Iva Prochazkova

Die Residentur


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Vielleicht war Veronikas Hektik echt gewesen, aber wenn sie sie nur gespielt hatte? Vielleicht hatte sie das Gespräch nur so schnell wie möglich beenden wollen. Aber warum? Wusste sie vielleicht etwas, das sie nicht sagen wollte?

      „Alena“, drang an ihr Ohr. „Kommst du mal bitte für einen Moment?“

      Sie ging wieder aus dem Esszimmer. Ihr Schwiegervater stand im Flur gegen den Kleiderständer gelehnt, er hatte die alte Jacke an, die er immer im Garten trug, und versuchte mit Mühe, seine Ferse in einen Stiefel zu quetschen. Obwohl er mit einem Schuhanzieher nachhalf, bewältigte seine schwindende Muskulatur so eine Aufgabe nicht mehr.

      „Papa, warum hast du mich denn nicht gleich gerufen“, fragte Alena vorwurfsvoll und ging in die Hocke, um ihm beim Schuhe Anziehen zu helfen. Es kostete sie keinerlei Überwindung, ihm bei körperlichen Verrichtungen zu assistieren, die er wegen seiner Erkrankung nicht mehr alleine schaffte. Es wurden immer mehr, einige davon relativ heikel. Vor einem Jahr hatte sie ohne Bedauern ihre Arbeit als Trainerin aufgegeben (seit sie selber nicht mehr zu Wettkämpfen fuhr, war sie vom Schwimmen längst nicht mehr so besessen wie früher) und stand nun ihrem Schwiegervater ganztägig zur Verfügung. Sie begleitete ihn zur Kirche, brachte ihn zu seinen Heilbädern, machte mit ihm Gymnastik. Dass sie sich um ihn kümmerte, akzeptierte er mit angenehmer Selbstverständlichkeit, fast fröhlich.

      „Warum soll ich dich denn rufen? Ich muss in Form bleiben“, wischte er mit einem Lächeln ihren Vorwurf beiseite. „Falls Štěpán in dieses Europarlament kommt, erwarten uns anstrengende Reisen. Ich will nicht nur das Brüsseler Rathaus und das Manneken Pis mit eigenen Augen sehen, sondern auch das Straßburger Münster.“

      Er sprach mit jugendlicher Begeisterung. Tatsächlich wollte er sich nicht eingestehen, dass sein fortschreitendes Leiden ihn an der Verwirklichung seiner Reisepläne hindern könnte.

      „Nur bei Richard solltest du ein gutes Wort einlegen“, fügte er hinzu.

      „Wieso?“

      „Neulich hat er zu mir gesagt, dass er nicht mit uns mitfährt. Brüssel und Straßburg interessieren ihn angeblich nicht. So ein Quatsch! Er könnte dort studieren.“

      „Papa, noch hat Štěpán die Wahl nicht gewonnen, und Richard hat sein Abi noch nicht gemacht …“ Sie beendete den Satz nicht. Verdutzt starrte sie hinter dem Rücken ihres Schwiegervaters auf den offenen Schuhschrank. Da fehlte was. Aufmerksam ließ sie ihren Blick über die einzelnen Regalbretter schweifen, bis sie’s hatte: Richards Bergschuhe waren weg. In Prag trug er sie nie. Sollte er sie also mit zu Martin genommen haben, hieße das, dass sie zu einer Tour aufgebrochen waren.

      Sie holte einen Stuhl, stieg darauf und öffnete die Tür des oberen Stauraums. Sie erstarrte. Das Bauchkribbeln verwandelte sich in echten Schmerz. Jetzt konnte sie sich beim besten Willen nicht mehr einreden, dass alles gut war, es hatte keinen Zweck mehr, die Panik zu unterdrücken. Das Fach, wo das Zelt hätte sein sollen, war gähnend leer. Auch der große Rucksack fehlte. Und Richards Windjacke, die er sich für Kambodscha gekauft hatte. Das mit den Vermutungen hatte sich also erledigt. Die Jungs kurierten keinen Kater aus. Sie waren irgendwo hingefahren. Fragte sich nur, wohin. Die Geheimhaltungsstufe, die ausgeschalteten Telefone und die raffinierten Verschleierungsmanöver, mit denen sie ihre Abreise getarnt hatten, ließen nichts Gutes ahnen.

      „Russland hat seine gegen die Interessen der Tschechischen Republik gerichteten Aktivitäten ausgeweitet. Die Tätigkeit der russischen Geheimdienste hat zugenommen, es liegen ebenfalls Beweise für Cyberspionage und eine Hybridkampagne vor, mit der der Kreml versucht, die Euroskepsis zu stärken“, warnt der BIS. Einige unserer Politiker haben Zweifel an diesen Rückschlüssen. Mit diversen Bonmots wies auch der Staatspräsident die Warnungen des Inlandsgeheimdienstes zurück: „Dass Russland der Beelzebub ist, der Feuer und Schwefel speit, kleine Kinder frisst und vorhat, auch uns zu schlucken, ist ein altes, oft wiederholtes Ammenmärchen. Ich selbst habe es schon so oft gehört, dass es mir inzwischen vorkommt wie das Summen einer Mücke. Wir wissen alle, wenn sich eine aufdringliche Mücke nicht verjagen lässt, gibt es wirksamere Methoden, wie man sie loswird …“

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      Die Ermittlungsakte auf dem Tisch hatte abgewetzte Deckel und einen respektablen Umfang. Beide Kriminalpolizisten lenkten den Blick während ihrer Unterhaltung unbewusst dorthin.

