Ralf Becker

Qualitätsunterschiede


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zu bringen, die hinter den von Menschen hervorgebrachten Erzeugnissen eben jene Menschen mit ihren Interessen und Zielen ausblendet. In jeder Tatsache steckt eine Tat, und diese darf nicht zugunsten bloßer Funktionalität und vermeintlicher Objektivität den handelnden Personen streitig gemacht werden. Außerdem bleibt die Phänomenologie der arbeitenden Subjekte eingedenk, die sie selbst hervorbringen. Kritische Einstellung ist ohne kritische Reflexion des eigenen Standortes nicht zu haben.

      In Erfahrung und Urteil bemerkt Husserl, »daß zur Welt, wie sie uns, erwachsenen Menschen unserer Zeit, vorgegeben ist, alles mitgehört, was die Naturwissenschaft der Neuzeit an Bestimmungen des Seienden geleistet hat. Und wenn wir auch selbst nicht naturwissenschaftlich interessiert sind und nichts von den Ergebnissen der Naturwissenschaft wissen, so ist uns doch das Seiende vorweg wenigstens so weit bestimmt vorgegeben, daß wir es auffassen als prinzipiell wissenschaftlich bestimmbar.«77 Wenn Kulturphänomenologie die Konstitution der humanisierten Welt rekonstruiert und die wissenschaftliche Weltauffassung zum Kernbestand der neuzeitlich-europäischen Kultur gehört, dann wird die Wissenschaft nicht bloß als eine kulturelle Praxisform unter anderen zum Gegenstand der Kulturphänomenologie, sondern weil sie die für unsere Kultur charakteristische »Horizontvorzeichnung«78 von Erkenntnisgegenständen überhaupt darstellt. Eine Phänomenologie kultureller Praxis kommt nicht umhin, die »gefährliche[n] Sinnverschiebungen«79 zu reflektieren, die mit einer Ontologisierung wissenschaftlicher Methoden verbunden sind. Mit Husserl ist daran zu erinnern, dass auch die Theorie eine Praxis ist, die sich in einem Interessenhorizont vollzieht. Die beschriebene Sinnverschiebung von einer Welt-für-Menschen hin zu einer Welt-an-sich macht aus einer »Welt als Horizont« eine »Welt als Gegenstand« naturwissenschaftlicher Forschung.80

      Genau hier setzt Husserls (unfertig gebliebenes) Krisis-Werk an. »Die mathematische Naturwissenschaft ist eine wundervolle Technik, um Induktionen von einer Leistungsfähigkeit, von einer Wahrscheinlichkeit, Genauigkeit, Berechenbarkeit zu machen, die früher nicht einmal geahnt werden konnten.« Es ist aber genau diese Leistungsfähigkeit der neuzeitlichen Naturwissenschaft, die dazu führt, dass der Wissenschaftler als »arbeitende[s] Subjekt« vergessen wird, dessen Empirie wie jede Erfahrung interessegeleitet ist.81 Die mathematisch-naturwissenschaftliche Methode hat den Zweck, die innerhalb der vorwissenschaftlichen Erfahrung bloß möglichen »rohen Voraussichten […] zu verbessern« und mittels mathematischer Formeln die Welt für uns Menschen »durch Konstruktion beherrschbar« zu machen.82 Wird das »Sinnesfundament« der Wissenschaft in der Lebenswelt vergessen, dann verliert Wissenschaft ihre »Lebensbedeutsamkeit«.83 Entkoppelt von den ursprünglichen Interessen, verselbständigt sie sich zu einer bloßen »Tatsachenwissenschaft«,84 die vermeintlich eine an sich bestimmte Wirklichkeit abbildet. Statt mit Mitteln, die zu vernünftigen Zwecken eingesetzt werden können, hat man es nur noch mit Sachzwängen zu tun, die die technisch errungenen Freiheiten einzuschränken und Verantwortung abzuschieben helfen.

      Gegen die Logik von Sachzwängen hält die Kulturphänomenologie am Primat der Praxis vor der Theorie fest. Husserl zeigt am Beispiel der Geometrie, wie die mathematische Methode durch Idealisierung einer »realen Praxis«85 entstanden ist. Ihren Sitz im Leben hat die Geometrie dem Wortsinne nach in der empirischen Feldmesskunst und wurde beispielsweise im alten Ägypten eingesetzt, um nach dem regelmäßig wiederkehrenden Nilhochwasser die Felder neu auszumessen. Es lässt sich in einer genealogischen Erzählung mühelos verständlich machen, wie eine solche Messkunst durch die Festlegung von Maßen, die Erzeugung rechter Winkel und die Bestimmung von Längen und Flächen immer weiter verfeinert wird, bis als Ideale solcher Verbesserungen sogenannte »Limes-Gestalten«86 auftauchen: z. B. ein rechter Winkel, der nicht ›noch rechtwinklinger‹ sein kann, ein zwar praktisch unerreichbarer, aber die Messpraxis anleitender rechter Winkel von genau 90°. Im Interesse der Verfahrensverbesserung operiert man mit ›reinen Formen‹, hinter denen aber nicht etwa selbständige Objekte, sondern Vorschriften stehen: ›Wenn Du einen rechten Winkel erzeugen willst, dann mußt Du … tun‹. Durch »Idealisation und Konstruktion« werden aus den Limesgestalten schließlich »Idealgebilde«,87 denen die Unterstellung zugrunde liegt, dass das Herstellungsziel idealer Formen erreicht ist. Erst wenn der hypothetische Charakter dieser Idealitäten vergessen wird, entsteht das Selbstmissverständnis einer zweckfreien Wissenschaft.88

