Hanna Julian

Cys vs. Silvers - River und Armand


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Aber keine Sorge, ich bin vorbereitet. Trink das hier.« Der Mann mit dem schütteren Haar, dem weißen Bart und den runden Brillengläsern hielt ihm ein Glas hin. Dann schien er erst zu realisieren, dass River nicht daraus trinken konnte, ohne den Oberkörper anzuheben.

      »Warte …« Er griff nach einer Spritze, entfernte die Kanüle und steckte sie in das Glas, um sie mit Flüssigkeit zu füllen. »Mund auf! Und versuche zu schlucken, auch wenn es dir schwerfallen wird.« River öffnete den Mund – er war so durstig, dass er sogar Pisse getrunken hätte. Der Mann gab ihm den Inhalt der Spritze vorsichtig auf die Zunge, und River versuchte, ihn hinunter zu schlucken. Die Hälfte rann ihm jedoch übers Kinn, weil er nicht in der Lage war, den Mund zu schließen.

      »Also gut, ein zweiter Versuch. Wir werden das ohnehin mehrfach machen müssen, damit du genügend Schmerzmittel aufnimmst. Ich habe glücklicherweise einen großen Vorrat, ebenso wie von Antibiotika. Ich fürchte, du wirst viel von beidem brauchen, weil du mir sonst doch noch unter den Händen wegstirbst.«

      River begann zu begreifen, dass es sich bei dem alten Mann um einen Arzt handeln musste. Dann sickerte die Erinnerung durch. Nachdem er das Feuer verlassen hatte, war er von den umstehenden Männern verhöhnt worden. Sie hatten geglaubt, er würde ohnehin sterben, und einer wollte ihn sogar ins Feuer zurückwerfen, damit noch der Rest von ihm verbrannte. Doch dann hatte Derk entschieden, man solle ihn zu Frankenstein bringen. River kannte die Geschichten, die sich um diesen Namen rankten. Es war eine Figur aus einem Roman – aus Filmen. Ein aus Fantasie geschaffener Mann, der Monster aus Leichenteilen zusammengestellt hatte. Vielleicht hatte er nicht absichtlich schreckliche Kreaturen erschaffen wollen, dennoch gruselte es River alleine schon bei der Vorstellung, in die Nähe eines Mannes zu kommen, dem man einen solchen Spitznamen verlieh. Dieser Frankenstein schien jedoch gar nicht so unheimlich zu sein, obwohl die Umgebung durchaus geeignet war, dass einem ein kalter Schauer über den Rücken lief. Überall waren medizinische Instrumente zu sehen, darüber hinaus gab es Maschinen und jede Menge technischer Teile, die gemeinsam mit Operationsbesteck auf einem metallenen Tisch lagen. River fragte sich, was das zu bedeuten hatte. Seine Gedanken waren träge, ansonsten wäre er wohl schneller darauf gekommen und pures Grauen hätte ihn ergriffen. So dämmerte er jedoch nach der Einnahme der Medikamente wieder in den gnädigen Schlaf, der die Schmerzen linderte, bis das Mittel ihm ein paar Stunden lang die Pein gänzlich nahm.

      Als River erneut erwachte, fand er sich in einem Bett wieder. Die Wände des Raumes trugen eine Tapete, die lustige Tiere zeigte. River erkannte Giraffen mit karierten Schals um die langen Hälse. Elefanten mit Knoten im Rüssel. Zebras, denen die Streifen vom Körper rutschten und Löwen, deren Mähnen zu Zöpfchen geflochten waren. Als er den Kopf drehte, bemerkte er eine Lampe, die nur schwaches Licht abgab und in der silberner Glitter in einer Flüssigkeit träge auf und ab schwebte. In der Ecke gegenüber dem Bett, in dem er lag, stand ein Schaukelstuhl, auf dem ein großer Stoffbär saß und ihn anzulächeln schien. River konnte kaum glauben, dass er endlich wieder ein unzerstörtes Kinderzimmer zu Gesicht bekam. Er hatte alte Prospekte gefunden, die aus der Zeit vor den großen Invasoren-Angriffen stammten. Darin waren Kinderzimmer abgebildet gewesen, wie er selbst nie eines für sich alleine bewohnt hatte. An den einzelnen Möbeln und Dekorationen hatten Zahlen gestanden, die die Währung von einst betrafen. River selbst hatte nie den Umgang mit Geld gelernt. Ab und zu hatte er in den letzten zwei Jahren zwar Geldscheine und Münzen gefunden, doch sie waren inzwischen nicht mehr wert als der andere Unrat, der auf den Straßen und in den verlassenen Häusern herumlag. Manchmal hatte er gedacht, wie schön es gewesen sein musste, als man Dinge noch mit Geld kaufen konnte. Ab und zu hatte er sogar verwitterte Kinderzimmer gesehen, die von Rattenkot und Schimmel bedeckt waren. Aber niemals war ihm ein so ordentliches und liebevoll eingerichtetes zu Augen gekommen, wie das, in dem er nun lag. Die Frage war nur, wer ihn hierher gebracht hatte. Und vor allem, zu welchem Zweck?

