bin ich nicht mehr da«, antwortete die Hausmeisterin ernst und überreichte Lena den Stapel. »Hab was zu erledigen.«
»Danke. Ich komm dann die Tage vorbei und erzähle Ihnen, wie es in Neuseeland war.«
Die Kasulke murmelte etwas, das sich wie »mal sehen« anhörte und trat den Weg ins Erdgeschoss an. Normalerweise hätte Lena sich gewundert darüber, dass die Andere den Weg in den dritten Stock angetreten hatte, im Haus gab es keinen Aufzug. Doch die Müdigkeit und die Zeitverschiebung führten dazu, dass ihr Kopf mit Watte gefüllt schien. Sie warf die Post auf die Kommode. Urplötzlich übermannte sie erneut die Müdigkeit und sie ging zurück ins Schlafzimmer.
»Nur noch ein paar Minuten«, dachte sie, bevor sie tief und fest einschlief.
02
Toby. Endlich wusste sie, mit wem sie gesprochen hatte. Es war vier Uhr früh, Sonntag. Sie hatte den restlichen Samstag komplett verschlafen.
Jetzt fühlte sie sich ausgeruht. Einen Moment lang blieb sie dennoch liegen. Ihr war kühl und das lag nicht an der frischen Morgenluft, die zum gekippten Fenster hereindrang.
Er hat sich nicht gemeldet.
Sie schüttelte den Gedanken ab, kehrte zu dem zurück, was ihr im Halbschlaf eingefallen war.
Toby. Tobias Kiewitz. Vier Jahre. Seine Mutter musste die Frau am Telefon gewesen sein. Angelika Kiewitz, alleinerziehend. Bezog seit Jahren Hartz IV. Lena hatte die kleine Familie betreut, als sie noch beim Jugendamt war. Seit ihrem Wechsel in eine Querschnittsabteilung war sie nicht mehr für sie zuständig. Trotzdem hatte die Frau sie angerufen.
Lena stand auf, duschte ausgiebig, kochte Kaffee und checkte ihr Handy. Frau Kiewitz hatte sich nicht mehr gemeldet. Sie würde frühestens morgen früh, wenn sie im Amt war, die Akte mit der Telefonnummer raussuchen können. Einen Moment überlegte sie. Vielleicht gab es ja noch einen Festnetzanschluss? Sie rief online das Dietzenbacher Telefonbuch auf und sah nach. Kein Eintrag. Verärgert warf sie ihr Handy auf den Tisch.
Etwas in der Stimme der Frau hatte sie alarmiert.
Es war inzwischen halb sechs. Viel zu früh, um jemandem einen Besuch abzustatten. Lena hockte sich mit ihrer Kaffeetasse in der Hand auf die Couch und kramte in ihrem Gedächtnis. Was wusste sie sonst noch über die Kiewitz? Tobys Vater war offiziell unbekannt. Angelikas Beziehungen hielten meist nicht lange. Gelegentlich stürzte sie total ab, jedes Mal spielte Alkohol dabei eine Rolle. Bei Lenas letzten Besuchen war jedoch deutlich geworden, dass die noch recht junge Frau versuchte, ihr Leben auf die Reihe zu kriegen. Sie war trocken, hielt die Wohnung in Ordnung und Toby hatte keinerlei Anzeichen von Verwahrlosung gezeigt. Lena dachte nach. Welche Kollegin war jetzt zuständig? Sieglinde Brohm, die Abteilungsleiterin, hatte die Fälle nach Lenas Versetzung neu verteilt, aber auch sie würde Lena erst am Montag fragen können.
Unruhig stand sie auf, lief durch die Wohnung. Ihr Blick blieb an dem Stapel Post hängen, den die Kasulke ihr gebracht hatte. Inmitten von Rechnungen und Werbung fand sie eine Ansichtskarte, die das Foto eines Feuersalamanders zeigte. Auf der Rückseite hatte jemand in ungelenken Großbuchstaben die Worte »Lena« und »Samantha« geschrieben, dazwischen war ein Herz gemalt. In der Erwachsenenschrift, mit der die Karte auch adressiert worden war, war hinzugefügt: »Liebe Frau Borowski. Uns allen geht es gut, Samantha fragt oft nach Ihnen. Kommen Sie uns mal wieder besuchen? Herzliche Grüße, B. Treutle.« Tatsächlich war es eine Weile her, seit Lena die kleine Samantha in ihrer neuen schwäbischen Heimat besucht hatte. Jedes Mal, wenn sie daran dachte, wie verwahrlost das Mädchen bei ihrer ersten Begegnung gewesen war, zog sich ihr Herz zusammen. Inzwischen hatten sich Samanthas Lebensumstände radikal verbessert. Jetzt ging es dem Mädchen bei ihren Adoptiveltern, einem liebevollen Ehepaar, gut. Sie lebte mit den Treutles und Max, einem anderen Adoptivkind der Familie, in einem Einfamilienhaus mit großem Garten in einer ruhigen Kleinstadt. Ein Umstand, den sie einem Deal verdankte, den Lena damals eingefädelt hatte. Gegen etliche Widerstände. Aber das war egal. Das Ergebnis zählte.