      „Wie geht’s dir?“, fragte Kriminaldirektor Zdeněk Karoch.

      „Ach, lass das Theater.“

      Die abgemagerte Gestalt von Kriminalrat Miroslav Vačkář, der kahle Kopf, die eingefallenen Wangen und die blauen Flecken auf der Haut sprachen für sich.

      „Wann bist du dran?“

      „In einer Woche.“

      Es ging um die Immuntherapie. Nach den vorausgegangenen Behandlungsformen, die nur begrenzt angeschlagen hatten, sollte das ein weiterer Versuch sein, Vačkářs gestörte Blutbildung zu regenerieren.

      „Zieh’s nicht so in die Länge. Spätestens im Juni rechne ich wieder mit dir.“ Zdeněk kannte Vačkář gut genug, um zu wissen, dass es ihm lieber war, die Krankheit zu bagatellisieren, als Mitgefühl gezeigt zu kriegen. „Mirek, ich will dich zurückhaben, bevor alle anfangen, ihren Urlaub zu nehmen, klar?“

      „Du hast gut reden, du kennst die elende Mistsau nicht.“ Vačkář verzog das Gesicht. Den Namen „elende Mistsau“ hatte sich seine Leukämie zweifellos verdient, aber an der Verheerung, die sie anrichtete, änderte das nichts. Bei der letzten Untersuchung durch den Polizeiarzt war noch alles in bester Ordnung gewesen. Vačkář zog zuverlässig wie ein Packesel, man konnte ihm alles aufladen. Und das tat Zdeněk auch. Er schonte ihn nicht, denn er konnte ihn wirklich gut leiden. Denen, die er am liebsten mochte, verlangte er immer das Meiste ab.

      „Schon zweimal hat sie das Feld geräumt und ich hab mir, blöd wie ich bin, eingeredet, dass ich gewonnen hab, aber sie ist wiedergekommen.“

      „Diesmal vertreibst du sie.“

      „Das hoff ich sehr.“ Vačkářs Blick blieb an der voluminösen Akte hängen. „Ich hab die ganze Zeit geglaubt, dass ich das noch abgeschlossen kriege, eh ich mich in die Klinik leg, aber ich hab mich überschätzt. Das ärgert mich.“

      Dass es ihm seit letztem September nicht gelungen war, den Fall Arojan abzuschließen, war mehr als ein Grund zum Ärgern. Verursacht hatte das gar nicht so sehr seine Krankheit, sondern vielmehr seine Einstellung ihr gegenüber. Er log sich selbst und sein Umfeld an. Er gab vor, in besserer Verfassung zu sein, als er es tatsächlich war.

      „Ich hab mich überschätzt“, wiederholte er. „Tut mir leid.“

      Seine Zerknirschung und das Asche-aufs-Haupt-Streuen sorgten bei Zdeněk für ein schlechtes Gewissen. Er war sich sehr wohl bewusst, dass einen Teil der Schuld auch er trug. Das Morddezernat hatte über lange Zeit mit einem Mangel an Humankapital gekämpft; jedes Mal, wenn er mühsam wen ergattert hatte, verlor er sozusagen prompt jemand anderen, und der Leidensweg ging wieder von vorne los. Er wusste nicht, ob dies das Schicksal aller Chefs war oder ob es als sein persönlicher Fluch auf ihm lastete, aber er musste damit leben und unablässig nach neuen Auswegen suchen. Einige davon waren relativ unkonventionell. Den Einfall, mit dem Vačkář zu ihm gekommen war, fand Zdeněk anfangs an den Haaren herbeigezogen, aber nachdem er einige Tage darüber nachgedacht hatte, musste er zugeben, dass er keine bessere Alternative sah, und ließ sich darauf ein.

      „Die Alte macht das fertig“, sagte er.

      Hauptkommissarin Marta Alte war eine bewanderte Kriminalistin, aber bisher hatte sie fast ausschließlich in Fällen von häuslicher Gewalt ermittelt. Für diese sogenannten Hausschlachtungen hatte Zdeněk niemand Besseres. Der Mord an Arojan war allerdings ein anderes Kaliber und es war schwer zu sagen, wie sie damit zurande kommen würde. Sie war intelligent, außer an der Polizeiakademie hatte sie auch mal eine Zeitlang Psychologie an der Uni studiert, aber um ihr Wissen so richtig zur Geltung zu bringen, fehlte ihr das gewisse Etwas. Sie ließ Ambitionen vermissen, konnte nicht auf Risiko gehen, stach