Ernst-Walter und Eva mindestens einmal in der Woche bei meinen Eltern vorbeigekommen. Aber seitdem mein Onkel vor einem Jahr diese Sybille von Grosche kennengelernt hatte, kam er gar nicht mehr und rief auch nicht mehr an, was er sonst beinah täglich getan hatte. Meine Eltern, die das gar nicht verstehen konnten, suchten krampfhaft nach einer Erklärung für sein Verhalten. Nach dem Tod von Tante Doro, Evas Mutter, hatten Franziska und Konstantin sich rührend um Ernst-Walter gekümmert. Für Eva waren sie schon vorher immer dagewesen. Für den Haushalt gab es seit Jahrzehnten Frau Müller, das Mädchen für alles, oder wie Onkel Ernst-Walter sie nannte, die Aufwartefrau. Frau Müllers Kinder waren längst ausgezogen. Sie wohnte mit ihrem gehbehinderten Mann, einem Frührentner, in einer bescheidenen Wohnung unten in der Ortschaft Welsede.
Walter ist ein Fachidiot, der im alltäglichen Leben einfach versagt, musste Konstantin immer wieder feststellen. Bis vor einem Jahr war er gut genug gewesen, für seinen Schwager den Kalfaktor zu spielen. Ernst-Walter beschäftigte zwar gelegentlich einen Gärtner, aber wenn Konstantin nicht an alles dachte – ob es das Holz für den Kamin war, das geschlagen, transportiert, gesägt und gestapelt werden musste, der Holzwurm die alte Standuhr zerfraß, oder ob eine neue Glühbirne eingeschraubt werden sollte ... Mit all so was kam Ernst-Walter nicht alleine zurecht. Um eine Glühbirne auszuwechseln, hätte er auf eine Leiter steigen müssen, denn die Lampen hingen sehr hoch unter den Decken des Landhauses.
Konservendosen öffnete Frau Müller immer, bevor sie ging. Beim letzten Versuch, es selber zu machen, hatte Onkel Ernst-Walter sich beinah den Daumen abgeschnitten. Ein Bild aufzuhängen, stellte eine unüberwindbare Hürde dar, weil er nicht in der Lage war, einen einfachen Nagel in die Wand zu schlagen, ohne sich dabei zu verletzen. Dabei kannte er sich mit Paragraphen und seinem selbstgewählten Fachgebiet, der Geschichte des Weserberglandes, aus wie kein anderer. Er hatte viel für die Region getan und war überall beliebt. Beruflich hatte Dr. Ernst-Walter Appenbrock bis zu seiner Pensionierung vor drei Monaten als Richter gearbeitet.
Ich fuhr mit dem Käfer durch die beiden geöffneten Tore des Anwesens und parkte neben den Säulen des ehemaligen Holzstalls. Jetzt sollte daraus eine Gaststube entstehen, daneben und schräg darüber ein Museum. Das Haus war deshalb wegen der Umbauarbeiten auf der Seite, auf der sich die Wohnung der Appenbrocks befand, total eingerüstet.
Wir fanden Eva und ihn im Park des Landhauses. Syrinx sprintete vorweg und Eva hüllte sich sofort in ihr übergroßes Handtuch, als sie Robert erblickte. Sichtlich verlegen versuchte sie so auf mich zuzugehen, dass Robert ja nicht zu viel nackte Haut sah. Sie war im Badeanzug, ausgerechnet heute. Es gelang ihr sonst immer, ihre üppigen Rundungen unter möglichst weiten Klamotten zu verbergen. Aber nun erwischte ich sie kalt, indem ich mit diesem gutaussehenden Robert unangemeldet vorbeikam. Von Robert hatte sie ja schon viel am Telefon gehört, aber dass er so gut aussah.
»Hallo, schön dass ihr auch mal kommt«, piepste sie gekünstelt. Eva hatte, aus welchen Gründen auch immer, wieder angefangen, wie ein kleines Mädchen zu sprechen. Sie begrüßte Robert, indem sie ihm die Hand gab, und dabei bemerkte ich die Andeutung von einem Knicks. Dann rannte Eva, so schnell sie konnte, die breiten, steinernen Treppen hoch, die zur hinteren Eingangstür des Hauses führten, und verschwand im Innern des Gebäudes. Sie musste sich ganz dringend etwas überziehen. Außer ihrem Vater hatte sie ja so noch nie ein Mann gesehen.
Mein Onkel, Dr. Ernst-Walter Appenbrock, legte seine Lektüre auf den Gartentisch, während er sich von seinem Stuhl erhob. Er war ein großer, stattlicher Mann mit vollem weißem Haar, der beinah immer lächelte. Sein gemütlicher, behäbig wirkender Gang und seine leicht vorstehenden Zähne im Oberkiefer verliehen ihm manchmal ein auf den ersten Blick etwas hilflos wirkendes Äußeres.
»Guten Tag, Emilia.«
Er ging an mir vorbei zielstrebig auf Robert zu. Er streckte ihm die Arme entgegen, überschwänglich schüttelte er Robert beide Hände.
