Hanna Julian

Cys vs. Silvers - River und Armand


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um sein Entsetzen darüber im Griff zu behalten. Gerne hätte er geschrien und panisch um sich geschlagen, doch ihm war bewusst, dass ihm das kein Stück weiterhelfen würde, zudem fehlte ihm für so einen Ausbruch auch gänzlich die Kraft. Mit dumpfer Stimme fragte er: »Was noch alles?«

      Phil hatte nun wieder eine professionelle Miene aufgesetzt und seine Stimme klang nüchtern. »Ich musste auch deinen Torso öffnen. Aber außer einer künstlichen Niere sind deine Organe unverändert. Es bleibt die Frage, ob ich das Herz ersetzen muss, oder ob deines mit dem Stromkreislauf kompatibel bleibt. Kann sein, dass es hier zu einer Notfall-Operation kommt, aber wenn das der Fall ist, bin ich vorbereitet.«

      »Wie beruhigend«, erwiderte River und biss sich auf die Lippe. Sie war verkrustet, aber immerhin schien sie nicht gänzlich verbrannt zu sein. Im Gegensatz zu seinen Wimpern und Augenbrauen, von denen kein Härchen mehr übrig war. Ihr Fehlen ließ sein Gesicht zu einer vollkommen ungewohnten Maske werden. River versuchte, tapfer zu bleiben. Er drehte den Kopf langsam in beide Richtungen und erkannte, dass seine Ohren ebenfalls ersetzt worden waren.

      »Es ist Silikon. Ich habe mir Mühe gegeben, sie so natürlich wie möglich zu gestalten. Ich denke, es ist mir gelungen. Wenn man sie nicht anfasst, ist eigentlich kein großer Unterschied zu bemerken.«

      »Ich sehe ihn«, korrigierte River und fügte mit krächzender Stimme an: »Ich weiß nämlich wie sie vorher aussahen.«

      »Tja, du hattest bestimmt sehr niedliche Öhrchen, bevor du dich entschieden hast, sie zu knusprigem Speck werden zu lassen.« Plötzlich klang Phil wütend, doch sofort rieb er sich die Augen und sagte dann versöhnlich: »Tut mir leid, River, aber ich leide ebenso unter all dem wie du. Wenn ich mir vorstelle, dass Benjamin jetzt an deiner Stelle wäre, weiß ich, wie falsch das alles ist. Aber es bleibt dabei, dass du nur die Wahl zwischen einer Verwandlung und dem Tod hast. Ich hoffe, du triffst die richtige Entscheidung. Die, die für dich die richtige ist, meine ich.«

      River tat so, als hätte er weder den Angriff, noch das Mitgefühl in Phils Stimme wahrgenommen. Stattdessen fragte er sachlich: »Was können diese Silikondinger, was meine echten Ohren nicht konnten? Oder haben Sie sie nur angebracht, damit ich nicht wie ein Arsch ohne Ohren aussehe?«

      Phil lächelte. »Sie sind beide mit einem Hörkraftverstärker ausgestattet. Aber du musst sie extra aktivieren, denn ich dachte mir, dass es bestimmt extrem nervend ist, jedes kleine Geräusch wahrzunehmen, obwohl man das nicht will. Ich habe mir dazu meine Großmutter zum Vorbild genommen, die grundsätzlich ihr Hörgerät nur angeschaltet hat, wenn es sich ihrer Meinung nach lohnte. Und glaube mir, das war äußerst selten der Fall.« Er lächelte, und River fühlte zum ersten Mal, seit er in den Spiegel gesehen hatte, ein wenig Menschlichkeit. Phil ließ den Spiegel sinken und legte ihn auf den Nachtschrank neben dem Bett.

      »Nun hast du alles gesehen. Ich denke, ich weiß ungefähr, wie du dich jetzt fühlst. Aber das Monster, das du in dir selbst zu erkennen glaubst, existiert nicht. Das da drin bist nach wie vor du, selbst wenn dein Körper sich verändert hat. Und du solltest bedenken, dass er nicht so wund und nackt bleibt. Sobald alles funktioniert, werde ich dafür sorgen, dass du mit Haut versorgt wirst und die elektronischen Elemente sich so gut in deine Bewegungen einfügen, dass sie eine Bereicherung und kein Joch sein werden.«

      River nickte. Was blieb ihm auch anderes übrig? »Ich habe Schmerzen, aber nicht so schlimme, wie ich wohl haben müsste. Wie kommt das?«

      »Morphium. Es gibt einen Vorrat in deiner linken Achselhöhle, der dich nach einem strengen Zeitplan versorgt. Ich habe ihn nach den ersten Operationen implementiert, denn ich wollte nicht Gefahr laufen, dass du vor Schmerz wahnsinnig wirst. Mir ist allerdings bewusst, dass es trotzdem immer noch sehr quälend für dich sein muss.«

      Er wartete auf Antwort, doch River schwieg. Sein Herz raste, als wolle es vor all dem davonlaufen. River blickte zum Fenster hinaus und erkannte auf der gegenüberliegenden Seite ein Haus mit einem verfallenen Dach. Ziegel fehlten und eine aus der Verankerung gerissene Satellitenschüssel hing lediglich an einem vollkommen abgewetzten Kabel, das aus einem Draht ohne Ummantelung bestand. Ein seidener Faden, doch stabil genug, um das nun unnütze Teil nicht in die Tiefe stürzen zu lassen. Als Rivers Herzschlag sich ein wenig beruhigt hatte, sagte er: »Ich möchte, dass Sie mit der Arbeit an mir weitermachen.«

