früher als ›Rückzugsdomizil‹, wie Onkel Ernst-Walter es nannte, gedient hatten. Von dem alten Gemäuer war ich schon immer fasziniert gewesen.
Ich blickte zur Uhr. Kurz nach Mitternacht. Henry schlief neben mir. Noch völlig eingenommen von dem Traum, sah ich nach den Kindern, auch sie schliefen alle vier tief und fest. Später saß ich mit den Hunden unten in dem kleinen Gärtchen hinter dem Haus, als Henry kam und mich liebevoll in den Arm nahm.
»Hast du mal wieder schlecht geträumt?«, fragte er.
»Ich glaube, Eva ist in Gefahr.«
»Du kannst dich im Augenblick nicht um alles kümmern.«
Zwei Wochen später fand diese Party bei uns statt, auf die ich mich so gefreut hatte. Aber es verlief mal wieder nicht wie geplant. Meine Eltern konnten die Kinder nicht nehmen, und so hielten die Kleinen Helga und mich den ganzen Abend auf Trab. Robert unterhielt sich angeregt mit Eva, die dann mit ihm im Piratenzimmer verschwand, um ihm die Fotokopien der Briefe zu zeigen, die sie in einem verschließbaren Aktenkoffer mitgebracht hatte. Robert war hochinteressiert und sah sich alles ganz genau an, auch die Fotos von Tante Doro. Henry trank viel und spielte wunderschön Gitarre, seine raue Stimme wirkte wie ein Aphrodisiakum auf mich. Später, als die Kinder endlich schliefen, tanzte er wieder nur mit Gabi. Noch nicht mal an so einem Abend konnte er mir zeigen, dass ich – und nur ich – ihm wichtig war. Er kam gegen Morgen ins Bett und schlief sofort ein, während ich in die Kissen weinte.
Kapitel 15
In den vergangenen Wochen und Monaten war mir bewusst geworden, was es heißt, eine Mutter von vier Kindern zu sein. Auch finanziell merkten wir, dass Henry der einzige Verdiener war und die Familie sich vergrößert hatte. Trotzdem hatten wir uns einen Urlaub mit Bus und Zelt an der französischen Mittelmeerküste geleistet. Wir mussten die Ferienzeit nutzen, denn Daniel wurde in diesem Jahr eingeschult. Niclas fand das saublöd, beneidete seinen Bruder und ging nicht mehr gern in den Kindergarten. Kim, die Frühstarterin, konnte schon längst laufen, während Linda, immer noch zaghaft, am liebsten auf allen vieren kroch. Henry brauste auf seinem Motorrad umher, tat aber sonst alles für die Familie, was er neben der Arbeit ermöglichen konnte. Und das war eine Menge. Er hatte mit Bernd für Eva den Umzug nach Berlin gemacht, bei dem ich zu gern dabei gewesen wäre, aber ich fand ausgerechnet an dem Tag niemanden für die Kinder.
Ab und zu kam Eva vorbei und wir fuhren zu Morgenstern. Eva sah hinreißend hübsch aus, war gut drauf und hatte mir bei ihrem letzten Besuch mitgeteilt, sie hätte jetzt einen Freund. Ich platzte fast vor Neugierde.
»Wer ist es? Wie sieht er aus?«
»Er sieht wahnsinnig gut aus«, schwärmte Eva, »er ist gebildet, lieb, interessant, witzig, einfach alles. Er hat wirklich alles, was ich mir nur wünsche, was ein Mann haben muss. Er ist großartig.«
»Hast du ein Foto von ihm?«
»Ich verspreche dir, du wirst ihn kennenlernen.«
Mit der Aussage gab ich mich nicht zufrieden, sondern bohrte immer weiter. Endlich hatte ich Eva weichgekocht.
»Mein Vater braucht nicht zu wissen, wer er ist, aber du kennst ihn schon. Du kannst dich doch noch an den süßen Justiziar erinnern, der vor ein paar Jahren bei Emmerich und Partner hospitiert hat. Weißt du noch, wie du für den geschwärmt hast? Weißt du, diesen Schönen, den du so geil gefunden hast.«
Ach, ich wusste…! »Du meinst doch nicht etwa Gerd Blusel, oder?«
»Blümel«, verbesserte Eva mich, »genau der.«
»Der ist doch verheiratet und hat Kinder.«
»Die Ehe ist längst kaputt. Ich traf ihn zufällig am Campus. Er hält ab und zu Vorlesungen an der Uni. Wir werden im Herbst zusammen nach Teneriffa fliegen. Ich freue mich schon wahnsinnig.«
Unser Tag begann relativ früh, dann war Kim wach. Linda musste meist geweckt werden, weil sie eine kleine Langschläferin war. Dann weckten wir gemeinsam die Jungs. Henry und ich machten die Kinder jeden Morgen zusammen fertig und wir frühstückten dann auch gemeinsam. Henry sagte, dass ihm etwas fehlen würde, wenn er nicht wenigstens die Mahlzeiten im Kreis seiner Familie einnehmen könnte. So was würde ihn fit machen für die ganzen stressigen Geschichten, die noch so im Laufe des Tages auf ihn zukämen. Mir fiel dazu nur ein, dass ich es ja meist war, die mittags das Essen kochte. So war es inzwischen. Für die Kinder nahmen wir uns immer Zeit, aber wir fanden kaum noch Zeit füreinander.
