Robert Rauh

Fontanes Kriegsgefangenschaft


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die Effronterien [Unverschämtheiten] des ersten besten Strolches zu schützen.[6] Dass der Revolver, den Fontane zur Notwehr mitführte, bei seiner Verhaftung zum Corpus Delicti wurde, gehört zur Ironie dieser Geschichte.

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      Er ging von Hand zu Hand: Revolver, Modell Lefaucheux M 1858, Fontanes Exemplar ist verschollen

      Da in keinem der überlieferten Dokumente auf die Herkunft des Revolvers Bezug genommen wird, kann nur gemutmaßt werden, von wem Fontane ihn erhalten hatte. Entweder er hat den Revolver – ein französisches Modell – in Frankreich erworben. Oder bereits in Berlin. Infrage kommt ein Freund, dessen Trinkflasche er bereits bei sich trug[7] und von dem er sich schon einmal bewaffnen lassen wollte: Bernhard von Lepel. Der Offizier und Schriftsteller zählte zu seinen engsten Vertrauten. Im September 1848 fragte Fontane bei Lepel an, ob er nicht auf väterlicher Rumpelkammer eine alte aber gute Büchse habe. Fontane würde den Freund nicht einen so sonderbar klingenden Wunsch […] an’s Herz legen, wenn er sich nicht, wie immer, in Geldverlegenheiten befände. Sein Anliegen begründete Fontane mit den – von ihm ausdrücklich herbeigewünschten – Kämpfen der radikalen Demokraten während der »Septemberrevolution« von 1848.[8] Lepel, der im Revolutionsjahr 1848 die königstreuen Truppen unterstützte, lehnte den Freundschaftsdienst in gewohnt humorigem Tonfall ab: Fontane habe offenbar keine Bedenken, ihn »um eine Waffe zu bitten«, mit der er gegen seine konservative Partei fechten wolle. Und Lepel fragte, ob der Freund seine Bitte mündlich »ohne zu lachen« wiederholen könnte.[9] Ungeachtet dessen ist es umstritten, ob sich Fontane tatsächlich mit der Waffe in der Hand an den Barrikadenkämpfen beteiligt hatte.

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      Frappante Ähnlichkeit mit der Mark Brandenburg: Landstraße zwischen Vaucouleurs und Domrémy, 2020

      In Frankreich kam der Revolver jedenfalls nicht zum Einsatz. Auch nicht, als der Kutscher einen weiteren Fahrgast auflas und der erneut misstrauisch gewordene Fontane daraufhin seine Reisedecke unwillkürlich etwas zurecht rückte. Der Fremde erwies sich jedoch als ein freundlicher, angenehmer Mann und so setzten sie plaudernd über Krieg und Frieden ihren Weg fort.

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      Zum Frühstück hinter der Front: Hôtel de la Providence in Vaucouleurs, Postkarte, um 1900

      Wie im Märkischen

      In Kriegsgefangen schildert der Kriegsjournalist auf Abwegen seinen Ausflug ins Jeanne-d’Arc-Land als entzückende Fahrt. Das lässt sich auch 150 Jahre später nachvollziehen. Malerisch führt die Straße durch kleine, stille Ortschaften und überquert hier und da die schmale Maas, die sich kurvenreich durch die Ebene schlängelt. Von rechts her traten mächtige Weingelände, in der Mitte des Abhangs mit hellleuchtenden Dörfern geschmückt, bis an die Straße heran; nach links hin dehnten sich Fruchtfelder, dahinter Bergzüge, oft in blauer Ferne verschwimmend. Zwei Orte und ein paar Berge weiter erinnert Fontane die Landschaft aufgrund frappanter Ähnlichkeit mit dem Nuthethal an seine märkische Heimat – und die Erzählweise an seine Wanderungen durch die Mark Brandenburg.

      Nach drei Stunden erreichte die Fahrgemeinschaft Vaucouleurs, ein[en] reizende[n] kleine[n] Ort, der sich am westlichen Ufer der Maas, etwa dreißig Kilometer von Toul, befindet. Für den Aufenthalt hatte der Kutscher zwei Stunden festgesetzt. Zeit genug, die alte Kapelle und das leidlich wohlerhaltene Schloss des ›Ritters Baudricour[t]‹, das die Stadt beherrscht, zu besuchen.[10] Tatsächlich wendete Fontane für das Besichtigungsprogramm weniger Zeit auf. Denn zunächst machte er Station im Hôtel de la Providence in der Rue de Jeanne d’Arc, um sein Handgepäck, eine Tasche und Lepels Trinkflasche, zu deponieren – und um zu frühstücken.[11] Gestärkt suchte er anschließend die geschichtsträchtigen Stätten auf. Wer allerdings in Kriegsgefangen eine Beschreibung erwartet, wird enttäuscht. Darüber zu berichten, erklärt der Autor, sei hier nicht der Ort.[12]

