Borowski, wir alle stehen hinter Ihnen. Die Kripo wird Sie womöglich befragen. Wir als Behörde sind jedoch aufgefordert, die Sache intern zu klären. Bis dahin sind Sie vom Dienst suspendiert. In Ihrem eigenen Interesse. Und selbstverständlich nach Rücksprache mit dem Betriebsrat, der der Maßnahme zugestimmt hat.«
Die Worte hallten nach wie ein viel zu lauter Gong, der in ihrem Kopf geschlagen wurde.
Sie sah von Leiß, der sichtlich bemüht war, die Sache so sachlich wie geschmeidig rüberzubringen, zu Carola Bergmann, die sie aufmerksam musterte. Was sie dachte, konnte Lena noch nicht einmal erahnen. Bei Marianne Maibaum verhielt sich das anders. Blanker Hass leuchtete aus den Augen der Dezernentin.
Die rächt sich jetzt an dir für das, was du ihr vor Kurzem zerschossen hast.
Doch keinesfalls wollte Lena eine solche Behandlung klaglos hinnehmen.
»Als ich sie zuletzt gesehen habe, hatte Angelika Kiewitz ihr Leben wieder im Griff. Doch seit meiner Versetzung gehörten sie und ihr Sohn nicht mehr zu meinen Klienten.«
Leiß blickte stirnrunzelnd zur Maibaum, die Lenas Worte mit einer leichten Handbewegung abtat. Erst jetzt sah Lena, dass die Finger der Dezernentin auf der Fallakte lagen.
»Schauen Sie nach!«, forderte sie die Politikerin auf.
Carola Bergmann blickte nun ebenfalls auf die Akte. Nachdenklich, wie Lena schien. Sie sagte jedoch nichts.
»Das werden wir tun. Wie gesagt, wir klären das. Nicht Sie. Wir stehen momentan im Fokus, es ist die Kreisverwaltung, mein Dezernat, das Jugendamt.« Marianne Maibaum erhob sich zum Zeichen, dass sie das Gespräch als beendet betrachtete. Leiß und die Bergmann taten es ihr gleich. Lena schnappte empört nach Luft. »So geht das aber nicht! Sie können mich nicht einfach zur Seite schieben. Eine Suspendierung kommt einem Urteil gleich …«
»Frau Borowski. Wir haben uns das gut überlegt. Es ist momentan der einzig denkbare Weg.« Die Bergmann hatte sie unterbrochen. Nicht unfreundlich, aber bestimmt. »Sobald wir klarer sehen, reden wir weiter.«
Keine Chance, die Sache noch zu drehen.
»Wir melden uns, falls es Neuigkeiten gibt.« Leiß reichte ihr als einziger die Hand.
Wie betäubt verließ Lena das Büro der Politikerin. Sie rannte die Treppe hinunter. Dann stand sie vor dem grauen Gebäude, immer noch wie vor den Kopf geschlagen. Sie war total durcheinander. Wohin sollte sie sich wenden? Zurück an ihren Schreibtisch, das war ihr untersagt worden. Sie wusste, dass Norbert Müller sehr genau darauf achten würde, dass sie dieses Verbot einhielt. Und hier im Haus gab es für sie nichts mehr zu tun.
Wir heben die Suspendierung sofort wieder auf, sollte sich der Fall zu Ihren Gunsten klären, hatte der Personalchef ihr versichert, nachdem er ihre Schlüssel und das Diensthandy an sich genommen hatte. Lena fühlte sich, als habe man ihr einen Teil ihrer Identität geraubt. Sollte sie jetzt einfach nach Hause fahren? Während man hier so tat, als trüge sie die Schuld oder zumindest eine Mitschuld an dem, was geschehen war? Wut erfasste sie. Am liebsten hätte sie gegen irgendetwas getreten. Nur, dass das auch nichts geändert hätte. Genauso wenig wie an ihrem permanent schlechten Gewissen. Hatte Angelika Kiewitz noch gelebt, als sie am Vortag vor ihrer Tür stand? Sie ging noch einmal die Optionen durch, die sie gehabt hatte. Doch genau wie am Sonntag kam sie zum Ergebnis, dass es keinerlei Handhabe für sie gegeben hätte, die Polizei zu rufen. Die hätte ganz sicher keine Wohnung aufgebrochen, deren Bewohner laut Auskunft der Nachbarn in Urlaub gefahren waren.