      *

      River hatte sich für das Leben entschieden. Und Phil tat in den folgenden Jahren sein Bestes, um diesem Wunsch gerecht zu werden. Immer wieder musste River für lange Zeiträume das Kinderzimmer verlassen, um im Keller des Hauses neue Operationen und deren langwierige erste Heilungen über sich ergehen zu lassen. Und obwohl es Phil sehr leid tat, musste er ihn doch für Wochen dort behalten, da er im Notfall nur im Labor das erforderliche Equipment zur Hand hatte, um River, der auf dem schmalen Grat zwischen Leben und Tod wankte, nicht in die falsche Richtung kippen zu lassen. Jedes Mal, wenn die heikelsten Phasen überwunden waren, und River in Benjamins Zimmer zurückkehren durfte, gestaltete Phil es als kleine Feier. Sie aßen dann gemeinsam Kuchen, den Phil zwar mehr schlecht als recht zusammenbuk, den River aber dennoch liebte. Und mit jeder Rückkehr wurde das Zimmer von Phils Enkel mehr und mehr zu Rivers Zimmer. Als er anfangs den Stoffbären geknuddelt hatte, war Phils Blick voller Wehmut gewesen. Später reichte er ihn ihm jedoch ohne mit der Wimper zu zucken von selbst, obwohl das Stofftier durch Rivers oftmals noch unkontrollierten Umgang mit seinen elektronischen Gliedmaßen tiefe Risse erlitt. Einmal zerteilte Rivers implantierte Mini-Kreissäge das linke Glasauge des Bären. River glaubte, dass Phil ihm die Hölle heiß machen würde, doch der lächelte nur und sagte: »Jetzt sieht er ein wenig aus wie du.«

      Phil brachte River einiges an Bildung nahe, in deren Genuss er ansonsten vermutlich nie gekommen wäre. Er lehrte ihn, sich gewählter auszudrücken und beantwortete ihm allerlei Fragen. Manchmal schien er – trotz seines Wissens über dessen Herkunft – erstaunt zu sein, dass River bislang so wenig Ahnung von der Welt, ihren zwischenmenschlichen Regeln und den Naturgesetzen hatte. »Es ist immer gut, sich mit vielen unterschiedlichen Dingen zu beschäftigen, dann ist man auf die meisten Herausforderungen vorbereitet, die das Leben für einen bereithält«, sagte er oft, wenn River zu bedenken gab, dass er mit dem ganzen Wissen vermutlich niemals etwas würde anfangen können. Da er aber spürte, wie gut es Phil tat, über Kultur, die Politik von einst – aber vor allem über Wissenschaft zu sprechen, ließ er den alten Mann reden, auch wenn er oft genug während dessen Monologen einschlief.

      Die Jahre vergingen, und als River achtzehn wurde, musste er das geliebte Kinderzimmer, aber auch seinen bislang einzigen Freund Phil verlassen, um seiner Bestimmung als Cyborg nachzukommen. Phil, der mit einigen Leuten aus der früheren Regierung das Abkommen geschlossen hatte, ihnen Cyborgs zu liefern, und im Gegenzug von der Außenwelt unbehelligt sein bisheriges Leben weiterführen zu dürfen, wollte sich zum ersten Mal weigern, einen erfolgreich umgewandelten Menschen auszuliefern.

      River vergaß nie seine Worte: »Das ist kein Cy. Es ist ein Kind … River ist MEIN Kind!« Das war kurz bevor einer der Männer Phil mit einer Eisenstange mehrfach auf den Kopf schlug, solange bis seine Hirnmasse aus dem zerbrochenen Schädel quoll. Um seine Tat zu vertuschen, hatte er danach das Haus in Brand gesteckt. Der Mann entkam seiner Strafe jedoch nicht, als herauskam, dass durch seinen Gewaltausbruch nicht nur einer der wichtigsten Hersteller der Cys getötet worden war, sondern auch dessen Aufzeichnungen über die anpassungsfähigen Komponenten in den Flammen verloren gingen.

      Für River war jedoch weit mehr als das verloren gewesen, denn mit Phil starb der einzige Mensch, für den er selbst bis zu diesem Zeitpunkt bereit gewesen wäre, zu sterben. Ihm blieb damals jedoch nur wenig Zeit, um seinen Freund zu trauern, der sich zuletzt sogar als sein Vater angesehen hatte. Ein Leben als Phils Sohn hätte sicher ein lebenswertes sein können, doch River wurde gezwungen, andere Wege zu gehen. Gemeinsam mit weiteren unausgebildeten Cys brachte man ihn in ein Camp, wo sie von Eliteeinheiten des einstigen Militärs unterrichtet wurden. Von nun an war River nicht mehr als eine Nummer, die immer dann aufgerufen wurde, wenn er an gefangenen Silvers üben sollte, sie am effektivsten zu vernichten. Niemals hatte er Angst in den Augen der Feinde gesehen, und das bestärkte ihn mit der Zeit darin, dass sie selbst keine solchen Empfindungen hatten, wie die Menschen. Sie waren Killermaschinen, die von den anderen Silvers zurückgelassen