Robert Rauh

Fontanes Kriegsgefangenschaft


Скачать книгу

seines Lebens nicht sicher, wer ihn eigentlich gerettet hatte. Selbst die Forschung kommt zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen, obwohl die Aufarbeitung dieses spannenden biografischen Kapitels seit rund einhundert Jahren andauert.

      Komplexer Fall

      Dass der Fall bisher nicht gelöst werden konnte, hat mehrere Ursachen. Einerseits trug Fontane selbst nicht viel zur Aufklärung bei. Sein autobiografisches Buch Kriegsgefangen verleitet, das Erlebte – so der Untertitel – als realistischen Bericht seiner Haftzeit zu lesen. Der Text ist zwar die wichtigste und umfangreichste Quelle, aber vorrangig eine literarische. Fontane hat die Wirklichkeit modifiziert und gerafft, wenn es in sein poetisches Konzept passte. Und hat wohl nie damit gerechnet, dass der Wahrheitsgehalt seiner Aussagen jemals überprüft würde.

      Andererseits wird die Rekonstruktion durch die lückenhafte Quellenlage erschwert. Entscheidende Dokumente wie das Kriegsgerichtsurteil sind nicht überliefert. Daher führten in der Vergangenheit einzelne, durchaus spektakuläre Funde zur Darstellung von nur ausgewählten Aspekten der Kriegsgefangenschaft Fontanes. Aus dem Blick gerieten dabei die Gewichtung und vor allem die Verknüpfung der verschiedenen Handlungsstränge. Stattdessen erheben einige Fontane-Forscher den Anspruch, mit Legenden über den Erfolg einzelner Rettungsbemühungen aufräumen zu wollen; die älteste ist die sogenannte »Crémieux-Legende« (1910) und die jüngste die »Bismarck-Legende« (2018). Problematisch ist darüber hinaus die häufig fehlende Differenzierung zwischen den einzelnen Personenkreisen sowie den drei Etappen der Rettung Fontanes: Freispruch vom Spionage-Vorwurf, privilegierter Gefangenenstatus und Freilassung auf Ehrenwort.

      Neue Quellen

      Eine umfangreiche Recherche in den Archiven und vor Ort hat es ermöglicht, dass sowohl Fontanes Erlebnisse während der Haftzeit als auch die Initiativen seiner Retter detailliert nachgezeichnet werden konnten. Der Untersuchung liegen nicht nur die bekannten und neu interpretierten Quellen zugrunde, sondern bisher unveröffentlichte bzw. nicht ausgewertete Briefe, Notizbuchaufzeichnungen und amtliche Dokumente. Hierzu gehören beispielsweise zwei Fontane-Schreiben an Emilie, mehrere Brief-Entwürfe, die Fontane auf der Insel Oléron verfasste, sowie Dokumente zur Liberationsordre der französischen Regierung, die im Pariser Militärarchiv lagern. Darüber hinaus wurden die Erinnerungen über die Gefangenschaft eines Sergeanten herangezogen, dem Fontane in der Zitadelle auf Oléron begegnet ist und der sein Buch in Anlehnung an Fontane ebenfalls Kriegsgefangen nannte.

      Nicht nur Fontane war sich der Brisanz seines Falls bewusst. Der Kommandant der Festung Oléron soll dem Dichter schon bei der Begrüßung auf der Insel prognostiziert haben, dass Fontane die Gefangenschaft auf Isle d’Oléron segnen werde: Sie werden einen guten Stoff gewinnen und Ihr zukünftiger Biograph einen noch besseren.[3] Zu diesem Zeitpunkt hatte der Kriegsgefangene schon längst mit der Aufzeichnung seiner Erlebnisse begonnen, die unmittelbar nach seiner Rückkehr zunächst in der Vossischen Zeitung, 1871 dann als Buch publiziert wurden. Im Nachwort wird die Entstehung und zeitgenössische Wirkung von Kriegsgefangen thematisiert, die Fontane eine bis dahin nicht gekannte mediale Aufmerksamkeit bescherte.

      Originalschauplätze in Frankreich

      Die historischen Schauplätze von Fontanes Kriegsgefangenschaft existieren noch. Sowohl die Zitadelle von Besançon als auch die Festung auf der Insel Oléron sind touristische Anziehungspunkte. Und in Domrémy, wo Fontane am 5. Oktober 1870 verhaftet wurde, kann wie vor 150 Jahren das Geburtshaus der Jeanne d’Arc besichtigt werden. Am Beispiel von Domrémy lässt sich anschaulich beweisen, wie man mithilfe der neu edierten Notizbücher und der erhaltenen Gebäude-Szenerie zu differenzierten Erkenntnissen gelangt. Dass Fontane genauso verhaftet wurde, wie er es in Kriegsgefangen beschreibt und wie es anschließend jahrzehntelang tradiert wurde, gehört auf das weite Feld der Literarisierung.

