schauen wir uns aber das verletzte Füßchen an«, zwitscherte Trachsel und schnappte sich Lisas rechten Fuß. Bevor sich Trachsel weiter mit Lisas Bein beschäftigen konnte, war diese mit einem lauten Schmerzensschrei wie ein unter Spannung stehender Bogen aufgeschnellt und stand jetzt mit leidendem Blick direkt vor Trachsel.
»Himmelherrgott, wie soll ich Sie so untersuchen? Sie müssen schon ein bisschen stillhalten«, wetterte Trachsel.
»Es tut mir leid, aber der Fuß schmerzt schrecklich«, versuchte ihn Lisa zu beruhigen. Langsam begann sich bei ihr Panik breitzumachen. Sie hatte sich in eine ausweglose Situation geritten. Die Aussicht, was in den nächsten Minuten folgen konnte, wollte sich Lisa nicht weiter ausmalen. Ihr Hirn arbeitete fieberhaft.
Trachsel setzte zu einem nächsten Untersuchungsversuch an. Er stieß die überraschte Lisa gleichzeitig an beide Schultern, sodass diese nach hinten auf die Schreibtischplatte kippte und dort unsanft mit dem Kopf aufschlug. Trachsel schien dies nicht zu bemerken, und wenn, dann ignorierte er es. Er war wie ein wilder Stier nur noch mit sich und seinen Trieben beschäftigt. Er nestelte ungelenk an seinem Polizeigurt. Exakt in dem Moment, als Trachsels Diensthose auf den sauber gescheuerten Linoleumboden hinunterrauschte, tauchte Zigerlis Kopf im Türrahmen von Trachsels Büro auf. Ihm bot sich ein filmreifes Bild. Eine attraktive Brünette in einem sexy Sportdress lag auf dem Rücken auf einem Schreibtisch. Dahinter befand sich ein Polizist in Diensthemd und Unterhosen, welcher gerade im Begriff war, über seine heruntergelassenen Hosen zu stolpern.
»Entschuldigung, Herr Trachsel. Ich wollte Sie bloß kurz fragen, ob der Termin für mein Mitarbeitergespräch mit Ihnen morgen um 9 Uhr für Sie passt. Sie haben mir den Termin nämlich noch nicht bestätigt.« Ein besserer Vorwand war Zigerli nicht eingefallen.
»Zigerli, Sie Vollidiot! Raus aus meinem Büro! Raus!« Es herrschte plötzlich dicke Luft.
Unter entschuldigendem Gemurmel verschwand Zigerli so plötzlich, wie er aufgetaucht war. Lisa war inzwischen wieder vom Tisch aufgestanden. Ihr brummte noch leicht der Kopf, aber sie war unendlich froh über Zigerlis Kurzbesuch. Weshalb Zigerli genau im richtigen Moment als Erlöser auftauchte, war Lisa ein Rätsel, einen Verdacht hatte sie allerdings. Egal.
Trachsel hatte seine Kleidung in der Zwischenzeit wieder den Dienstvorschriften angepasst – zumindest beinahe. Außer dem Zipfel seines hellblauen Diensthemdes, welcher keck aus dem noch immer offenen Hosenladen lugte, saß die Dienstmontur perfekt. Seine Abenteuerlust hingegen war am Boden.
Statt ein erfolgreicher Racheengel, war er wieder der Blödmann. Es ging jetzt nur noch darum, ohne weiteren Gesichtsverlust aus der Sache rauszukommen. Einer seiner brillanten Einfälle würde ihn retten. Es kam aber kein Einfall – zumindest nicht von ihm.
»Herr Trachsel, wenn Sie mir jetzt gleich die Bewilligung für die Rechtsmedizin ausstellen, bin ich in zwei Minuten weg und habe alles Geschehene für immer vergessen. Ich werde Thomas Zigerli bitten, mich in den Notfall eines der Berner Spitäler zu fahren.«
»Und wenn Sie es sich morgen doch anders überlegen?«, entgegnete der zweifelnde Trachsel.
»Bewilligung mit Unterschrift oder Anzeige wegen … Sie wissen was ich meine. Das ist mein Deal. Unverhandelbar.«
Keine zehn Minuten später tauchte Lisa, frisch umgezogen, in Zigerlis Büro mit Sporttasche und unterschriebener Bewilligung für die Rechtsmedizin auf.
»Thomas, kannst du mich sofort zur Rechtsmedizin fahren? In etwas mehr als einer Stunde machen die den Laden dicht. Ich muss um alles in der Welt vorher die Leiche meiner Schwester noch einmal sehen.«
»Die Worte Danke und Bitte scheinst du nicht zu kennen. Ich habe dir doch gesagt, dass es mit der Bewilligung bei Trachsel nie klappen wird«, entgegnete Zigerli leicht verschnupft.
»Habe ich die Bewilligung oder habe ich sie nicht?«, konterte Lisa gereizt.
