Jahren die Konstanzer bzw. Marburger Schule. Janich wählte für seine Weiterentwicklung des Erlanger Programms die Bezeichnung Methodischer Kulturalismus. Den pragmatistischen Ansatz, der theoretisches Kennen aus einem methodischen Können rekonstruiert, ergänzt Janich um die kulturalistische These, dass das methodische Können der Wissenschaften stets in einen kulturellen Kontext eingebettet ist.
Der Janich-Schüler Michael Weingarten stellt einen Zusammenhang zwischen der kulturalistischen Wende der Konstruktiven Wissenschaftstheorie mit der Husserlschen Phänomenologie her: »Die Wendung vom ›Kennen‹ zum ›Können‹ muß also weitergeführt werden zur Rekonstruktion der Art und Weise der kulturellen Einbettung wissenschaftlichen Tuns; Husserl hat mit seinen Überlegungen zu Wissenschaft und Lebenswelt dazu das Stichwort gegeben.«97 Naturwissenschaften kulturalistisch zu verstehen, bedeutet nach Janich, Kultur nicht naturalistisch zu einem »Teilbereich der Natur« zu erklären, sondern vielmehr umgekehrt, »Natur als Gegenstand menschlicher Praxis, von Ackerbau und Viehzucht bis zum Gegenstandsbereich moderner Naturwissenschaft« zu betrachten.98 Janich weist darauf hin, dass der Kulturbegriff etymologisch (von lat. colere für ›bebauen, bearbeiten, Ackerbau betreiben‹) mit dem Naturbegriff über die Landwirtschaft verbunden ist: Natur ist das vom Menschen nicht Gemachte, auf das sich menschliches Machen zweckorientiert bezieht. Anders formuliert: Natur ist das an den Mitteln Unverfügbare,99 wie z. B. das Wachsen und Gedeihen oder Eingehen und Verdorren der Feldfrüchte. Für den Methodischen Kulturalisten unterscheidet sich dieses Naturverhältnis nicht substantiell von dem der Naturwissenschaften. Auch in der naturwissenschaftlichen Erkenntnis erscheint Natur als das Unverfügbare an den zu bestimmten Zwecken eingesetzten methodischen Mitteln.
Der Methodische Kulturalismus neigt mit seinem Primat der Methode vor der Sache allerdings dazu, das Natürliche allzu sehr auf das Widerständige im Gelingen oder Misslingen von Handlungen zu reduzieren. In seiner Erwiderung auf einen Einwurf von Hermann Schmitz stellt Janich den »Widerfahrnischarakter des Gelingens und Mißlingens« als passiven Aspekt »an jeder Einzelhandlung« gegenüber den aktiven Aspekten der Zielsetzung und Mittelergreifung heraus.100 Während sich der Methodische Konstruktivismus stärker mit dem aktiven Handlungsaspekt beschäftigt, steht zumindest in der sogenannten Neuen Phänomenologie eher der passive Aspekt im Fokus. Beide Philosophien, so Janich, arbeiten »an zwei komplementären Aspekten ein und derselben Sache […], an einem philosophischen Verständnis nämlich des Menschen und seiner kulturellen Hervorbringungen«. »Das ›Machen‹ z. B. der Gegenstände von Wissenschaft ist nichts, was einem Roboter oder einer Maschine übertragen werden könnte, sondern ist immer eine aus vielen Einzelhandlungen bestehende Kulturleistung, die ohne den Einfluß des Sensiblen nicht zustande kommen könnte.«101
Freilich ist Komplementarität leichter gesagt als getan. Nicht jedes Widerfahrnis setzt eine Handlung voraus. Nicht jedes Handeln ist an klare Gelingensbedingungen geknüpft. Die Sache der Kulturphänomenologie: der Mensch und seine kulturellen Hervorbringungen, ist eingelassen in Horizonte, die in Handlungsbegriffen nicht adäquat zu beschreiben sind. Die Konstitutionsanalyse führt, wie bereits erwähnt, auf eine naturale Dimension unmittelbarer, elementarer Bedürfnisse, die wir auch mit Tieren gemeinsam haben. Auf der anderen Seite wirkt die jeweilige Kultur, in der wir leben, wie eine zweite Natur, die jedoch kein »Einfluß des Sensiblen« ist. Der Begriff des Menschen lässt sich nur »in Begriffen menschlicher Kultur« bestimmen.102 Eine Phänomenologie der kulturellen Praxis muss daher ausgehen vom Menschen als »Subjekt-Objekt der Kultur und als Subjekt-Objekt der Natur«.103 Natur und Kultur sind nicht bloße Komplemente; im Menschen sind sie ineinander verschlungen.
