Группа авторов

MUSIK-KONZEPTE 191: Martin Smolka


Скачать книгу

Klimakatastrophe … So wie das Barockzeitalter die schwarzgallige ›malenconia‹ mit Kugeln, Kreisen und den Ringen des Saturn symbolisierte, sind auch Smolkas kreisende Pattern ein Anzeichen von Melancholie.22 Und so wie die Romantiker Melancholie im transitorischen Charakter der Musik erkannten, die immer nur jetzt, jetzt, jetzt sagt, um ihre Vollendung erst in dem Moment zu erfahren, in dem sie bereits verklungen ist, also paradoxerweise eben gerade nicht mehr ist, sondern aus und vorbei, durchströmt auch Smolkas Musik ein schmerzliches »Ungleichgewicht von Sehnsucht auf Erfüllung gegenüber der persönlich empfundenen (mehr oder minder verlorenen) Hoffnung auf Zielerreichung«.23 Glück erscheint bei ihm – wie bei Schubert, Berlioz oder Mahler – lediglich als vergangenes oder abwesendes, nicht als erfüllt oder real erfüllbar, sondern bloß als Vorstellungsinhalt von etwas Vermisstem. Dieses unglückliche Bewusstsein brachte Georg Philipp Schmidt in seinem von Schubert in Der Wanderer op. 4,1 vertonten Gedicht Des Fremdlings Abschied (1808) auf den epochentypisch Leitvers: »Dort, wo du nicht bist, ist das Glück«.

Nonnenmann_07.tif

      Notenbeispiel 7: Martin Smolka, Blue Bells or Bell Blues für Orchester (2011), T. 234–243, © Breitkopf & Härtel, Wiesbaden 2011

      Eine melancholische Klanglandschaft ist auch Smolkas Blue Bells or Bell Blues für Orchester (2011). Der Werktitel benennt das Anliegen, den in Farbe und Tonhöhe modulierten Klang schwingender Kirchenglocken auf Orchesterklänge zu übertragen. Zudem deutet »Blues« auf einen getrübten Gemütszustand und die Farbe »Blue« auf den Umstand, dass Smolka sein Stück teilweise während eines zweimonatigen Aufenthalts am Meer komponierte, dessen bewegte Oberfläche er – laut Werkkommentar – wie gebannt betrachtete. Das Orchesterwerk beginnt mit einer Klangfläche »wie ein Naturlaut«. Vor dem gekräuselten Hintergrund durchlaufender Tonpendel a′′ – gis′′ der ersten Harfe spielen die Violinen wellenartig wiegende Motive a′′ – gis′′ – h′′, die sich gegenüber den leuchtenden D-Dur-Naturtonflageoletts der tiefen Streicher doppeldominantisch öffnen, die geweckte Spannung und Erwartung jedoch nie auf- bzw. einlösen. Dieselben Töne erscheinen als glockenartig ausschwingende Anschläge von Vibrafon und Pizzikati zweier Harfen. Nach dem ebenso ruhe- wie erwartungsvollen Anfang überlagern die Streicher mikrotonal versetzte Dreiklänge in schneller Folge zu wellenartig an- und wieder abschwellenden bitonalen Akkorden samt Naturton-Dreiklängen der vier Hörner. Eine zweite clusterartige Verdichtung mündet in einen langen Mittelteil »Calmo« Viertel = 60 (T. 180–303). Sämtliche Streicher bilden hier einen stets minimal variierten Hintergrund, dessen rhythmische und mikrotonale Differenzierungen wie die Wellen des Meeres eine äußerlich graue Fläche ergeben (Notenbeispiel 7). Am Rande des Stillstands entsteht eine dumpf brütende Stimmung wie in Andrei Tarkowskis düsteren Endzeit-Filmen Solaris (1972), Stalker (1978/79) oder Nostalghia (1983).