Starrte nur auf den Schlüssel in ihrer Hand. Wie hypnotisiert ließ er sich in den Flur führen. Sie lauschte kurz an der Tür, dabei fiel ihr etwas ein.
»Bleib hier.« Sie rannte in die Küche, griff nach dem Stoffbeutel am Haken hinter der Tür. Dorthinein warf sie alles, was sie im Kühlschrank und im Regal fand. Es war nicht viel. Ein Stück Salami, eine kleine Packung Milch, ein Apfel, eine Packung Cracker. Mit einem Ohr nach draußen lauschend, durchsuchte sie danach den Schrank und die Schubladen nach Geld. Sie fand zwei 10-Euro-Scheine in einer Tasse und einen Fünfziger in einem alten Briefumschlag, auf dem jemand unter dem Wort »Einkäufe« Streichhölzer, Seife und Spülmittel notiert hatte.
Der Junge stand genauso an der Tür, wie sie ihn verlassen hatte. Er atmete durch den geöffneten Mund, seine Nase in dem tränenverschmierten Gesicht war rot vom Weinen. So konnte sie unmöglich mit ihm auf die Straße gehen.
Ich sollte ihn hierlassen. Der ist eh fertig.
Der Junge hob die Hand und fuhr damit unter der Nase entlang. Er sah sie an. Vertrauensvoll auf eine Weise, die sie berührte. Erneut ging sie zurück, dieses Mal ins Bad, um ein Handtuch zu holen. Als sie ihm das Gesicht abgewischt hatte, ließ sie es einfach zu Boden fallen.
Nun endlich drehte sie den Schlüssel im Schloss. Langsam zog sie die Tür der Wohnung auf. Bereit, innerhalb von Sekunden ihren Plan für diesen Tag aufzugeben, falls ausgerechnet jetzt jemand kommen würde. Draußen war es still. Sie trat in den Hausflur hinaus. Niemand zu sehen. Sie griff nach der Hand des Jungen, zog ihn mit sich. Sie nahmen die Treppe, hasteten hinunter. Erst, als sie auf der Straße standen, begann etwas in ihrem Magen zu rumoren. Angst. Wenn jetzt der Transporter angefahren käme. Die Männer sie hier sehen würden. Mit dem Jungen …
Schnell schob sie den Gedanken an die Konsequenzen weg. In aller Eile orientierte sie sich. Sie befanden sich in einer Siedlung, in der mehrere lang gestreckte, fünfgeschossige Häuser schräg zur Straße standen wie große Legosteine. Dazwischen ungepflegter Rasen, ein Sandkasten, eine Schaukel, Teppichstangen.
Der Himmel hing grau über ihnen, es nieselte und ein leichter Wind bauschte eine weggeworfene Zeitung auf.
Der Junge brummelte etwas, sie achtete nicht auf ihn, zog ihn über die Straße. Sie rannten zwischen zwei Häusern hindurch, bis sie zu einem Fußpfad kamen. Hier erst bemerkte sie, wie unpassend sie angezogen waren. Der Junge trug lediglich eine kurze Hose und ein T-Shirt, er hatte keine Jacke an und an den Füßen nur Socken. Sie selbst trug ein viel zu dünnes Kleid unter ihrer Strickjacke. Hektisch sah sie sich um. Wohin? Sie war so sehr darauf konzentriert gewesen, die Wohnung zu verlassen, dass sie sich über das weitere Vorgehen kaum Gedanken gemacht hatte. Ausgerechnet jetzt fing der blöde Junge wieder an zu weinen.
Gerda Bahlmann prüfte mit dem Finger die Erde ihrer Topfpflanzen. Noch feucht genug, sie stellte die Gießkanne zur Seite und blickte hinunter in den Durchgang zum Nachbarhaus. Ein dunkelhaariges, mageres Mädchen lief dort, vielleicht neun oder zehn Jahre alt. An der Hand hielt sie einen kleinen, blonden Jungen, der ein Stofftier hinter sich herschleifte. Die Nervosität, die die beiden ausstrahlten, erregte ihre Aufmerksamkeit. Ebenso die Kleidung. Beide waren nicht dem Wetter entsprechend angezogen. Trug der Junge überhaupt Schuhe? Sie schob die Brille etwas höher auf die Nase. Das Mädchen hatte es eilig, sie sah sich ständig um. Der Junge weinte. Er kam nicht richtig mit, stolperte. Verlor sein Spielzeugtier. Das Mädchen wollte weiter, aber der Kleine war bockig. Sie mussten zurück. Er umklammerte die Giraffe jetzt so fest, als wolle er sie erwürgen. Sie verschwanden hinter dem Nachbarhaus. Wohin sie wohl wollten, ohne Kopfbedeckung, ohne Schirm bei dem feuchten Wetter? Achteten denn Eltern heutzutage nicht mehr auf sowas? Die Rentnerin zuckte die Schultern. Sie wohnte schon lange in dieser Siedlung am Stadtrand von Heilbronn. Inzwischen zogen immer mehr merkwürdige Leute hierher, bald wunderte einen gar nichts mehr.
