Pilgerstätte bis heute: Geburtshaus der Jeanne d’Arc in Domrémy, 2020
Nachdem Fontane die Glocke an einem sauberen drahtgeflochtenen Gittertor gezogen hatte, das den Garten von der Straße schied, öffnete eine Nonne, die ihn hineinbat und durch das Haus führte. Als er in der Nische über der niederen Eingangstür das in Stein gemeißelte Bild der gewappneten Jungfrau und im Haus den alten eichenen Wandschrank sah, der Jeanne d’Arc jahrelang als Truhe gedient hatte, fiel alles Misstrauen von ihm ab; Fontane fühlte sich ganz dem Zauber dieser Stunde hingegeben.
In Kriegsgefangen ergänzt der Reisende den eher seltenen Hinweis: Ich machte meine Notizen.[14] Und da das Notizbuch erhalten ist, erfährt man, dass Fontane weitaus mehr über seinen Rundgang in der heiligen Stätte festgehalten hat. Es seien nur drei Details genannt, die heute noch zu sehen sind: gleich im ersten Raum ein großer alter Kamin links an der Wand, in der Mitte eine Statue der Jungfrau in Bronze, 2 Fuß hoch [jetzt in einer Ecke platziert] sowie das leere, drei halbe Arme im Quadrat große Schlafzimmer mit einem kleinen Lochfenster.[15]
Sich jedes Kleinste einprägend: Dorfkirche Saint-Rémy (Jeanne d’Arcs Taufkirche) in Domrémy, links vor dem Portal die Statue der Jeanne d’Arc, Postkarte, um 1900
Das Haus selbst ist heute Teil eines Museums. Um es zu besichtigen, muss man zunächst einen modernen Anbau passieren, in dem freundliche und auskunftsbereite Mitarbeiter darauf hinweisen, dass der Besucher keinen Eintritt bezahlen, aber die coronabedingte Maske aufsetzen muss. Wir passieren den Anbau, in dem mittels Animationen die »Gesichter der Jeanne d’Arc« präsentiert werden, dann den Garten, in dem es – im Gegensatz zum Ort – grünt und blüht, und gelangen schließlich in das märchenhaft anmutende Häuschen mit dem schiefen Dach. An diesem heißen Junitag sind wir überall allein, können in Ruhe Fotos machen und die Gegebenheiten mit Fontanes Notizen abgleichen. Dann treten wir zurück in den Garten und versenken uns noch einmal in den Anblick dieses in Geschichte und Dichtung gleich gefeierten Ortes. Fontane geriet in einen Sinnestaumel – alles war Poesie.
Romantisch auch die Dorfkirche, in der Jeanne d’Arc getauft wurde und die zusammen mit dem Geburtshaus auf der linken und dem Hotel Jeanne d’Arc auf der rechten Seite eine filmreife Kulisse bietet. Fontane verweilte wohl eine Viertelstunde in der Kirche, sich jedes Kleinste einprägend. Dann trat er wieder vor das Portal der Kapelle, zu deren Linken sich eine Statue der Pucelle erhebt. Das Denkmal befindet sich heute, gut zweihundert Meter vom alten Standort entfernt, zwischen zwei Linden und – weniger romantisch – vor einem Besucherparkplatz. Die Jungfrau kniet im Gebet, presst die linke Hand aufs Herz, während sie die rechte gen Himmel hebt. Ausgerechnet hier, vor dem Denkmal der Jeanne d’Arc, fand Fontanes Fahrt ins alte, romantische Land ein jähes Ende.
Filmreife Kulisse: Dorfkirche Saint-Rémy (ohne Statue der Jeanne d’Arc) und Hotel Jeanne d’Arc in Domrémy, 2020
Verhaftung
Fontanes Urteil über das 1855 von Eugène Paul geschaffene Denkmal der Jeanne d’Arc war schnell gefällt: eine wohlgemeinte, aber schwache Arbeit. Als er dann mit seinem Stock an die Statue klopfte, um sich zu vergewissern, ob es Bronze oder gebrannter Ton sei, sah er eine Gruppe von Acht bis zwölf Männern, […] ziemlich eng geschlossen und untereinander flüsternd auf sich zukommen. Fontane stutzte, ließ sich in seiner Untersuchung aber nicht stören und fragte unbefangen, als sie heran waren, ob sie wüssten, aus welchem Material die Statue gemacht sei. Man antwortete ziemlich höflich, sie bestünde aus Bronze. Die Männer zeigten jedoch keinerlei Interesse, mit dem Fremden über kunsthistorische Fragen zu fachsimpeln. Stattdessen verlangten sie seine Papiere. Und weil es ihnen nicht gelang, sich darin zurechtzufinden, forderten sie Fontane auf, ihnen zur Überprüfung seiner Angaben in das Wirtshaus zu folgen.