      Gabriele Radecke & Robert Rauh

      Ahrenshoop, im Sommer 2020

image

      Theodor Fontane 1870, Fotoatelier Loescher & Petsch Berlin

      ABERMALS EIN KRIEGSBUCH Zwischen den Fronten

      Wellen in Warnemünde

      Es sollte ein entspannter Urlaub werden. Im Juli 1870 befand sich Theodor Fontane zur Sommerfrische an der Ostsee, bevor der Fünfzigjährige Mitte August bei der Vossischen Zeitung seine neue Stelle als Theaterkritiker antreten würde.[1] Zusammen mit seiner Frau Emilie und zwei seiner Söhne, dem dreizehnjährigen Theodor und dem sechsjährigen Friedrich, hielt er sich seit dem 12. Juli in Warnemünde auf.[2] Doch das Urlaubsidyll war von Anfang an getrübt. An der Ostseeküste tobten Sturm und Regen.[3] Und in Europa kündigte sich ein neuer Krieg an.

      Die Kandidatur des katholischen Erbprinzen Leopold von Hohenzollern-Sigmaringen für die vakante spanische Krone hatte einen Konflikt zwischen Frankreich und Preußen ausgelöst, den der preußische Ministerpräsident Otto von Bismarck zu verschärfen verstand. Nachdem der preußische König Wilhelm I. die spanische Thronbewerbung seines Verwandten zurückgezogen und damit dem französischen Druck nachgegeben hatte, glaubte die französische Regierung, den diplomatischen Erfolg ausweiten zu können. Und überspannte den Bogen. Der französische Botschafter reiste in den Kurort Bad Ems und verlangte am 13. Juli auf der Kurpromenade von Wilhelm die Zusicherung, auch künftig keine Hohenzollernkandidatur in Spanien mehr zu billigen – was der preußische König entschieden ablehnte. Bismarcks Mitarbeiter Heinrich Abeken, der den König in Bad Ems begleitete, protokollierte die Vorgänge und telegrafierte den Bericht nach Berlin. Diese »Emser Depesche« wurde von Bismarck in einer gekürzten und verschärften Version an die Presse gegeben. Die Pressemeldung erweckte nun den Eindruck, der französische Botschafter sei in Bad Ems in ungebührender Weise aufgetreten und der König hätte weitere diplomatische Kontakte abgelehnt. Daraufhin sah sich der brüskierte und innenpolitisch ohnehin unter Druck stehende Kaiser Napoléon III. am 19. Juli 1870 zur Kriegserklärung an Preußen veranlasst. Eine einzige Depesche, wenn auch nichts drinsteht, kommentierte Fontane einen Monat später, wiegt ganze Berge von Literatur auf.[4] Die Kriegserklärung war der offizielle Beginn des Deutsch-Französischen Krieges, der erst im Mai 1871 mit dem Frieden von Frankfurt am Main sein Ende fand.

      Ein ungeheurer Lärm brach los, dessen Wellen wir selbst in dem stillen Warnemünde verspürten, notierte Fontane später im Tagebuch.[5] Unmittelbare Auswirkungen spürten sowohl das kleine Ostseebad als auch die Fontanes selbst: Während an der Ostsee das Gerücht umging, man müsse mit dem Erscheinen von 14 [französischen] Panzerschiffen vor Warnemünde rechnen[6], nahm Fontanes ältester Sohn auf preußischer Seite am Feldzug teil. Detailliert wird der neunzehnjährige George Fontane in den folgenden Monaten den Eltern über seine Erlebnisse an der Front berichten. Am Tag der Kriegserklärung hatte George im Schnellverfahren seine letzten Prüfungen für das Offiziersexamen bestanden[7] und rückte am 26. Juli als »Seconde-Lieutnant« der preußischen Armee Richtung Westen aus. Stolz verkündete er, wahrscheinlich werde seine Division die Avantgarde bilden.[8] Weder er noch seine Eltern ahnten zu diesem Zeitpunkt, dass der Vater dem Sohn bald nach Frankreich folgen würde – als Kriegsjournalist.

      Am 1. August entschieden die Fontanes, ihren Urlaub in Warnemünde abzubrechen. Emilie kehrte mit den beiden Söhnen direkt nach Berlin zurück; Fontane fuhr über Rostock nach Dobbertin, wo er seine langjährige Vertraute und Förderin Mathilde von Rohr besuchte.[9] Auch in der klösterlichen Abgeschiedenheit holten ihn die Frontnachrichten ein. Und die preußische Propaganda, die er im Hinblick auf die Mär vom nationalen Verteidigungskrieg kritiklos übernahm: Man hat nur 2 Dinge als Trost, schrieb er an Emilie, dieser Kampf wurde uns aufgedrängt, er trat als Unvermeidlichkeit an uns heran und dann zweitens die Vorstellung, 500.000 Muttersöhne haben dasselbe durchzumachen [wie ihr Sohn George].[10] Die erste Siegesnachricht traf am 5. August ein. Tags zuvor hatte ein gesamtdeutsches Heer in der Schlacht bei Weißenburg die Franzosen