      Kulturphänomenologie und Methodischer Kulturalismus

      Der von Husserl beschriebene Idealisierungsprozess ist ein Fall dessen, was in der Erlanger Schule Konstruktiver Wissenschaftstheorie »Hochstilisierung« heißt. Paul Lorenzen wusste, was er Husserl und der Phänomenologie zu verdanken hat: »Erst im Anschluß an Dilthey und Husserl haben Misch einerseits und Heidegger andererseits deutlich gemacht, was das heißt, daß das Denken vom Leben, von der praktischen Lebenssituation des Menschen, auszugehen hat. Alles Denken ist eine Hochstilisierung dessen, was man im praktischen Leben immer schon tut.«89 ›Hochstilisierung‹ ist hier natürlich positiv gemeint als methodische Verbesserung und Verfeinerung von Messverfahren und Prognosen.

      Husserl stellt diesen Vorgang für unser lebensweltliches Kausalwissen folgendermaßen dar: »Auf Voraussicht, wir können dafür sagen, auf Induktion, beruht alles Leben. […] Alle Praxis mit ihren Vorhaben impliziert Induktionen, nur daß die gewöhnlichen, auch die ausdrücklich formulierten und ›bewährten‹ induktiven Erkenntnisse (die Voraussichten) ›kunstlose‹ sind gegenüber den kunstvollen ›methodischen‹ […] Induktionen.«90 Wissenschaft verdankt sich einer Hochstilisierung lebensweltlicher Praxis91 mit dem Ziel, eine objektive Erkenntnis »für jedermann«92 zu ermöglichen. Ihre Objektivität besteht in Transsubjektivität, das heißt, es kommt nicht darauf an, wer ein bestimmtes (z. B. Mess-)Verfahren anwendet, weil begründet sichergestellt ist, dass es ceteris paribus verlässliche Ergebnisse liefert. In der modernen Experimentalwissenschaft spiegelt sich dieser Transsubjektivitätsanspruch in der Norm, dass Messergebnisse (auch von anderen Forschern) replizierbar sein müssen.

      Lorenzen will zeigen, »daß die theoretische [d. i. erkennende] Vernunft selber ein normatives Fundament hat«. In diesem wohlverstandenen Sinne beginnt die Philosophie damit, praktische »Vernunft in die Wissenschaften zu bringen«.93 Genauer versteht Lorenzen darunter, erstens die Objektivität wissenschaftlicher Erkenntnis an ihrer Transsubjektivität festzumachen und zweitens diese Transsubjektivität auf die Praxis ihrer Sicherstellung zurückzuführen. Der Anspruch auf objektive, d. h. transsubjektive Geltung wissenschaftlicher Aussagen wird methodisch gesichert durch Experiment, Auswertung von Archivmaterialien und dergleichen mehr. Das Erlanger Programm sieht vor, Wissenschaft als eine Praxis des Redens und Handelns zu rekonstruieren, in der Normen durch Begründung gegenüber Anderen kritisch angeeignet werden.

      Argumente sind, nach einer Formulierung Karl-Otto Apels, »Sinn- und Geltungs-Ansprüche, die nur im interpersonalen Dialog expliziert und entschieden werden können«.94 Eine Behauptung, die mehr ist als eine bloße Meinung, hat demnach prinzipiell die folgende implizite Struktur: Ein Proponent beansprucht gegenüber einem Opponenten mit Gründen die Geltung einer Aussage. Jemand, der eine Behauptung aufstellt, so formuliert den gleichen Gedanken Jürgen Habermas, »muß über eine ›Deckungsreserve‹ guter Gründe verfügen, um erforderlichenfalls seine Gesprächspartner von der Wahrheit der Aussage zu überzeugen und ein rational motiviertes Einverständnis herbeiführen zu können«.95 Diskursive Behauptungen erheben einen Anspruch auf Geltung gegenüber einem Anderen, der dazu berechtigt ist, Gründe für diesen Anspruch einzufordern.

      Es sind nicht nur der diskursive Ansatz und der Begriff des Geltungsanspruchs, die eine Nähe zwischen Konstruktiver Wissenschaftstheorie und Kritischer Theorie begründen. Im Kern verbindet beide die (letztlich Kantische) Überzeugung, dass die Vernunft praktisch ist. Gegen den gemeinsamen Gegner des Positivismus machen sie den Primat praktischer Vernunft geltend. Nachdem Lorenzen und Habermas 1969 in Düsseldorf auf dem Deutschen Kongress für Philosophie zum Kongressthema »Philosophie und Wissenschaft« gesprochen hatten, war sogar von einer »Großen Koalition« zwischen Erlanger und Frankfurter