und vermeintlicher Objektivität den handelnden Personen streitig gemacht werden. Husserls Idee einer universal verantwortlichen Wissenschaft129 hat in diesem Sinn etwas mit Gerechtigkeit zu tun.
Wissenschaftsphilosophie als Wissenschaftskritik
Die Kulturphänomenologie besitzt als kritische Wissenschaftsphilosophie ein Gespür für den dialektischen Umschlag der aus der griechischen Aufklärung hervorgegangenen Rationalität in die Irrationalitäten von Positivismus und Naturalismus. Es gibt auch einen geistigen Fetischcharakter der Ware, der sich ganz praktisch auf die Lebensverhältnisse der »Tatsachenmenschen« auswirkt: Allein dasjenige, was sich zählen, messen und berechnen lässt, gilt als rational, weil kontrollierbar. Fragen nach dem, was vernünftig ist, werden dem Meinen überlassen, das erst in der demoskopischen Quantifizierung wieder Objektivität und politische Wirksamkeit erlangt. Phänomenologische Kritik ist demgegenüber als bestimmte Negation positivistischer Ontologien zu begreifen, um die in ihnen enthaltene Unvernunft aufzudecken. Phänomenologische Theoriebildung zielt auf die Praxis und erfolgt in kritischer Einstellung mit einem emanzipatorischen Erkenntnisinteresse. Als kritische Wissenschaftsphilosophie rekonstruiert die Phänomenologie kultureller Praxis den Sinn reiner Theorie aus einer vorwissenschaftlichen Praxis und außerwissenschaftlichen Bedürfnissen.
In der kritischen Gesellschaftstheorie der Frankfurter Schule blieben die Naturwissenschaften unterbelichtet. Wenn Horkheimer den Chiasmus formuliert: »In der bürgerlichen Wirtschaftsweise ist die Aktivität der Gesellschaft blind und konkret, die des Individuums abstrakt und bewusst«130 – dann muss man jedoch die ›bürgerliche Wirtschaftsweise‹ nur durch ›wissenschaftliche Erkenntnis‹ ersetzen, um eine Brücke zur kritischen Wissenschaftstheorie zu schlagen. Bewusst ist dem Individuum nur die eigene Arbeit, nicht dagegen die Einwirkung eines jeweils historisch und gesellschaftlich sedimentierten Denk- und Willensstils. Die hervorgebrachten Elaborate verlieren den Produktcharakter und werden so zu kulturellen, gesellschaftlichen oder wissenschaftlichen Tatsachen.
Genau diesen Prozess der Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache hat der polnische Arzt, Immunologe und Medizinhistoriker Ludwik Fleck in kritischer Absicht nur wenige Monate nach Husserls Wiener Vortrag rekonstruiert (siehe Kap. 9). In einem späten Manuskript über »Crisis in Science. Towards a Free and More Human Science«, das kurz vor seinem Tod entstanden ist, nennt Fleck seinen Ansatz »Drei-Komponenten-Modell«: »Zwischen dem Subjekt und dem Objekt gibt es ein Drittes, die Gemeinschaft. Es ist kreativ wie das Subjekt, widerspenstig wie das Objekt und gefährlich wie eine Elementargewalt.«131 Diese Gemeinschaft nennt Fleck Denkkollektiv, die einen spezifischen Denkstil kultiviert. Gefahr droht von der Erstarrung der denkkollektiven Koproduktion zur scheinobjektiven Widerspenstigkeit gegenüber subjektiver Kreativität. Der Missbrauch solcherart geschaffener ›objektiver Wahrheit‹ zu Propagandazwecken ist nur ein Beispiel für die Krise, in die eine für ihre eigene Genese blinde Wissenschaft gerät. Fleck hingegen will dazu beitragen, dass sich die »wissenschaftliche Wahrheit […] von etwas Starrem und Stillstehendem in eine dynamische, entwickelnde, kreative menschliche Wahrheit wandeln«132 kann. In der »freien und menschlicheren Naturwissenschaft« ist die Aktivität des Denkkollektivs konkret und bewusst.
Ein Mittel, das die Aktivität des Denkkollektivs konkret und bewusst macht, lässt sich dem von der Konstruktiven Wissenschaftstheorie formulierten Prinzip der methodischen Ordnung entnehmen. Dieser Grundsatz fordert, »in wissenschaftlichen Handlungszusammenhängen – in Analogie etwa zur pragmatisch erforderlichen Reihenfolge von Schritten beim Bau eines Hauses – nur von solchen Mitteln Gebrauch zu machen, die bereits konstruktiv zur Verfügung stehen, und nur solche Resultate zu verwenden, die ihrerseits konstruktiv begründet wurden«.133 Nur dann, »wenn die Rekonstruktion wissenschaftlicher Handlungen sich beschreiben läßt als Folge methodisch aufeinander aufbauender Schritte […], kann von begründeten wissenschaftlichen Aussagen gesprochen werden«.134 Gegen eine Wissenschaftstheorie, die sich als Magd der Wissenschaften versteht und damit begnügt, theoretische Satzsysteme auf ihre formale Kohärenz zu überprüfen, thematisiert die Konstruktive Wissenschaftstheorie »die Handlungen und Verfahrensweisen, die die Formulierung erst ermöglichen«. Im Rekurs auf Janich, Kambartel und Mittelstraß unterscheidet Weingarten zwischen deskriptiver und normativer Wissenschaftstheorie und spricht sich klar für Letztere aus: »Deskriptive Wissenschaftstheorie kann sich also gegenüber vorfindlichen Wissenschaften ausschließlich affirmativ, nicht aber kritisch verhalten.«135 Wissenschaftstheorie begreifen die vier Autoren ausdrücklich als Wissenschaftskritik.
In diesem Punkt trifft sich die hier vertretene Kulturphänomenologie erneut mit dem Methodischen Kulturalismus. Wissenschaftliche Aussagen büßen ihren Anspruch auf objektive Geltung ein, wenn sie sich nicht zirkelfrei auf eine Reihe von Handlungen zurückführen lassen, die schrittweise aufeinander und am Ende auf lebensweltlichen Handlungs- und Herstellungszusammenhängen aufbauen. Valérys Wort von der Wissenschaft als Gesamtheit der Rezepte und Verfahren, die immer gelingen, weist in die gleiche Richtung. Ebenso wie Husserls Bemühung – wie überzeugend sie im Detail auch sein mag –, die reine Geometrie aus der empirischen Feldmesskunst abzuleiten. Fleck wiederum hat eingehend die Zirkulation wissenschaftlicher Tatsachen vom Zeitschriftenaufsatz über Lehrbuch bis hin zur Popularisierung für Laien studiert und die Zunahme des Sachcharakters auf Kosten des Tataspekts nachgewiesen.136 Die in diesem Buch vorgebrachte Wissenschaftskritik bezieht sich daher auch nicht so sehr auf das, was der Forscher im Labor tut, sondern vielmehr darauf, wie darüber gesprochen wird. Oft genug ist es jedoch auch der Forscher selbst, der so spricht.
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