»Wenn ich nicht mein Leben riskiert hätte, hättest du …«
»Ist ja gut, ich will mir gar nicht ausmalen, was hätte sein können, wenn du nicht den Termin für dein Mitarbeitergespräch vorhin mit Trachsel geklärt hättest. Danke, Thomas. Du warst echt ein Engel. Lass uns nun aber aufbrechen, wir können die Zeit in der Rechtsmedizin besser nützen, als uns hier zu streiten.«
Die übel gelaunte Dame an der Loge am Institut für Rechtsmedizin warf nur einen flüchtigen Blick auf das Gesuch. Dienststempel und Unterschrift von Kommissar Trachsel wurden gar nicht geprüft. Kurz ging Lisa durch den Kopf, dass sie sich den ganzen Zirkus hätte sparen können. Aber wer konnte schon wissen, dass mittlerweile auch in der Behördenstadt Bern einige Beamte eine ziemlich lasche Arbeitsmoral an den Tag legten.
Am Institut für Rechtsmedizin in Bern gab es acht Abteilungen. Die sterblichen Überreste von Siri befanden sich auf der Abteilung für forensische Medizin und Bildgebung. Mittlerweile war es bereits fast 16.30 Uhr. Lisa hoffte, dass die Mitarbeiter auf der forensischen Medizin eine bessere Arbeitsdisziplin zeigten als ihre Kollegin an der Loge. Die nüchternen Buchstaben »Forensische Medizin und Bildgebung« an der gelblich-braun verfärbten Glastür passten zu den hier stattfindenden Tätigkeiten. Obduktionen, histopathologische Untersuchungen, aber auch Abklärungen mit modernster Technik wie zum Beispiel die Dokumentation von Körper- und Objektbefunden mittels 3D optischem Oberflächenscanning oder Computertomographie. Zigerli lief ein Schauer über den Rücken. Am liebsten wäre er einfach abgehauen. Lisa schien seine Gedanken zu lesen.
»Komm, Thomas, lass uns endlich reingehen.«
Lisa drückte die Klinke der Abteilungstür und betete, dass sie nicht bereits verschlossen war. Die Tür war noch offen. Lisa und Zigerli schlüpften in den armselig beleuchteten Gang und hofften, auf einen Mitarbeitenden der Abteilung zu treffen. Weit und breit niemand. Totenstille.
»Es scheint, dass wir Tür für Tür abklappern und darauf hoffen müssen, noch einen pflichtbewussten Angestellten beim Leichenwaschen anzutreffen«, stellte Lisa lapidar fest. Die Bemerkung raubte Zigerli das letzte bisschen Motivation. Gerade als Lisa bei der ersten Tür ansetzen wollte, ging zwei Räume weiter eine solche auf. Auf den Gang trat eine vollständig in Weiß gekleidete Frau im mittleren Alter. Bei genauerem Hinsehen erkannten Lisa und Zigerli, dass die Kleidung doch nicht ganz weiß war. Überall befanden sich rote Spritzer. Es war davon auszugehen, dass es sich um Blutspritzer handelte.
»Was suchen Sie hier?«, raunte die Frau. Sie sprach mit einem starken slawischen Akzent. Ihre Körpersprache und ihr Tonfall sagten indessen: »Raus hier.«
»Das wird nicht einfach, auch mit Trachsels Bewilligung«, konstatierte Lisa.
»Wir kommen von der Berner Kriminalpolizei, Dezernat Leib und Leben. Hier ist ein Schreiben von Oberkommissar Trachsel. Wir wollen uns nochmals die Leiche der heute eingelieferten jungen Frau von der Kirchenfeldbrücke ansehen.«
»Da gibt es nichts mehr zu sehen«, blaffte die Frau in Rot-Weiß. »Die Leiche war mehr ein Fleischhaufen als ein Personenkörper. Sie ist bereits eingesargt. Der Sarg ist verschlossen.«
»Jälva skit!1 Die Einsargung war erst für morgen früh geplant. Haben Sie denn keine Dienstvorschriften?«
»Bleiben Sie schön auf dem Boden. An der Leiche gibt es nichts mehr zu untersuchen. Die Todesursache steht eindeutig fest: Sturz aus großer Höhe. Ich würde sagen, mindestens 50 Meter ist die gute Frau runtergesaust.«
»Die gute Frau war meine Schwester. Danke, dass Sie so respektvoll von ihr sprechen.«
»Oh, das tut mir leid«, stammelte die sichtlich beschämte Rechtsmedizinerin.
»Machen Sie sich keinen Kopf. Sie können mir helfen, indem Sie den Sarg nochmals öffnen.«
»Das geht nicht. Den Sarg könnte höchstens mein Vorgesetzter, Professor Entomon, öffnen. Der ist aber vor knapp zwei Stunden in den Zug nach Zürich gestiegen. Er reist zu einem internationalen Cnidarien-Kongress.«
»Cnida… was?«, stammelte Lisa.
»Cnidarien