»Endlich lerne ich den Herrn Studiosus auch mal kennen. Wie geht es Ihrem Vater, Herr Hagedorn? Leider habe ich Ihren alten Herrn länger nicht mehr gesehen. Wie Sie sicher wissen, waren sowohl Ihre Eltern wie auch meine verstorbene Gattin und ich, gemeinsam Mitglieder in einem kleinen privaten Wanderverein. Eine spaßige Sache. Der erste Vorsitzende, Herr von Meining, war ein guter gemeinsamer Freund von uns. Schade, der ist ja nun schon seit Jahren tot. Aber ich bin überzeugt, sein Geist weilt unter uns. So ein hervorragender Charakter vergeht nie. Kannten Sie den Herrn? Ach, was rede ich da? Da waren Sie ja noch ein kleiner Bub. Im wievielten Semester studieren Sie die Juristerei?«
Robert sah ihn eiskalt an. In seinem Blick steckte so viel Verachtung, dass ich erschrak. Onkel Ernst-Walters Blick war auch nicht viel herzlicher, aber es fiel nicht so auf, weil er dabei lächelte. Robert antwortete auf alle Fragen, die Onkel Ernst-Walter ihm stellte: Nein, er wohnt nicht mehr bei seinen Eltern und ist im sechsten Semester. Ja, die Schwestern sind auch schon ausgezogen. Nein, ihm ist nicht bekannt, dass seine Eltern mal in einem Wanderverein waren. Danke, der Frau Mutter geht es nicht so gut.
»Wir wollen eigentlich zu Morgenstern«, unterbrach ich ihr Gespräch, wenn man es denn so nennen konnte. Onkel Ernst-Walter sah mich herablassend von der Seite an. Ich wusste, was er dachte: Wie kommt die nur an den Sohn von Professor Artur Hagedorn? Was findet ein gebildeter Mann an einer wie ihr?
Er hielt nicht viel von mir. Seitdem er mit Sybille zusammen war, wurden ihm anscheinend viele Dinge auch wieder bewusst, die er in den vergangenen Jahren viel zu sehr in den Hintergrund gestellt hatte. Er hatte Franziska und Konstantin schon einmal darauf aufmerksam gemacht, dass sie in meiner Erziehung etwas versäumt hätten. Und dann bekam ich auch noch das uneheliche Kind von so einem dahergelaufenen Schauspieler, der dann ja auch sofort wieder verschwand.
»Muss das sein? Müsst ihr noch zu Morgenstern?«
»Ach bitte, bitte Papilein!«
Eva stand neben ihrem Vater und klatschte in die Hände. Ihre piepsige Stimme überschlug sich. Sie trug Reitstiefel und eine enge Reithose, darüber aber ein riesiges, beinah knielanges Oberhemd und eine Männerlederjacke. Um den Kopf hatte sie, wie immer, wenn sie das Haus verließ, ein Kopftuch gebunden, das im Nacken geknotet war. Ihre blonden, gewellten Haare fielen bis auf die Hüften. Die Macke mit dem Kopftuch hatte sie von ihrer Mutter, die nie ohne Kopfbedeckung aus dem Haus gegangen war.
»Ausnahmsweise Eva. Aber du weißt, auch in den Ferien muss man täglich etwas für die Schule tun!«
»Danke Papi, danke.«
Es ist schon peinlich, dachte ich, dieses idiotische Getue. Dabei wollte Onkel Ernst-Walter nur nicht, dass Eva etwas mit mir unternahm, und auch sonst war ihm jede Bekanntschaft von Eva sofort suspekt. Niemand war ihm für sein Kind gut genug. Deshalb hatte Eva auch keine Freunde. Am liebsten war ihm, wenn seine sechzehnjährige Tochter gemeinsam mit ihm etwas unternahm. Bloß, das passte seiner Bekannten nicht immer. Er hatte schon an ein Internat gedacht, aber das wollte Eva nicht.
»Endlich weg hier«, piepste Eva, als wir in dem vollbesetzten Käfer in Richtung Reitanlage fuhren. Eva saß auf dem Beifahrersitz, Robert fuhr. Sie errötete jedes Mal, wenn sie in seine Richtung blickte.
Die Friesenstute Morgenstern stand auf dem Paddock der Reitanlage. Sie wieherte und kam auf uns zugelaufen. Morgenstern war das Trostpflaster gewesen, das Eva nach dem Tod ihrer Mutter von ihrem Vater bekommen hatte. Seitdem nahm sie fleißig Reitstunden. Robert meinte, er hätte Respekt vor so großen Tieren und hielt sich zurück, als wir mit Morgenstern, den Hunden und Niclas im Tragetuch im Feld spazieren gingen. Auf einer abgemähten Wiese ritten Eva und ich abwechselnd ohne Sattel auf Morgenstern. Gut, dass es der Reitlehrer Herr Wille nicht sah, sonst hätte es wieder Ärger gegeben.
Als wir zurückfuhren, wirkte Eva gelöster, ja richtig glücklich. Sie bedankte sich für den schönen Nachmittag und vergaß manchmal sogar zu piepsen.
Kapitel 6
Auf dem Weg nach Hameln bog ich einfach von der Straße ab und fuhr mit dem Käfer in den Wald. Wegen Niclas fuhr ich nicht in ›meine Parkbucht‹, von wo aus ich sonst