»Frau Manaresi, hat man Ihnen nicht ausgerichtet, sich unverzüglich bei mir zu melden?«, platzte Trachsel urplötzlich in die Unterhaltung der beiden. »Kommen Sie mit, ich habe eine ultradringende Information für Sie.«
»Okay, okay, ich komme,« maulte Lisa. Widerwillig folgte sie Trachsel in sein Chefbüro.
»Wollen Sie sich setzen? Leider habe ich eine schlimme Nachricht für Sie.«
»Nein danke, ich stehe lieber.«
»Wie Sie wollen. Es tut mir leid, aber ich muss Ihnen mitteilen, dass wir heute Morgen Ihre Schwester Siri tot aufgefunden haben.« Trachsel berichtete in knappen Sätzen von der ursprünglichen Meldung des Spaziergängers, vom Leichenfund an der Aare und vom Besuch bei ihrer Mutter Elin.
»Es deutet alles auf einen Suizid hin«, meinte Trachsel. »War Ihnen bekannt, dass Ihre Schwester psychische Probleme hatte? Gab es andere Schwierigkeiten, mit denen sie zu kämpfen hatte?«
»Was soll der Unsinn? Siri sprühte vor Lebensfreude. Sie war überall beliebt, gesund und stand mit beiden Füßen fest im Leben. Nie würde sich meine Schwester umbringen.«
»Das glaube ich Ihnen gerne, trotzdem scheint aktuell ein Suizid aufgrund des Sturzes von der Kirchenfeldbrücke die wahrscheinlichste Todesursache. Selbstverständlich werden wir auch alle anderen Möglichkeiten prüfen«, fügte Trachsel hinzu. Seine Haltung verriet Lisa, dass er den Fall schon mehr oder weniger abgeschlossen hatte. Tatsächlich gingen Trachsel genau diese Gedanken durch den Kopf.
»Es ist immer dasselbe bei diesen Suiziden. Ich bekomme stets dieselben Antworten zu hören«, entgegnete Trachsel. »Unsere Tochter, nein, nie würde sie sich das Leben nehmen. Sie ist glücklich und eine starke Persönlichkeit. Immer das Gleiche.« Zum wiederholten Mal erklärte Trachsel, was sich beim Erhalt einer schlechten Nachricht beim Empfänger abspielte. Der überhebliche, vor Selbstvertrauen strotzende Trachsel hatte keine Ahnung, dass sich dieser vermeintliche Suizid schon bald zu einem wahren Albtraum entwickeln würde.
Kapitel 3
Bern, Altenberg, 15. November 2019, 09:30
Elin hatte gerade telefonisch ihren Mann Luca über den Besuch von Trachsel und ihren Fund im Zimmer von Siri informiert. Kurz bevor Trachsel bei Elin aufgetaucht war, hatte sie auf dem Pult im Zimmer von Siri einen Brief mit der Aufschrift »Für meine Lieben« gefunden. Ein Abschiedsbrief. Elin konnte nicht glauben, dass Siri ein Problem mit dieser Welt hatte. Nie hatte sie gehört, dass Siri die Welt grausam fand oder die Menschen egoistisch. Siri war von Grund auf positiv und sah immer das Gute in den Menschen und in allen Lebenssituationen. Der Inhalt des Briefes passte so ganz und gar nicht zu ihrer Tochter. Und dennoch – es war zweifelsfrei Siris Schrift.
Sollte sie ihre Tochter dermaßen verkannt haben, ging es Elin durch den Kopf. Konnte es sein, dass sie nicht bemerkt hatte, wie Siri von Problemen erdrückt wurde? Immer wieder liest man von solchen Fällen.
Dennoch war Elin froh, Trachsel vorerst nichts über diesen Brief verraten zu haben. Ihr Ehemann Luca war da allerdings anderer Meinung.
»Wir müssen transparent mit der Polizei kommunizieren und sie in ihren Ermittlungen so gut wie möglich unterstützen«, meinte Luca, als sie mit ihm telefoniert hatte.
Er hatte recht. Er hatte fast immer recht. Aber vorhin konnte sie diesem arroganten Polizisten den Brief nicht aushändigen. Sie würde es nachholen.
Es war kurz vor Mittag, als Elin im Büro von Chefkommissar Trachsel stand. Der konnte sein Glück kaum fassen. Mit dem Abschiedsbrief war der Fall so gut wie abgeschlossen. Zur Routine gehörte noch die endgültige Identifizierung der Leiche durch die Angehörigen und die finale Bestätigung der Echtheit des Briefes. Wenn alles gut lief, wäre dies bis morgen Abend über die Bühne. Kaum hatte Elin Manaresi die Wache wieder verlassen, tippte Trachsel seine neun Lieblingsziffern ins Mobiltelefon. Heute würde er sich in seinem Lieblingsrestaurant in der Berner Altstadt eine Emmentaler Kabiswurst mit Kartoffelsalat gönnen – zur Feier des Tages. Einen schwierigen Fall hatte er einmal mehr in kürzester Zeit souverän gelöst.
