben und lässt alle anderen Cys mit der undankbaren Menschenmeute zurück.«
»So ist es nicht …«, erwiderte River, aber er wusste, dass es im Grunde eben doch genau so war. Auch der andere wusste es, und er lachte rau.
»Ich kann nichts dran ändern, dass die Menschen undankbar sind. Ich schulde ihnen nichts und verstehe nicht, warum du dich mit denen verbündet hast.«
»Das habe ich nicht. Die Menschen, die dich hier mit all ihrer Abscheu empfangen haben, interessieren mich einen Scheiß. Ich bin aus anderen Gründen hier.«
»Und welche sind das?«, fragte River, obwohl es ihn eigentlich nicht wirklich interessierte.
»Ich will dich warnen. Weißt du eigentlich, was dich auf dem Schiff erwartet? Denkst du wirklich, es wäre die heile Welt, die sie dir versprochen haben?«
»Ist es nicht so?«, fragte River.
»Es ist genauso ein Haifischbecken wie hier an Land. Vielleicht sogar schlimmer, weil du dich nicht irgendwo verkriechen kannst.« Er wies mit der Hand in Richtung des Schiffs. »Auf dem Kahn dort regiert Slaughter. Er ist der Kapitän. Ein Cy, der praktisch nur aus technischen Elementen und Metall besteht. Man sagt, sogar sein Herz sei durch ein künstliches Implantat ersetzt worden. Ich denke, die Behauptungen stimmen, so wie er sich benimmt.«
»Ich kann dir dazu nichts sagen. Ich war noch nicht auf dem Schiff, sondern checke jetzt zum ersten Mal dort ein«, erinnerte River und wollte an dem Mann vorbeigehen.
Der hielt ihn jedoch an der Schulter fest und sagte mit beharrlicher Stimme: »Du wirst Slaughter schnell erkennen. Sein gesamter Kopf – und damit auch sein Gesicht – bestehen aus Metall. Da ist keine menschliche Haut mehr. Nicht mal künstliche, weil er kein bisschen mehr wie ein schwacher Mensch aussehen will. Vermutlich hat er sich die restliche intakte Haut nach seiner Verwandlung sogar absichtlich wegätzen lassen. Der Kapitän ist optisch ein Silver. Und wenn du mich fragst, ist das kein Zufall. Diejenigen, die an Bord was zu sagen haben, stecken doch mit den Invasoren unter einer Decke. Die sollen sogar deren Sprache erlernen. Ich wette, die wollen ein Bündnis mit diesen Killern eingehen. Bist du dir immer noch sicher, dass du zu denen willst?«
»Bist du dir sicher, dass du nicht nur neidisch bist?«, konterte River. Das Gerede des anderen Cy hatte ihn beunruhigt, aber er wollte sich nichts anmerken lassen. Mochte ja sein, dass auf dem Schiff nicht das reine Paradies herrschte, aber der Mann redete von Sachen, die er nicht beweisen konnte. River wollte sich nicht von einem Kerl mit zu viel Fantasie sein zukünftiges Leben madig machen lassen. Immerhin war er an Bord vor allem unter seinesgleichen. Und er würde nicht mehr töten müssen, was River enorm erleichterte. Alles andere waren nur Geschichten, denen er nicht leichtfertig Beachtung schenken wollte.
»Ich merke schon, du glaubst mir nicht«, sagte der Cy enttäuscht und fuhr eindringlich fort: »Aber ich weiß, wovon ich rede. Mein Bruder war auf diesem Schiff. Nun ist er tot. Angeblich über Bord gegangen. Aber das glaube ich nie und nimmer.«
»War dein Bruder Mensch oder Cy?«
»Er war ein Cy, der für die Vorräte verantwortlich war. Er hieß Cedric Youngfield. Wie Dreck haben sie ihn behandelt. Vor etwa vier Jahren haben wir zuletzt miteinander gesprochen. Wir trafen uns am Hafen, aber Cedric bestand darauf, einige Straßen ins Stadtinnere zu gehen, bevor er mit der Sprache rausrückte. Er fühlte sich an Bord beobachtet. Und er sagte, er werde ernsthaft bedroht. Slaughter selbst soll ihn zu diesem Zeitpunkt bereits mehrfach übel verprügelt, und in eine Zelle gesperrt haben. Das muss man sich mal vorstellen, ein Cy prügelt auf einen anderen Cy ein, obwohl wir doch eigentlich alle zusammenhalten sollten. Und niemand an Bord unternimmt etwas dagegen, weil dieses brutale Arschloch