Sie nahm die Karte mit ins Wohnzimmer, um sie ins Bücherregal zu stellen. Der Feuersalamander gab ein gutes Bild ab.
Noch immer war es zu früh, um nach Dietzenbach zu fahren. Wo hatte Frau Kiewitz gewohnt? In einem der Hochhäuser, aber die genaue Anschrift wusste Lena aus dem Gedächtnis nicht. Zu viele Klienten, es war unmöglich, sich alles zu merken. Sie würde vor Ort nachsehen. Zuständigkeit hin oder her.
03
Das Dietzenbacher östliche Spessartviertel war weit über die Stadtgrenzen hinaus als Brennpunktgebiet bekannt. Man hatte die Großwohnsiedlung, die früher Starkenburgring hieß, vor Jahren umbenannt. Unter anderem, um Menschen mit diesen negativ behafteten Wohnadressen bessere Chancen einzuräumen. Faktisch waren die fünf Hochhäuser, zwischen neun und siebzehn Stockwerken hoch, noch immer ein breit gestreutes Betätigungsfeld für Sozialarbeiter. Doch seit Anfang der Nullerjahre ein Konzept zur Verbesserung der Wohnbedingungen umgesetzt worden war, hatte sich vieles verändert. Lena profitierte jetzt davon, dass die einst dauerbeschädigten und wenig aussagekräftigen Klingelanlagen neu gestaltet waren. Bereits im Eingangsbereich des zweiten Hauses, das sie betrat, entdeckte sie im siebten Stock den Namen »A. Kiewitz«. Sie legte den Finger auf den Klingelknopf und wartete. Nichts geschah. Es war kurz vor neun Uhr morgens an einem Sonntag. Nicht ausgeschlossen, dass dort oben noch alle in ihren Betten lagen. Dennoch ließ Lenas Nervosität nicht zu, dass sie ihr Hiersein in Frage stellte. Erneut klingelte sie. Auch dieses Mal umsonst. Ihr Blick wanderte über die Klingelreihe des ganzen Stockwerks. Leise schlug die Erinnerung an, als sie den Namen Buckpesch las. Sie wusste sofort, dass sie die Leute kannte. Gleichzeitig aber auch, dass das keine Klienten von ihr waren. Dennoch klingelte sie nun genau dort.
»Hallo?« Eine brüchig klingende Frauenstimme.
Lena nannte ihren Namen und stellte sich, nach kurzem Zögern, der Einfachheit halber als Mitarbeiterin des Jugendamtes vor. Frau Buckpesch stellte keine weiteren Fragen, sondern betätigte den Türöffner. Sie stand an der Wohnungstür, als Lena wenig später aus dem Lift in den Flur trat. Der ähnelte einem langen dunklen Tunnel, in den kaum Tageslicht fiel. Frau Buckpesch war eine zierliche Person, deren blasses Gesicht mit der kurzen spitzen Nase und den großen grauen Augen in der spärlichen Beleuchtung an ein Kind erinnerte. Erst wenn man näherkam, das Netz an feinen Falten, die pergamentartige Beschaffenheit der Haut und den unendlich müden Blick erkennen konnte, ahnte man ihr tatsächliches Alter.
»Frau Borowski«, sagte sie nur. Sie hielt die Tür fest, als sei sie ein Schutzwall gegen Bedrohungen von außen. Bereit, sie sofort zu schließen, sollte etwas Unvorhergesehenes geschehen. Und jetzt fiel es Lena wieder ein.
»Wie geht es Ihrer Enkelin?«, fragte sie. Sie selbst war es gewesen, die Carolin Buckpesch eines Tages halb tot in ihrer Wohnung gefunden hatte, der prügelnde Freund saß im Wohnzimmer und sah ungerührt fern.
»Seit Sie sie da rausgeholt und ihr eine Wohnung besorgt haben, wieder gut.« Die ältere Frau lächelte leicht. Betreten blickte Lena auf ein verfärbtes und unvollständiges Gebiss.
Ihr Gegenüber bemerkte den Blick und senkte beschämt den Kopf.
Lena kannte Magda Buckpesch und ihren Mann Roger nur flüchtig. Sie wusste, dass der Mann wegen mehrerer schwerer Einbrüche vorbestraft war. Vor vielen Jahren hatte er sich aus der Kriminalität verabschiedet, aber im normalen Leben nie wirklich Fuß gefasst. Inzwischen bezogen die beiden Rente, die jedoch bei weitem nicht ausreichte. Daher blieben sie zusätzlich auf Sozialleistungen angewiesen. Mit diesem Hintergrund war es ihnen unmöglich, hier wegzuziehen.
»Auf ewig verdammt«, hatte es Magda damals genannt. Ein kurzes Zulassen von Verbitterung. Lena wusste, dass sich die kleine Frau seit Jahren trotz aller Nackenschläge mit einer bewundernswerten Zähigkeit durchs Leben kämpfte.
»Frau Kiewitz hat mich angerufen und gebeten, vorbeizukommen. Leider öffnet niemand.«
»Oh. Die sind gestern in Urlaub gefahren«, murmelte Frau Buckpesch. Hinter ihr tauchte