Es gibt Zufälle, die gibt es eigentlich gar nicht. Wie an jedem Tag nach dem Frühstück war ich losgezogen. Mit Kim und Linda in der Zwillingskarre, dem ständig knörenden Niclas und Daniel, dem Erstklässler. Die Hunde liefen ohne Leine nebenher oder vorweg, je nach Temperament. Erst gab ich Daniel in der Grundschule ab, dann brachte ich Niclas in den Kindergarten. Natürlich brüllte er und wollte nicht dableiben. Danach war mir meist nach einem Kaffee. Am Bahnhof war das einzige Café, wo man mit der Zwillingskarre und den Hunden …
Gerade hatte ich den Blick zur Seite schweifen lassen, als ich ihn sah. Dasselbe charmante Lächeln, denselben leicht frivolen Gesichtsausdruck wie damals, als ich als junger Teenie mal für ihn geschwärmt hatte: Gerd Blümel!
»Ist die Welt klein!«, rief ich. Er kam an meinen Tisch. »Ausgerechnet dich treffe ich heute hier.«
Offensichtlich freute er sich, mich zu sehen, verstand aber nicht so recht, warum ich mich ausgerechnet über ihn so freute. »Du gehörst doch jetzt bald zur Familie«, sagte ich und ärgerte mich augenblicklich. Wie konnte ich so was Blödes sagen?
»Wie, habe ich was verpasst?«, fragte Gerd.
Mir wurde heiß, und ich lief rot an.
»Na, du und Eva.«
»Wie geht es der Kleinen eigentlich? Dieser armen kleinen Piepmaus mit den exzentrischen Eltern.«
»Ihre Mutter ist tot und ich dachte, du hättest Eva…« Hastig verschluckte ich den Rest des Satzes. »Was… was… machst du so?«, stotterte ich verlegen.
»Wir sind jetzt von Hannover nach Kassel gezogen. Wir haben inzwischen auch zwei Kinder, so wie du. Ich bin ab und zu hier, weil ich meinen Vater in Schaumburg im Altenheim besuche. Meist fahre ich mit dem Auto, aber mit dem Zug ist es entspannter.« Er zeigte auf die Zwillingskarre. »Du weißt doch, wie es ist, mit so kleinen Nervensägen. Da sehnst du dich nach Augenblicken der Entspannung.« Er sah auf die Uhr und trank hastig seinen Kaffee aus. »Schön, dich mal gesehen zu haben, Emilia. Viel Glück für dich. Bist du verheiratet?«
Ich nickte.
»Na denn.«
Er eilte in Richtung Gleise. Nicht, dass ich unbedingt geschockt war, aber schon etwas irritiert. Warum log meine Cousine mich an? Ich nahm mir vor, Eva nicht direkt darauf anzusprechen. Abwarten, wie lange sie mir diese Geschichte noch auftischen würde.
Kapitel 16
Die Begegnung mit Gerd sollte nicht der einzige Zufall in dieser Woche bleiben.
Einmal in der Woche lief ein von Henry und Bernd ins Leben gerufenes Projekt mit einigen Jugendlichen, die sich im Forst nützlich machten. Bernd holte Henry dann mit einem größeren Bus ab und Henry nahm die Jungen und die Hunde mit. Ein besonderer Feiertag wurde es für mich aber erst, wenn Helga oder Franziska mir die Zwillinge abnahmen.
An diesem Tag hatte ich kinderfrei und fuhr bei der Musik von ›Joan Baez‹ zu Morgenstern. Ich hatte die Stute schon vermisst, daher fiel die Begrüßung sehr herzlich aus. Morgenstern wieherte freudig und demonstrierte ihren Bewegungsdrang. Ich longierte sie eine Weile, bevor ich vorschriftsmäßig, wie Herr Wille es wünschte, auf der Stute ausritt. Morgenstern war ein tolles Pferd, feinführig und sensibel, aber überhaupt nicht schreckhaft.
Auf