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      Das Schloss des Ritters auf der Crête des Berges: Porte de France in Vaucouleurs, Fontanes Skizze vom 5. Oktober 1870, Notizbuch D6

      Eindrücke finden sich dagegen in Fontanes bisher nicht bekannten Notizen über Vaucouleurs. Die noch heute erhaltenen Sehenswürdigkeiten liegen – aufgezogen wie an einer Perlenkette – am Abhang eines Berges, dessen Fuß bis in das Stadtzentrum reicht: erst die Kirche, dann die Kapelle und ganz oben auf der Crête [Krone] des Berges das Schloss des Ritters. Um sie zu besichtigen, musste man damals wie heute unzählige Steinstufen erklimmen. Während die Kirche Saint-Laurent und die 1928 rekonstruierte Burgkapelle noch erhalten sind, existieren von der Burganlage nur noch Reste. Zu ihnen gehört die 1733 erneuerte Porte de France. Hier soll Jeanne d’Arc, nachdem sie von Burgherr Robert de Baudricourt mit sechs Begleitern ausgestattet sowie mit dem Ausspruch »Va, va et advienne que pourra« [»Geh, geh und komme, was will«] verabschiedet worden war, am 13. Februar 1429 aufgebrochen sein, um den französischen Thronerben aufzusuchen. Durch das Thor hindurch sieht man auf die Mauern und Dächer der Häuser [,] die weiter hinab am Abhang stehn, zwischen diesen Häusern und Dächern stehn Baumkronen und […] über diese hinaus ragt der spitze gothische Thurm der Stadtkirche.[13] Wachsen die Bäume nicht weiter in den Himmel, wird man auch künftig diesen Blick genießen können.

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      Auf der Krone des Berges: Burgkapelle und Porte de France in Vaucouleurs, 2020

      Um zwölf Uhr ging es weiter nach Domrémy, circa zwanzig Kilometer südlich von Vaucouleurs. Kurz vor der Einfahrt in das Dorf erfährt Fontanes Beschreibung des Jeanne d’Arc-Landes eine romantische Steigerung: Durch die herbstlich klare Luft zogen Tausende von Sommerfäden, und auf meine neugierige Frage, welchen Namen diese weißen Fäden in Frankreich führten, antwortete der Kutscher, es seien die Haare der Heiligen Jungfrau. War es denkbar, formuliert Fontane beflügelt, unter glücklicherer Vorbedeutung in das Dorf der Jeanne d’Arc einzuziehen? Um dann abrupt zu konstatieren: Und doch täuschten alle diese Vorzeichen.

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      Ich machte meine Notizen: Geburtshaus der Jeanne d’Arc in Domrémy, Fontanes Skizze vom 5. Oktober 1870, Notizbuch D6

      Alles war Poesie

      Um drei Uhr etwa fuhren sie in die Hauptstraße von Domrémy ein. Fontanes Eindruck, trotz hellen Sonnenscheins und des weißen Anstrichs der Häuser, war ein düsterer; alles schien auf Verfall und Armut hinzudeuten. Der Kutscher hielt vor einem rußigen, anscheinend herabgekommenen Gasthause, das in verwaschenen Buchstaben die Inschrift trug: »Café de Jeanne d’Arc«. Es war unheimlich.

      Domrémy hat seitdem nicht viel getan, um seinen Besuchern einen besseren Eindruck zu vermitteln. Auch heute strahlt die Sonne vom Himmel, aber die Einfahrt in die Hauptstraße lässt keine Freude aufkommen. Die Häuser sind ergraut und die Fenster mit Rollläden verschlossen. Nirgends Blumen vor den Häusern; stattdessen sprießt Unkraut. Wir halten vor dem schmucklosen Hotel Jeanne d’Arc, dessen heruntergelassene Jalousien und verwitterter Anstrich darauf hindeuten, dass es die besten Tage hinter sich zu haben scheint. Gegenüber ein Imbiss und daneben ein Souvenirshop, die beide den Versuch unternehmen, Touristen nicht sich selbst zu überlassen. Wie Fontane haben wir vor, uns diesem Eindruck zu entziehen – und suchen unverzüglich die geweihte Stätte auf, wo »la Pucelle« geboren