Lena wusste, dass ein Blick in die Akte die Sache klären würde. Nur, dass die Maibaum genau das verhindert hatte. Mit Argumenten, die Lena nur bedingt akzeptieren konnte. Während sie ziellos durch die Straßen lief, lächelte ihr die Maibaum mehrfach von Plakatwänden entgegen. Genauso wie der amtierende Landrat Hans-Joachim Söder. Die beiden würden sich in den kommenden Wochen bis zur Landratswahl ein heißes Gefecht liefern. Die Maibaum wollte unbedingt Söders Stuhl. Da war es für die ehrgeizige Politikerin fast ein Super-Gau gewesen, als zwei Monate zuvor eines ihrer geplanten Vorzeigeprojekte im Sozialbereich den Bach runterging, nachdem brisante Details zu Betrügereien durch den von ihr ausgesuchten Geschäftspartner ans Licht gekommen waren. Sie verdächtigte Lena, etwas damit zu tun zu haben. Das kam nicht von ungefähr. Doch sie konnte ihr nichts nachweisen. Jetzt würde sie versuchen, es ihr auf andere Weise heimzuzahlen.
Die Fäuste tief in den Taschen ihrer Lederjacke vergraben, lief Lena eine Weile ziellos umher. Dann wusste sie, was zu tun war. Sie drehte auf dem Absatz um, und schlug den Weg zu den Hochhäusern des Spessartviertels ein.
06
»Sie schon wieder!« Herr Buckpesch klang nicht erfreut.
»Ach, Frau Borowski«, piepste seine Frau und drängelte sich an ihm vorbei zur Tür. »Kommen Sie rein. Ich habe gerade frischen Kaffee aufgesetzt.«
Lena ignorierte den unwilligen Blick des Mannes und folgte seiner Frau in die Wohnung. Klein war sie und vollgestopft mit Möbeln, die mehr Raum benötigt hätten. Aber alles war picobello, sauber und wesentlich aufgeräumter als Lenas eigene Wohnung.
»Sie kommen sicher wegen Angelika«, begann die ältere Frau das Gespräch, kaum dass sie das Wohnzimmer betreten hatten.
Lena ließ sich auf ein geblümtes Sofa sinken. »Es lässt mir einfach keine Ruhe.«
Frau Buckpesch nickte, sie sah traurig aus. »Wir machen uns ebenfalls Vorwürfe. Aber wir haben die Nachbarn doch gehört. Sie haben am Samstagabend das Haus verlassen. Angelika hatte den Urlaub angekündigt. Gefreut hat sie sich. Ein bisschen im Meer baden, das täte Toby ganz gut. Und sie wollte mal was anderes sehen als immer nur das hier.« Sie unterstrich ihre Worte mit einer vielsagenden Geste. »Ihr Freund hat ihr die Reise spendiert, erzählte sie mir. Sie selbst hatte ja kein Geld. Die Streitereien …«, sie zog die Schultern hoch und ließ sie wieder fallen, »die waren doch an der Tagesordnung.«
»Kennen Sie den Mann, mit dem Ihre Nachbarin zusammen war?« Lena hatte nachgerechnet. Sie war fast ein dreiviertel Jahr nicht mehr zuständig für Frau Kiewitz. Damals war die Frau Single gewesen.
»Hm«, machte ihr Gegenüber und warf einen unsicheren Blick zu ihrem Mann hinüber.
»Wir wollen in nichts hineingezogen werden«, brummte der. Eine betretene Stille trat ein, die durch die Türklingel durchbrochen wurde. Herr Buckpesch verschwand und zog die Tür bis auf einen Spalt hinter sich zu.
»Frau Buckpesch, ich brauche Ihre Hilfe«, sagte Lena leise. »Wie Sie wissen, war ich einige Jahre die zuständige Sozialarbeiterin im Jugendamt. Jetzt ist ein kleiner Junge tot, dessen Mutter mich kurz zuvor noch angerufen hat und ich habe keine Ahnung, was genau geschehen ist.« Sie blickte kurz zur Tür, von draußen war lebhaftes Gemurmel zu hören.
»Man hat mich vom Dienst suspendiert.«
»Ach herrje!« Frau Buckpesch hob die Pergamenthände an den Mund und sah Lena mitfühlend an. »Aber Sie können doch nichts dafür.«
»Leider ist die Situation im Moment etwas unübersichtlich.«
Herrn Buckpeschs Stimme hob sich, offensichtlich war er verärgert.
»Der Freund, er hatte ebenfalls ein Kind«, flüsterte die ältere Frau nun hastig. »Auch ein kleiner Junge, ungefähr in Tobys Alter. Das hat mir Angelika erzählt. Der Mann selbst war eher unauffällig. Aber er fuhr ein großes Auto. Einen Chevrolet, sagt mein Mann.«
Der schlug nun gerade draußen jemandem lautstark die Tür vor der Nase zu.
»Reporterpack!«, schimpfte er verärgert, als er zurück ins Zimmer kam. »Wollten mich doch tatsächlich über unsere Nachbarin ausquetschen.«
Er ließ sich in den Sessel neben dem seiner Frau fallen und musterte Lena auf einmal neugierig. »Die Kerle wollten wissen, ob das Jugendamt sich um die Familie gekümmert hat.«
Lena schloss kurz die Augen. »Woher wissen die denn schon Bescheid?« Sie selbst hatte