Beide Jungs waren inzwischen im Kindergarten. Robert ließ sich öfter mal sehen. Er hatte sich äußerlich etwas verändert. Seine Haare trug er kürzer und er war kräftiger geworden. Er war innerhalb Hannovers umgezogen und studierte jetzt Medizin. Wenn Partys gefeiert wurden, war Robert jedes Mal anwesend. Henry und er liebten sich nicht gerade tief und innig, kamen aber miteinander aus. Robert lieh sich immer noch meinen Käfer, was für Henry das Allerletzte war. »Frauen und Autos verleiht man nicht«, pflegte er dann zu sagen, aber ich ließ mich davon nicht beirren.
Der Urlaub in diesem Sommer war das Schönste gewesen, was ich jemals mit einem Mann zusammen erlebt hatte. Wir waren drei Wochen lang mit den Kindern in der Bretagne unterwegs gewesen. So eine schöne und intensive Zeit mit Henry und den Kindern zu verleben, war das Größte. Der Strand. Das Meer. Wir hatten mit dem Bus direkt am Strand gestanden. An diesen Stränden war es völlig normal, nur in einem kleinen Höschen herumzulaufen. Die Nächte, die wir wegen der Kinder auf einer Decke vor dem Bus verbrachten, oder im Sand. Ich war total und absolut in Henry verliebt und fühlte mich längst völlig in ihm zu Hause. Ich war verblüfft, was er alles kann, sogar Gitarre spielen und wunderbar rau dazu singen. Auf Morgenstern ritt er umher, als wäre er auf einem Pferd zur Welt gekommen. Leider konnte er mit Eva nicht sehr viel anfangen. Wollte er auch nicht, sie war ihm als Mensch zu kompliziert. Onkel Ernst-Walters Person ging ihm nach eigener Aussage »total am Arsch vorbei« und er bezeichnete ihn als »dekadenten Volltrottel«. Was Henry nie beherrschte, waren die Zwischentöne. Er war absolut kein Diplomat. Ungehobelt wäre die falsche Bezeichnung für ihn gewesen. Er war ein Raubein. Und auch kein Schmeichler. Nicht jeder kam mit ihm zurecht, aber Niclas und Daniel liebten ihn. Die Jugendlichen, mit denen er beruflich zu tun hatte, mochten seine direkte, schnörkellose Art und dass er ihre Sprache sprach, dafür brauchte er sich nicht verstellen.
Kapitel 10
Ich hätte mich für den Fehler selbst ohrfeigen können, aber ich musste ihn ja unbedingt überreden, mir seine Eltern vorzustellen. Wir waren mit den Kindern ganz früh morgens losgefahren, die Eltern wohnten in der Nähe von Stuttgart. Die Mutter war eine kleine, freundliche, runde Person, die sofort auf Henry zuging und ihn herzte und küsste, ebenso tat sie es mit ihrem Enkel Daniel, den sie noch nie gesehen hatte. Henrys jüngerer Bruder Emmes, der draußen auf dem Hof seinen Manta reparierte, begrüßte uns nur mit einem »Hallo!« Er machte gar keine Anstalten, wegen des Besuches die Arbeit zu unterbrechen. Ich erschrak, als ich erfuhr, dass Henry seine Familie seit zehn Jahren, seit er siebzehn war, nicht mehr gesehen hatte. Es musste ein riesiger Bauernhof sein, auf dem wir waren, und ich fand mich komplett unpassend angezogen in meinem engen, schwarzen Minikleid und den Sandalen mit Pfennigabsätzen. Nirgends waren Tiere zu sehen, alles wirkte auf mich, als befände ich mich auf einem Fabrikgelände. Zwischen Henry und seinem Vater herrschte eine eisige Atmosphäre. Auch zu mir und den Kindern war der stur wirkende Endfünfziger eher abweisend. Henry führte mich in eines der ›Fabrikgebäude‹ und sagte mit tränenerstickter Stimme: »Sieh es dir genau an. Weißt du jetzt, warum ich kein Fleisch esse und warum ich hier wegmusste?«
Es war wirklich ein grausiger Anblick, wie Rinder, eingeklemmt zwischen Stangen, sodass jede Bewegung unmöglich war, reihenweise in diesen Hallen standen. Jedes Eckchen, jeder Meter war ausgenutzt.
Henry brachte die Kinder und mich in die Küche zu seiner Mutter. Wir unterhielten uns über die Herstellung von Käsekuchen und sprachen über die Kinder. Henry war mit seinem Vater nach draußen gegangen.
Von dem Gespräch erfuhr ich erst später im Bus auf der Heimfahrt, nachdem Henry uns zum Aufbruch getrieben hatte. Ich war noch nicht mal dazu gekommen, mein viertes Stück Käsekuchen aufzuessen und mich von Henrys weinender Mutter zu verabschieden.
»Was war los?«, fragte ich.
