unserer leiblich personalen Seinsweise« leben, »finden wir nichts von geometrischen Idealitäten, nicht den geometrischen Raum, nicht die mathematische Zeit mit allen ihren Gestalten«. Diese »Trivialität« ist verschüttet »durch jene Unterschiebung einer methodisch idealisierenden Leistung für das, was unmittelbar, als bei aller Idealisierung vorausgesetzte Wirklichkeit gegeben ist«.111 Eine solche Subreption dreht die wahren Verhältnisse um: Die Lebenswelt, aus der wissenschaftliche Objektivität entspringt und von der sie methodisch abhängig bleibt, wird zur bloß subjektiven Erscheinung einer mathematisch idealisierten ›objektiven‹ Hinterwelt. Die Verselbständigung der Produkte gegenüber den Produktionsbedingungen bleibt nicht folgenlos für den Produzenten: »Ist die anschauliche Welt unseres Lebens bloß subjektiv, so sind die gesamten Wahrheiten des vor- und außerwissenschaftlichen Lebens, welche sein tatsächliches Sein betreffen, entwertet.«112
Diese Entwertung des vor- und außerwissenschaftlichen Lebens ist eine Folge des positivistischen Verdikts, streng zwischen Werturteilen und Erfahrungswissen zu unterscheiden, wie Max Weber es 1904 für die Sozialwissenschaften fordert.113 Ohne Webers Namen zu nennen, bezieht sich Husserl auf dessen Definition strenger Wissenschaft durch die Ausschaltung »alle[r] wertenden Stellungnahmen«. Nach diesem Forschungsprogramm ist »Wissenschaft, objektive Wahrheit […] ausschließlich Feststellung dessen, was die Welt, wie die physische so die geistige Welt tatsächlich ist«.114 Beschränkt man das Denken auf Probleme der Formalwissenschaften Mathematik und Logik einerseits sowie der Erfahrungswissenschaften andererseits und setzt erfahrungswissenschaftliche Erkenntnis mit der Feststellung von Tatsachen gleich, dann fallen alle diejenigen Probleme aus dem Kreis des Denkbaren heraus, die das Faktische auf ein kontrafaktisches Sollen hin überschreiten.
Husserl nennt diese Probleme Vernunftprobleme, weil sie sich nicht in der begrifflichen Strukturierung des Gegebenen erschöpfen, sondern über das bloß Gegebene hinaus Fragen nach epistemischer Wahrheit und moralischer Richtigkeit, Freiheit und Verantwortung stellen. Werden die Vernunftprobleme von der kulturell dominierenden epistêmê zur doxa und zu bloß subjektiven Befindlichkeiten relativiert, dann wirkt das wissenschaftliche Selbstverständnis auf das außerwissenschaftliche zurück: »Bloße Tatsachenwissenschaften machen bloße Tatsachenmenschen.«115 Sie verlieren den »Glauben an die ›Vernunft‹«. Verliert aber »der Mensch diesen Glauben, so heißt das nichts anderes als: er verliert den Glauben ›an sich selbst‹, an das ihm eigene wahre Sein, das er nicht immer schon hat«. Der Philosophie fällt angesichts dieser »Krisis des europäischen Menschentums« die Aufgabe zu, die »latente Vernunft zum Selbstverständnis ihrer Möglichkeiten zu bringen«.116
Die publizistische Gleichzeitigkeit von Husserls letzter Einführung in die Phänomenologie und Horkheimers erster programmatischer Begründung der Kritischen Theorie117 greift Habermas auf, als er 1965 Horkheimers Lehrstuhl in Frankfurt übernimmt. Den eigenen Positivismusstreit mit Albert ohne erfolgreiche Verständigung gerade hinter sich gebracht, entwickelt er seine Theorie der erkenntnisleitenden Interessen. Für die Antrittsvorlesung wählt er den Titel: »Erkenntnis und Interesse«. Mit Blick auf die Krisis urteilt Habermas so ausdrücklich wie unmissverständlich: »Husserl ließ sich damals von eben dem Theoriebegriff leiten, dem Horkheimer einen kritischen entgegenhielt.«118 Er kritisiere zwar den positivistischen Schein, der die Konstitution von Tatsachen verdeckt und »dadurch die Verflechtung der Erkenntnis mit Interessen der Lebenswelt nicht zu Bewußtsein kommen läßt«. Aber weil »die Phänomenologie das zu Bewußtsein bringt, ist sie selber, so scheint es, solchen Interessen enthoben; der Titel der reinen Theorie, den die Wissenschaften zu unrecht reklamieren, gebührt mithin ihr. An dieses eine Moment, die Entbindung der Erkenntnis von Interesse, knüpft Husserl die Erwartung praktischer Wirksamkeit.«119 Indem Husserl den positivistischen Schein aufheben will, verfällt er selbst dem Schein reiner, das heißt von allen, auch emanzipatorischen Interessen reiner Theorie.
