zu werden.
Aus dem Augenwinkel sah er Martin. Der war auf seiner Position angekommen und machte ein Zeichen, dass er ihnen Deckung geben würde. Er war von ihnen allen der beste Schütze. Außerdem der schnellste Läufer. Und damit nicht genug, er konnte am besten Mädchen rumkriegen. Eigentlich brauchte er sich überhaupt nicht anzustrengen, sie rannten ihm auch ohne Rumkriegen nach, obwohl sie wussten, dass seine Mutter Lehrerin war, was ihn eindeutig hätte disqualifizieren müssen. Tat es aber nicht. Noch vor einem Jahr hatte Richard ihn um seinen Erfolg bei den Mädchen beneidet, jetzt nicht mehr. Jetzt hatte er selber die allerhübscheste Freundin: Veronika. An einer anderen hatte er kein Interesse. „Weißt du, dass es noch nie mit einem Jungen so war wie mit dir?“, hatte sie ihm letzten Sommer anvertraut (ein leicht heiserer Kontra-Alt, hinterm Ohr eine Margerite, ihre Augen so goldgrün wie das Gras, in dem sie lagen), und ehe er sich den Kopf zerbrechen konnte, wie viele von diesen Jungen es in ihrem Leben wohl gegeben hatte, fügte sie bedeutungsschwer hinzu: „In meinem Kämmerlein wirst du der Erste sein.“ Das Lachen blubberte zwischen ihren Schneidezähnen durch jene Lücke heraus, von der sie behauptete, dass sie total bescheuert aussehe und dass sie für sie als angehende Schauspielerin ein Nachteil sei. Richard fand das sexy. Beim Küssen ließ er seine Zunge dorthin gleiten, und immer, wenn er sich in Gedanken Veronikas Gesicht vorstellte, tauchte als Allererstes diese erregende Zahnlücke auf. Auch jetzt.
Sie erklommen den Sockel der Mühle, wo die Treppe losging. Der untere Teil fehlte. Lewan hängte sich die Flinte über die Schulter, schwang sich auf das Podest über seinem Kopf und stieg geduckt nach oben. Richard folgte ihm. An der Stelle, wo die Treppe abknickte, fiel sein Blick nach unten. Martin kauerte an dem Mäuerchen in Feuerposition und schaute durch eine Lücke, die durch herausgebröckelte Steine entstanden war. Als hätte er gespürt, dass Richard ihn ansah, hob er für einen Moment sein Gesicht und zog eine Grimasse. Er hatte davon ein endloses Arsenal, eine perverser als die andere.
Lewan griff nach der Schutzbrille, die ihm unterm Kinn hing, und setzte sie sich auf dem Weg nach oben auf. Richard tat dasselbe, obwohl er hoffte, dass er keinen Treffer abbekäme. Er war sich sicher, dass er sich auf Martins Deckung verlassen konnte. Sie kannten sich seit der sechsten Klasse und einer hatte den anderen noch nie im Stich gelassen. Sie waren auf derselben Wellenlänge. Nach dem Mord an Geworg hatte es keine Woche gedauert, und beide wussten, was ihnen bevorstand. Da gab es nichts zu diskutieren.
Richard fuhr mit der Hand in seine Innentasche, um sich zu überzeugen, dass er dort die zusammengefaltete Standarte hatte.
„Ich geb dir von da aus Deckung, Martin von unten. Deine einzige Aufgabe ist die Standarte. Halt dich nicht mit Schießen auf“, befahl Lewan und schaute nach unten. Martin machte mit Daumen und Zeigefinger ein Okay-Zeichen, legte aber die Hand sofort wieder an den Abzug.
„Lauf!“ Lewan gab das Signal und Richard rannte los. Vorsichtig balancierte er über die verwitterte Mauerkrone und versuchte, nicht abzurutschen. Dabei tauchte vor seinem inneren Auge Veronika auf. Sie ging vor ihm her, in ihrem Sommerkleid, unter dem sich deutlich die geigenförmigen Hüften abzeichneten, sie war barfuß und hatte die Haare auf dem Scheitel zusammengebunden, sodass man nicht nur ihr kleines Schwalben-Tattoo sah, sondern auch die feinen Härchen auf dem gebräunten Hals. Eine erregende Vision, die aber für diesen Moment absolut unpassend war. Schnell verscheuchte Richard sie wieder.
Er gelangte ans Ende der Mauer, ergriff einen verrosteten Träger und zog sich an ihm zum obersten Stockwerk hinauf, dem ehemaligen Dachboden. Praktisch war er am Ziel. Er hockte sich hin, hob den Blick – und erstarrte. Mit dem Rücken zu ihm kauerte dort jemand in einem nassen Tarnanzug, in der Hand hielt er eine Standarte und befestigte sie gerade am Schornstein. Von der anderen Seite bekam er vom Kommandeur der ersten Mannschaft Deckung. Adams Abwesenheit hatte also doch verhängnisvolle Folgen gehabt. Hätte er bei den Kiefern Wache geschoben, dann hätte er die erste Mannschaft nicht den Fluss überqueren lassen.