»Weißt du, was der Sack mich nach zehn Jahren als erstes fragt? Ausgerechnet er. Wo hast du eigentlich diese Schlampe her? In welchem Nachtclub hat die denn vorher die Männer bezirzt? Er meint dich, Emi.«
»Und was hast du gesagt?«
»Ich fragte ihn, wie er auf so was kommt. Er daraufhin: Dafür habe ich einen Blick. Das glaube ich ihm. Ich habe ihn dann auch gefragt, ob er den Sex, den er braucht, immer noch im Puff sucht und ein Bild von Mutter mit Heiligenschein überm Bett hängen hat. Sie war immer nur für die Kinder da, obwohl, du hast das Kind ja gesehen, meinen Bruder, den Proll. Er kotzt mich an, mein Alter. Wir hatten mal einen richtigen Bauernhof mit allen Arten von Tieren. Ich habe meine Arbeitskraft und mein Herzblut da reingesteckt und war traurig, als mich meine Eltern für ein Jahr nach Amerika geschickt haben. Angeblich wegen der Bildung. Damals war ich fünfzehn. Als ich wieder kam, waren alle Tiere weg und mein Vater hatte diese Fleischzucht aufgemacht. Meine Träume waren weg, meine Pferde. Verstehst du, alles. Für mich zählt nur noch, was wirklich ist, und jetzt will ich nichts mehr davon hören.«
Mein Gott, der arme Henry. Ich konnte es nicht fassen. Und wie knallhart er war. Ein toller Typ.
»Sehe ich eigentlich nuttig aus, oder wie kommt dein Vater auf so was?«, fragte ich.
»Du siehst völlig in Ordnung aus«, sagte er, »vielleicht würde dir etwas mehr Farbe ganz guttun. Aber ich mag es auch ganz gern, wenn Frauen eine etwas verruchte Ausstrahlung haben.«
Verrucht? War es das? Wirkte ich so auf die Männer?
»Erinnere mich nicht mehr an meine Eltern und erschlag mich bitte rechtzeitig, wenn ich so werden sollte wie mein Vater!«, sagte Henry, bevor wir ausstiegen und die schlafenden Kinder in die Wohnung trugen.
Kapitel 11
Es war einer dieser bewölkten, verschleierten Tage, als ich mit den Kindern und den drei Hunden auf dem ›Autoschrauberplatz‹ stand, der zum Jugendzentrum gehörte, und auf Robert wartete, der sich mal wieder meinen Käfer ausgeliehen hatte. Selbst bei Regen bot das große Dach über einem Teil des Platzes mehreren Fahrzeugen und Personen genügend Unterstellmöglichkeit. An diesem Tag waren Henry, Bernd und einige Jugendliche trotz des miesen Wetters schon seit Mittag hier.
»Siehst du!«, meinte Henry, nach einer geschlagenen Stunde, »auf dein Auto kannst du lange warten, warum verleihst du die Kiste.«
Wir vernahmen das Klappern und Scheppern schon lange, bevor wir das Auto um die Straßenecke biegen sahen. Ich traute meinen Augen nicht. Der Käfer war völlig verbeult. Der Radkasten rechts über dem Vorderreifen schliff auf dem selbigen. Die Stoßstange war noch nicht ganz abgefallen und erzeugte einen Ton von Blech auf Kopfsteinpflaster, immer wenn sie auf die Erde schlug.
Robert bremste scharf, riss die Autotür auf, sprang aus dem Auto raus und rannte wie ein Wahnsinniger auf der Straße umher. Wir waren inzwischen alle auf die Straße geeilt, um uns das Schauspiel anzusehen. Roberts irrer Blick wechselte von einem zum anderen.
»Emi, kannst du dich noch an die Löwen vor ihrem Haus erinnern?! Na denen hab ich erst mal das Grinsen wegrasiert! Ich hab es ihr gezeigt, Emi!«
Robert brüllte und tobte wie von Sinnen. Ich dachte in dem Augenblick nicht an meinen Käfer, als ich in lautes Gelächter ausbrach. Robert prustete auch los. Nachdem wir eine Weile beide lachend umhergesprungen waren, fielen wir uns schließlich um den Hals.
»Ihr seid ja völlig irre!«, schrie Henry. Er trat so kräftig gegen meinen Käfer, dass die Stoßstange gleich abflog. »Ich mach da gar nichts dran!«, brüllte er, »der, der ihn in ‘n Arsch gefahren hat, soll ihn gefälligst wieder in Ordnung bringen!«
Was so was anbetraf, hatte Robert nun mal zwei linke Hände. Er hatte es nie gelernt, auf diesem Gebiet praktisch zu sein. Solche Leute wie er standen nicht gerade hoch in Henrys Gunst. Wer kein Auto reparieren konnte, war für ihn ein Schwachmat. Als Krönung des Ganzen zog Robert einen Hundert-Mark-Schein aus der Tasche und hielt ihn einem herumstehenden Jugendlichen hin, der natürlich sofort zugriff.
»Einmal ausbeulen!«, sagte