Der Positivismus werde aber nicht »durch die Kraft einer erneuerten Theoria gebrochen, sondern allein durch den Nachweis dessen, was er verdeckt: des Zusammenhangs von Erkenntnis und Interesse«.120 Daher ergänzt Habermas die kritische Gesellschaftstheorie um eine kritische Wissenschaftstheorie, die Methoden mit erkenntnisleitenden Interessen korreliert. Er unterscheidet das technische Erkenntnisinteresse an der operativen Kontrolle vergegenständlichter Prozesse vom praktischen Interesse an (Selbst- und Fremd-)Verständigung sowie dem emanzipatorischen Erkenntnisinteresse an Mündigkeit. Habermas gesteht Husserl zwar zu, das technische Erkenntnisinteresse der Naturwissenschaft rekonstruiert zu haben. Aber er bestreitet, dass Husserl mit der phänomenologischen Theoriearbeit selbst ein emanzipatorisches Erkenntnisinteresse verbindet. Eine interesselose Erkenntnis gibt es nur als Lippenbekenntnis, nicht in der Erkenntnispraxis. In der Wissenschaft gibt es keine unbeteiligten Zuschauer (siehe Kap. 5). Husserl ist also auf halbem Weg stehen geblieben, als er die wissenschaftliche Theoriebildung in die vor- und außerwissenschaftliche Praxis zurückverfolgt, die eigene philosophische Theorie dagegen von lebensweltlichen Interessen durch epochê entkoppelt hat.
Wer Husserls Wiener Vortrag »Die Philosophie in der Krisis der europäischen Menschheit« vom Mai 1935 kennt, weiß, dass er weiter gegangen ist. Da für Husserl die europäische Krise letztlich eine philosophische Krise ist, die »in einem sich verirrenden Rationalismus«121 wurzelt, geht er zu den Anfängen der Philosophie im antiken Griechenland zurück. Die geschichtsteleologische Betrachtung legt er aber nicht intellektualistisch, sondern voluntaristisch an, indem er sich an drei verschiedenen Einstellungen orientiert. Unter einer Einstellung versteht Husserl »einen habituell festen Stil des Willenslebens in damit vorgezeichneten Willensrichtungen oder Interessen«, in dem »das jeweilig bestimmte Leben« verläuft. »In irgendeiner Einstellung lebt die Menschheit (bzw. eine geschlossene Gemeinschaft wie Nation, Stamm usw.) in ihrer historischen Lage immer.«122 Die grundlegende Einstellung ist die natürliche Einstellung des praktischen Weltlebens, in der auch historisch die religiös-mythische Einstellung fundiert ist. Von allen praktischen Interessen sieht dagegen die rein theoretische Einstellung ab, die Husserl für eine genuine Erfindung der griechischen Antike hält. Es ist jener »Wechsel der Interessen«123 der sich von der praktischen Feldmesskunst hin zur reinen Geometrie vollzogen hat, die an die Stelle einer realen Messpraxis die »ideale Praxis eines ›reinen Denkens‹ [setzt], das sich ausschließlich im Reiche reiner Limesgestalten hält«.124 Diese Idealisierung vollzieht sich aufgrund einer »Umstellung des praktischen in ein rein theoretisches Interesse« am »wahre[n]«, »objektive[n] Sein der Welt«,125 unabhängig von praktischen Anwendungsmöglichkeiten.
Doch mit dieser Gegenüberstellung von Praxis und Theorie hat es nicht sein Bewenden. »Denn es ist noch eine dritte Form der universalen Einstellung möglich […], nämlich die im Übergang von theoretischer zu praktischer Einstellung sich vollziehende Synthesis der beiderseitigen Interessen, derart daß die […] Theoria […] dazu berufen wird […], in einer neuen Weise der Menschheit, der in konkretem Dasein zunächst und immer auch natürlich lebenden, zu dienen. Das geschieht in Form einer neuartigen Praxis, der der universalen Kritik alles Lebens und aller Lebensziele, aller aus dem Leben der Menschheit schon erwachsenen Kulturgebilde und Kultursysteme, und damit auch einer Kritik der Menschheit selbst und der sie ausdrücklich und unausdrücklich leitenden Werte«.126 Auf dieses kritische Interesse verpflichtet Husserl auch die Phänomenologie. »Es möchte mir scheinen, daß ich, der vermeintliche Reaktionär, weit radikaler bin und weit mehr revolutionär als die sich heutzutage in Worten so radikal Gebärdenden.«127
Radikal ist die Phänomenologie, weil sie an der Wurzel der Krise ansetzt, und revolutionär, weil sie die Enteignung des arbeitenden Subjekts umkehrt: »Indem die anschauliche Umwelt, dieses bloß Subjektive, in der wissenschaftlichen Thematik vergessen wurde, ist auch das arbeitende Subjekt selbst vergessen, und der Wissenschaftler wird nicht zum Thema. (Somit steht, von diesem Gesichtspunkt aus, die Rationalität der exakten Wissenschaften in einer Reihe mit der Rationalität der ägyptischen Pyramiden.)«128 Wer diese Bemerkung zu schnell als bloße Wissenschaftstheorie abtut, verkennt das weitergehende kritische Anliegen, hinter den Erzeugnissen die