      Als River versuchte, sich aufzurichten, erfasste ihn unsäglicher Schmerz. Natürlich, er hatte schwerste Verbrennungen erlitten, wie hatte er also bloß auf den Gedanken kommen können, sich so zu bewegen, wie vor der Initiation? Aber Tatsache schien zu sein, dass er es überlebt hatte, denn die Vorstellung, dass der Tod einen in ein Kinderzimmer katapultierte, war so lächerlich, dass River dies nicht mal in Betracht zog. Viel eher tröstete er sich mit dem Gedanken, dass er nach Bestehen der Prüfung von den Männern in ihren Reihen aufgenommen worden war. Stellte sich nur die Frage, wer der Kerl gewesen war, den er bei seinem ersten Erwachen gesehen hatte. Denn der wirkte völlig anders als die Männer, mit denen er in den letzten Monaten zusammen gewesen war. Vermutlich hatte er von dem alten Mann nur geträumt. Und wen wunderte es, dass sein Geist sich einen Beschützer dieser Art erdachte, denn das Leben in Derks Clan war wirklich hart. Er hatte sich den Männern angeschlossen, weil er kurz vorm Verhungern gewesen war. Sie hatten ihm Nahrung und Schutz versprochen, wenn er sich ihnen als nützlich erwies. River hatte daraufhin für die Horde gekocht, sie bedient und Botengänge übernommen, um sich erkenntlich zu zeigen. Doch das hatte den Männern schon bald nicht mehr genügt. Immer wieder hatten sie ihn angefasst, was River hasste. Es waren nur flüchtige Berührungen gewesen, doch er hatte gespürt, dass bald mehr folgen würde. Also hatte er sich entschieden, die Initiation hinter sich zu bringen, um als vollwertiger Mann zu gelten und sich notfalls im Kampf gegen Übergriffe wehren zu dürfen.

      Zwar hatte Derk schallend gelacht, als River ihm seine Bitte vortrug, doch schließlich hatte er gesagt: »Wenn der Knabe unbedingt zum Mann gebrannt werden möchte, dann errichtet die Feuerwände!« Und so war es geschehen. River hatte die flammende Hölle überstanden – nur um jetzt in einem Kinderzimmer zu erwachen? War das vielleicht ein grausamer Scherz der Männer, um ihn trotz seines Mutes wieder zum Knaben abzustempeln? River verspürte einen neuerlichen Schmerz, der durch seinen gesamten Körper schoss. Das Auge, das er nicht öffnen konnte, brannte fürchterlich. Er hob den Arm, um danach zu tasten. Als seine Hand ins Blickfeld des intakten Auges geriet, keuchte River vor Schreck auf. Was war aus seiner Hand geworden? Statt ihr erkannte er ein Skelett aus Metall, das wie eine Hand mit Fingern geformt war, und doch ganz anders aussah. In die künstliche Handfläche waren Werkzeuge eingelassen, die im wilden Wechsel herausschnellten. Ein Messer klappte auf und schnappte in die künstliche Hand zurück, eine kreisrunde Säge im Miniformat gab daraufhin einen sirrenden Laut von sich, während sie rotierte, und verschwand dann wieder. Mehrere feine Gebilde – manche seltsam gebogen – schlossen sich dem chaotischen Treiben an. Zuletzt verschwand alles unter einer Metallplatte, die sich schloss und den Inhalt der Hand verbarg. Auch der komplette Unterarm bestand aus Metall, wie River mit Ekel vor sich selbst erkannte. Er starrte immer noch auf das Grauen, als sich die Tür öffnete und derselbe Mann ins Zimmer trat, den er schon zuvor gesehen hatte. »Ah, du bist wieder wach. Und wie ich sehe, hast du bereits deine Hand inspiziert.«

      »Das ist nicht meine Hand«, brachte River kraftlos hervor.

      »Von nun an ist sie es. Deine richtige Hand war leider unrettbar. Ich musste sie samt Unterarm amputieren. So, wie einige andere Körperteile ebenfalls.« Diese Worte verursachten bei River eine Panikattacke. Er konnte plötzlich kaum noch atmen, und obwohl es unerträglich schmerzte, hob er den Kopf und blickte an sich hinab. Da er jedoch unter einer Decke mit bunten Dinosauriern lag, musste er seinen Versuch stöhnend abbrechen.

      »Ich kann verstehen, dass du nun Gewissheit haben möchtest, was mit dir geschehen ist. Vielleicht ist es aber zu viel für dich wenn …«

      »Was ist mit meinem Auge?«, unterbrach River den Mann.

      »Es ist durch ein künstliches ersetzt worden. Die Prozedur ist noch nicht ganz abgeschlossen, daher ist es bislang nicht an den Stromkreislauf deines Körpers angeschlossen. Andere Elemente müssen zu einem späteren Zeitpunkt justiert werden, bevor sie durch deinen integrierten Stromerzeuger versorgt werden können. Aber das geht erst, wenn dein Körper die schlimmsten Strapazen überstanden hat. Dein Leben stand auf Messers Schneide, mein Sohn.«

      »Ich bin nicht Ihr Sohn! Und sagen Sie mir nicht, ich wärs aber jetzt!«, herrschte River ihn in seiner Verzweiflung an. Er wollte diesem Mann nicht glauben, aber er spürte, dass er die Wahrheit sagte. Das also war Frankenstein – der Mann, der ihn vom Jungen in ein Monster verwandelt hatte. »Keine Sorge, ich werde dich nicht mehr meinen Sohn nennen, vorausgesetzt, du verrätst mir deinen Namen. Die, die dich brachten, wussten ihn nicht. Überhaupt wussten sie rein gar