Kapitel 4
Bern, Schwellenmätteli, 15. November 2019, 17:30
Lisa saß hinter der Glasfront im Restaurant Schwellenmätteli und wartete auf ihren Kollegen Thomas Zigerli. Vom eindrücklichen Rauschen der Aare, die sich weiter unten über die gewaltige Mattenschwelle wälzte, war nichts zu hören. Es schien, als wäre der Fluss verstummt.
Thomas Zigerli war in Schwarzenburg, einer Kleinstadt im Kanton Bern, aufgewachsen. Seine Eltern führten dort seit Jahrzehnten ein kleines Kleidergeschäft. Zigerli war ursprünglich ausgebildeter Bankkaufmann. Mittlerweile arbeitete er seit einigen Jahren bei der Kriminalpolizei. Bereits kurz nach Lisas Stellenantritt wurde er zu ihrem besten Arbeitskollegen. Thomas und Lisa waren ziemliche Gegensätze. Gemeinsam war ihre Schwäche für gutes Essen. Lisa war zwar nicht die geborene Sportskanone – aber man traf sie einmal in der Woche beim Indoor-Klettern. Zigerli hingegen war der Inbegriff eines Antisportlers. »Sport ist Mord«, lautete seine Devise. Er war jemand, der alle Dinge hinterfragte. Entsprechend war er häufig am Grübeln und hatte manchmal Mühe, die Dinge so zu akzeptieren, wie sie waren.
Erst gegen 18 Uhr setzte sich der völlig durchnässte Zigerli an den Tisch von Lisa. Draußen hatte es im Verlauf des Nachmittags begonnen, wieder wie aus Kübeln zu schütten. Ganz so, als ob der liebe Gott die Spuren des Sturzes von Siri so rasch und so endgültig wie möglich aus der Welt schaffen wollte. In wenigen Sätzen schilderte Lisa Thomas, was sie bis anhin über den vermeintlichen Selbstmord ihrer Schwester wusste. Sie schloss mit der Bemerkung, dass sie nicht an einen Suizid glaubte.
»Und du bist dir absolut sicher, dass Siri nicht doch ein schwerwiegendes, belastendes Problem hatte?«, entgegnete Thomas.
»Ja, ich kenne Siri. Sie war nicht jemand, der Probleme mit sich herumtrug. Wenn sie etwas derart tief beschäftigt hätte, hätte sie dies mit mir geteilt. Da bin ich mir zu 100 Prozent sicher.«
»Jeder Mensch hat Geheimnisse. Vielleicht wollte Siri der eigenen Familie einfach nicht zur Last fallen, gerade weil die Probleme sehr ernst waren. Sie wusste, dass so etwas die anderen Familienmitglieder stark belasten würde.«
»Du tönst, als ob du bei der Polizei arbeiten würdest. Es gibt einen vermeintlich einfachen Lösungsweg. Dieser wird von ein paar Indizien gestützt, und schon ist der Fall ohne großen Aufwand gelöst.« Lisa redete sich allmählich in Rage.
»Jetzt beruhige dich doch«, versuchte Zigerli, sie zu beschwichtigen. »Es deutet einfach alles auf einen Suizid hin. Ich verstehe ja auch, dass dies schwer zu akzeptieren ist. Und überhaupt – ja ich arbeite bei der Polizei – du übrigens auch …«
Es war diese letzte Bemerkung, welche Lisa zur Explosion brachte. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, hatte sie in weniger als zehn Sekunden das Lokal verlassen. Die Zeit hatte allerdings gereicht, um dem verdutzten Zigerli den kalt gewordenen Latte Macchiato über seine beginnende Glatze zu kippen.
Auch der kalte Novemberregen konnte Lisa vorerst nicht beruhigen. Ihr italienisches Temperament, welches sie von ihrem Vater geerbt hatte, brachte sie des Öfteren in Schwierigkeiten. In der Regel waren diese Emotionen aber positiv. Sie halfen Lisa, Geschehenes zu verarbeiten. Und sie machten Lisa auch zu einer Person, welche bei allen Leuten sehr beliebt war, da sie ihre Gefühle wie ein offenes Buch mit sich herumtrug.
»Ich werde den Fall alleine aufklären«, murmelte Lisa gedankenverloren zu sich selbst. Sie beschloss, trotz des immer stärker werdenden Regens und der Dunkelheit, sich nochmals den nahen Fundort der Leiche unter der Kirchenfeldbrücke anzuschauen. Mittlerweile waren bereits alle Absperrbänder entfernt. Nichts deutete darauf hin, dass hier vor ein paar Stunden eine junge Frau zu Tode gekommen war. Wie jede Nacht verwandelte die majestätische Aare die sich spiegelnden Lichter der Stadt in glitzernde Sterne.
War Siri überhaupt durch den Sturz von der Brücke gestorben? War sie vielleicht schon vorher tot und erst danach von der Brücke geworfen worden?, ging es Lisa plötzlich durch den