01
Lena Borowski schreckte schwer atmend aus einem Traum auf, der sich mit ihrem Erwachen in die Dunkelheit zurückzog wie ein verschrecktes Tier. Sie benötigte einen Moment, um sich darüber klar zu werden, wo sie sich befand. Sie war wieder zu Hause, in Offenbach, in ihrer eigenen Wohnung im Buchrainweg. Im Traum war sie woanders gewesen. Irgendeine Gefahr hatte ihren Körper in Aufruhr versetzt. Ihr Herz schlug heftig, ihr Mund war trocken. Sie tastete mit der Hand auf die andere Seite des Bettes. Sie war leer. Langsam hob sie die Beine aus dem Bett, setzte sich auf und starrte in das Halbdunkel des Schlafzimmers, bevor sie aufstand, um in die Küche zu gehen. Sie war durstig. An die Spüle gelehnt trank sie ein Glas Wasser. Der Tag sickerte durch die halbgeschlossenen Jalousien. Sie konnte sich noch nicht richtig entscheiden, ob sie wach bleiben oder ins Bett zurückkehren wollte.
Irgendwo klingelte ein Telefon. Es war der Klingelton ihres Diensthandys. Wo lag es nochmal? Ach ja, sie hatte es zum Aufladen eingestöpselt.
»Frau Borowski?« Eine Frau, kaum zu verstehen.
Die Nummer war unterdrückt.
»Wer ist dran? Ich kann Sie kaum hören.«
»Bitte …«, die Stimme am anderen Ende verschwand kurzzeitig, als habe die Anruferin eine Hand über das Gerät gelegt. Jemand hämmerte im Hintergrund gegen eine Tür.
»Frau Borowski«, die Frau klang heiser, als habe sie geweint oder geschrien oder beides. Sie redete noch gedämpfter als vorher. »Holen Sie Toby. Gleich jetzt. Bitte.«
Erneut wurde es im Hintergrund laut. Eine Männerstimme, die Worte konnte Lena nicht verstehen. Die Frau stieß einen undefinierbaren Ton aus.
Das Telefon wurde, den Geräuschen nach, weggelegt. Lena lauschte angestrengt.
»Zick nicht rum!«, schrie der Mann.
Die Frau antwortete ihm, offenbar durch eine geschlossene Tür, für Lena nur in Bruchstücken verständlich.
»… nicht Toby. Kannst ihn … Azul … überlegt … nicht mehr.«
Einige Augenblicke blieb es still.
»Hallo?«, flüsterte Lena in den Hörer. Sie war nun hellwach.
Die Stimme des Mannes im Hintergrund war nur noch ein kaum wahrnehmbares beruhigendes Murmeln. Die Frau schluchzte kurz auf.
»Schwöre es!«, hörte Lena sie sagen.
Die Antwort musste zu ihrer Zufriedenheit ausgefallen sein, denn nun kam sie an das Telefon zurück.
»Hat sich erledigt«, sagte sie leise. In ihrer Stimme schwang jetzt etwas anderes mit. Erleichterung?
»Vergessen Sie, dass ich angerufen habe.«
»Aber … wer?« Lena erhielt keine Antwort, die Verbindung war unterbrochen.
Stirnrunzelnd blickte sie auf den Apparat in ihrer Hand.
Toby. Welche der Familien, die sie als Sozialarbeiterin für den Landkreis Offenbach betreute, hatte ein Kind, das so hieß? Dass es um ein Kind ging, stand für sie außer Frage.
Das Mobiltelefon war inzwischen vollständig aufgeladen, sie zog den Stecker und legte es auf der Kommode ab. Ob die Frau noch einmal anrufen würde? Vorsichtshalber ließ sie das Handy auf Empfang geschaltet. Es war wohl ihrer Müdigkeit geschuldet, dass sie es vor dem Aufladen überhaupt eingeschaltet hatte. Im Büro würde sie erst am Montag wieder sein. Toby. Toby. Der Name sagte ihr etwas, aber noch bevor sie ihre Erinnerung klar schalten konnte, klingelte es an der Haustür.
»Fräulein Borowski!« Die Hausmeisterin stand vor ihr, einen Stapel Post in der Hand. »Habe ich doch richtig gehört.« Ein leiser Vorwurf schwang in diesen Worten mit.
»Frau Kasulke. Ich wäre nachher zu Ihnen runtergekommen. War zu müde nach dem langen Flug.« Lena lächelte. Ihr Gegenüber und sie waren sich über Jahre hinweg nicht gerade wohlgesonnen gewesen. Inzwischen hatte sich das geändert. Auch wenn sie beide keine Freundinnen waren, wusste sie doch, dass sie