Richard durchströmte ein Gefühl von Bitterkeit. Es war so intensiv, dass ihm übel wurde. So ähnlich wie bei einem schlimmen Kater. Unwillkürlich schoss ihm durch den Kopf, dass die Niederlage in der simulierten Schlacht um die Mühle, die er mit Lewan und Martin gerade erlitten hatte, eine Warnung sein könnte. Vielleicht war das ein Vorzeichen dafür, wie es ihnen in den Schlachten ergehen würde, bei denen nicht mehr mit Plastikkugeln geschossen würde. Er zuckte weg, um aus dem Schussfeld zu kommen, aber zu spät. Er registrierte einen Treffer am Helm. Gleich danach noch einen, unterm Ohr. Trotz des Schutztuchs tat es höllisch weh.
„Adam, du Idiot“, zischte er wütend. In voller Lautstärke rief er dann: „Ich bin tot.“
Der heutige tschechische Nachwuchs ist verwöhnt, hat Angst vor harten Lebensbedingungen. „Ein Minimum an Anstrengung und Verantwortung, ein Maximum an Erlebnissen“, so das beunruhigende Ergebnis einer Umfrage unter Schülern der Oberstufe an Gymnasien und Sekundarschulen in 25 tschechischen Städten.
Aus einem Bericht des Meinungsforschungsinstituts Horizont
Alena hörte auf, den steifen Nacken ihres Schwiegervaters zu massieren, wischte sich die fettigen Hände an einer Serviette ab und ging ans Handy.
„Chytilová.“
Auch wenn sie sich ganz ruhig meldete, reagierte ihr Herz mit erhöhter Pulsfrequenz. Sie konnte nichts daran ändern. Schon seit achtzehn Jahren versuchte sie, diesen unangenehmen konditionierten Reflex loszuwerden, aber vergeblich. Eine unbekannte Telefonnummer löste jedes Mal die gleiche automatische Antwort ihres Organismus aus.
„Ich bin’s.“ Am anderen Ende war Hankas energische Stimme.
„Von wo rufst du denn an?“
„Aus dem Lehrerzimmer.“
„Schon zurück?“, wunderte sie sich. „Wann bist du wiedergekommen?“
„Vor ein paar Minuten.“
Hanka Formánková war eine langjährige Freundin von Alena und die Mutter von Richards bestem Freund. Sie unterrichtete an dem Gymnasium, das ihre beiden Söhne besuchten. Dass sie sofort nach der Rückkehr von ihrem Seminar anrief, geschah definitiv nicht nur aus Höflichkeit, da war sich Alena sicher.
„Ist was?“, fragte sie und ging mit dem Telefon ins Esszimmer nebenan.
„Das wüsst ich selber gerne. Richard und Martin sind heute nicht hier aufgetaucht.“
„Nicht? Aber Richard hat mich doch in der Pause angerufen …“
„Nicht von der Schule aus“, unterbrach Hanka sie.
„Das hat er aber behauptet.“
„Quatsch. Geschwänzt hat der. Genau wie Martin.“
„Warum sollten sie?“
„Wahrscheinlich haben sie was Interessanteres auf dem Programm“, tippte Hanka. Sie machte sich weder über ihren Sohn noch über irgendeinen anderen Angehörigen des männlichen Geschlechts die geringsten Illusionen.
„Richard hat heute früh vor zehn angerufen. Ich hab ihn gefragt, wie sein Englisch-Test ausgefallen ist, und er hat gesagt, gut.“
„Der hat überhaupt keinen geschrieben.“
Alena schaute auf den Wandkalender, der über dem Esstisch hing, und rekapitulierte in Gedanken: Heute war Montag. Am Freitag war Hanka nach Pilsen zu ihrem Methodikseminar gefahren und Richard hatte sich bei Martin einquartiert. Martins Vater war schon seit drei Wochen auf der Suche nach sich selbst, bei irgendeiner Zootechnikerin, und es sah nicht so aus, als ob er bald an den heimischen Herd zurückkehren würde. Die Jungs hatten beschlossen, die leere Wohnung der Formáneks zu nutzen, um sich in Ruhe auf die schriftlichen Abiprüfungen vorzubereiten.
„Ich hab bei Martin mehrere Nachrichten hinterlassen, aber er stellt sich tot. Ich hab den Verdacht …“ Hanka senkte ihre Stimme. Wahrscheinlich wollte sie nicht, dass irgendein anderer Lehrer sie hörte. „Vielleicht waren sie aus, sie haben’s übertrieben und jetzt müssen sie ausschlafen.“
Sie spielte auf die zurückliegende Phase übermäßigen Alkoholkonsums