Eine wohlgemeinte, aber schwache Arbeit: Statue der Jeanne d’Arc in Domrémy, 2020
Noch glaubte Fontane, die Situation im Griff zu haben. Die ganze Szene, so peinlich sie war, hatte nicht gerade viel Bedrohliches. Im Gegenteil: Nach dem Eintritt in das Café Jeanne d’Arc schien sie ein immer helleres Licht gewinnen zu wollen. Es wurden Wein und Reimser Biskuit herumgereicht und Fontane ergriff die Gelegenheit, den umstehenden, mehrheitlich angetrunkenen Dorfbewohnern, deren Zahl von Minute zu Minute wuchs, zu erklären, dass er sich auf einer Recherche-Tour für ein Buch über den noch andauernden Deutsch-Französischen Krieg befände und dass er heute eine spezielle[n] Exkursion nach Domremy, in den Geburtsort der französischen Nationalheldin Jeanne d’Arc, unternommen habe. Alles wurde wohlwollend aufgenommen.
Aber der kleine Lichtstrahl, der eben durchbrechen wollte, sollte bald wieder schwinden. Erst wurde die zuhörende Gesellschaft überrascht von einem poignard [Dolch], den ein junger Bauer aus Fontanes Stock zog, dann von seinem Revolver, der zum Vorschein kam, als Fontane aufgefordert wurde, seine Reisedecke auszuwickeln. Die Waffe ging von Hand zu Hand und wurde mit sehr verschiedenen Gefühlen betrachtet. Bevor die Stimmung ganz zu kippen drohte, wurde Fontane von einem Mann aus dem Kreise der Minorität, vermutlich einem Franctireur [französischem Freischärler][16], gefragt, ob er damit einverstanden sei, dass man ihn nach Neufchâteau auf die Souspräfektur [Bezirksverwaltungsbehörde] führte. Der Bedrängte musste lächeln; ebenso gut hätte man ihn fragen können, ob er damit einverstanden sei, gehängt zu werden.
Kaum hatte Fontane seine Einwilligung ausgesprochen, als man seinen Kutscher, der ihn übrigens, wie er ausdrücklich betont, nicht verraten hatte, antrieb, seinen Braunen wieder einzuspannen. Fontane bezahlte seine Zehrung bei der Wirtin, die ihn teilnahmsvoll ansah. Vor dem Wirtshaus bestiegen sie den Wagen: Rechts der Kutscher, links ein Franctireur, Fontane eingeklemmt zwischen beiden. Kurz darauf hatten sie Domrémy verlassen. Die Sonne war im Niedergang; der Abend klar und schön; so ging es auf Neufchâteau zu.[17] Offenbar war ihm in diesem Moment bewusst geworden, dass er seine Freiheit verloren hatte. Aber er ahnte noch nicht, in welcher Gefahr er tatsächlich schwebte. Erst rückblickend wird Fontane die Situation in seinem Tagebuch auf den Punkt bringen: Hier war das Todtschiessen nah.[18]
Fontanes Verhaftung vor dem Jeanne-d’-Arc-Denkmal könnte sich so abgespielt haben. Sie könnte aber auch anders verlaufen sein.
Erlebtes, aber die Wahrheit?
Die Geschichte der Verhaftung wird seit ihrer ersten Veröffentlichung im Dezember 1870[19] in allen Fontane-Publikationen immer wieder genau so erzählt. Obwohl es sich bei Kriegsgefangen um keinen sachlichen Bericht eines Journalisten, sondern um die autobiografische Schrift eines Dichters handelt, wurde Fontanes Version nicht infrage gestellt. Und für Fontane war es offenbar verlockend, die romantische Reise ins Jeanne d’Arc-Land auf ihrem Höhepunkt poetisch enden zu lassen.
Mehrere Indizien, die sich sowohl in den Notizen und im gedruckten Text als auch vor Ort finden lassen, sprechen jedoch dafür, dass die Verhaftung weitaus unspektakulärer über die Bühne gegangen sein könnte. Vermutlich wurde Fontane nicht vor der Statue der Jeanne d’Arc festgenommen. Denn anders als in Kriegsgefangen erzählt, wurde er nicht bei der Materialuntersuchung unterbrochen, sondern hatte sie – wie die Bemerkung im Notizbuch belegt – bereits beendet: Ob es Erz ist oder gebrannte Thonmasse [,] ist nicht zu sehn. Es scheint aber Thonmasse. Zudem hatte Fontane seine vor Ort angefertigten