Kulturphänomenologie und Kritische Theorie
Die an Husserl anschließende Kulturphänomenologie besitzt nicht nur eine Familienähnlichkeit mit der Konstruktiven Wissenschaftstheorie, sondern auch mit der Kritischen Theorie. Weingarten erinnert als Vertreter des Methodischen Kulturalismus daran, dass sich Husserls Diagnose einer Krise der europäischen Wissenschaften mit den Einwänden der Kritischen Theorie deckt.104 Dafür spricht, dass unmittelbar nach Erscheinen der Krisis-Schrift Max Horkheimer im ersten Heft des Jahrgangs 1937 der Zeitschrift für Sozialforschung seine Wertschätzung für die Abhandlung in einer Fußnote von »Der neueste Angriff auf die Metaphysik« zum Ausdruck bringt: »Bei aller Gegensätzlichkeit der Denkart Husserls zu der hier vertretenen Theorie hat seine Altersstudie mit ihrer höchst abstrakten Problematik mehr mit den gegenwärtigen geschichtlichen Aufgaben zu tun als der sich zeitgemäß dünkende Pragmatismus oder das vermeintlich dem ›Mann am Schraubstock‹ angepaßte Reden und Denken mancher jüngeren Intellektuellen, die sich schämen, es zu sein.«105 Da sich seine Arbeit am eigenen Aufsatz mit der Publikation der Krisis überschneidet, kann Horkheimer zwar nur einen flüchtigen Blick in die Neuerscheinung werfen, erkennt in Husserl aber einen Verbündeten gegen die Neopositivisten des Wiener Kreises, namentlich Carnap und Neurath.
Rudolf Carnap reduziert in einer Reihe von Aufsätzen, die in der von ihm mitherausgegebenen Zeitschrift Erkenntnis Anfang der Dreißigerjahre erscheinen, die Philosophie auf Wissenschaftstheorie. Um griffige Formulierungen nicht verlegen, behauptet er: »Es gibt keine Philosophie als Theorie, als System eigener Sätze neben denen der Wissenschaft. Philosophie betreiben bedeutet nichts Anderes als: die Begriffe und Sätze der Wissenschaft durch logische Analyse klären.«106 Ein Aufsatz trägt den programmatischen Titel »Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache« (1932). Darin erkennt er nur noch Sätze der Logik, der Mathematik und der empirischen Wissenschaften als sinnvolle Sätze an. Die Sätze der Metaphysik, zu der Carnap auch Wertphilosophie und Normwissenschaft (Praktische Philosophie und Ästhetik) zählt, erzeugen lediglich den Anschein, etwas Sinnvolles zu meinen, während sie mangels empirischer Überprüfbarkeit eigentlich sinnlos sind. Philosophen, die vorgeben, rational über Normen diskutieren zu können, missverstehen als Wissenschaft, was nur »Ausdruck des Lebensgefühls« ist. Dies leiste die Kunst jedoch wesentlich besser: »Kunst [ist] das adäquate, die Metaphysik aber ein inadäquates Ausdrucksmittel für das Lebensgefühl«. »Metaphysiker sind Musiker ohne musikalische Fähigkeit.« Metaphysik, so Carnaps vernichtendes Urteil, sei nur ein unzulänglicher Ersatz für die Kunst.107
Gegen die positivistischen Angriffe versucht Horkheimer ein Denken zu verteidigen, das sich nicht das Wollen versagt, eine Philosophie, die sich nicht zur Magd der Physik macht, und eine Vernunft, die sich auf mehr als bloßes Kalkulieren versteht. Die Reduktion der Philosophie auf Analyse physikalischer Sätze wiederholt die Abstraktion »von allem Subjektiven, von der gesamten menschlichen Praxis«, die diesen Sätzen methodisch zugrunde liegt. Und genau in der Kritik dieser Abstraktion sieht sich Horkheimer in einer Allianz mit Husserl. Die »späte Publikation des letzten wirklichen Erkenntnistheoretikers« erklärt den »unkritische[n] Objektivismus« und »die Verabsolutierung der Fachwissenschaft« in einer historischen Rekonstruktion der mathematisierten Physik.108
Daran knüpft auch Herbert Marcuse in seiner Rezension der Krisis an: Husserl zeige, wie »Produkte einer wissenschaftlichen ›Methode‹ zum ›wahren Sein‹ hypostasiert werden« und wie Rationalismus und Empirismus gleichermaßen »von der ›vorwissenschaftlichen‹ Praxis, von den Subjekten als ›Personen‹ eines personellen und kulturellen Lebens« abstrahieren, »ohne diese Abstraktion jemals zurückzunehmen«. Die Philosophie habe es dagegen »mit den von jener Abstraktion zurückgelassenen Subjekten zu tun«, die Phänomenologie wolle »wieder auf die vergessenen Subjekte zurückgehen«.109 In Husserls Worten lautet die Textstelle, die Marcuse hervorhebt: Galilei »abstrahiert von den Subjekten als Personen eines personellen Lebens, von allem in jedem Sinne Geistigen, von allen in der menschlichen Praxis den Dingen zuwachsenden Kultureigenschaften«.110 Wenige Seiten zuvor führt Husserl aus, wie eine über das Ziel hinausschießende Mathematisierung der Natur dazu führt, »daß wir für wahres Sein nehmen, was eine Methode ist«, und vergessen, wozu die mathematische Methode in der Physik eigentlich da ist, nämlich zur Verbesserung des lebensweltlichen Prognosewissens. Der Zweck, dem die neuzeitliche Naturwissenschaft ursprünglich dienen sollte, liegt im außerwissenschaftlichen Leben und ist auf die menschliche Lebenswelt bezogen.