André Schmutz

Das Schweigen der Aare


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brauchst dich nicht zu entschuldigen. Vielleicht hilft der Latte Macchiato meinem Haar zu neuem Wachstum. Bedarf wäre vorhanden. Ich habe von Anfang an nicht an einen Selbstmord von Siri geglaubt, aber das konnte ich dir gestern nicht mehr sagen, so wie du aus dem Lokal gerannt bist.«

      »Danke, Thomas.«

      Lisa mochte Thomas sehr. Sie waren echte dicke Freunde, die sich gegenseitig (fast) alles anvertrauten. Lisa war nie in Thomas verliebt gewesen, ganz im Gegensatz zu ihm. Er vergötterte Lisa seit dem Tag, als sie sich zum ersten Mal im Dezernat getroffen hatten. Am Anfang hatte Lisa seine ungelenken Komplimente, die kleinen Geschenke und die fast unterwürfige Hilfsbereitschaft genossen. Als Thomas sie auf dem gemeinsamen Nachhauseweg von einer Grillparty mit den Dezernatskollegen urplötzlich in einen dunklen Hauseingang drückte und seine feuchte Hand auf ihre rechte Brust drückte, schien die gemeinsame Freundschaft eigentlich für immer in Brüche gegangen zu sein. Dem plumpen Annäherungsversuch von Zigerli hatte Lisa mit einem überaus entschiedenen Tritt in Thomas’ Schritt ein jähes Ende gesetzt. Zigerli verbrachte im Anschluss zwei Tage im Spital. Ein gequetschter Hoden sowie zahlreiche Hämatome waren die unrühmliche Ausbeute seiner kopflosen Avancen. In den Wochen danach verlor Zigerli sieben Pfund an Gewicht, weil er vor lauter Kummer kaum mehr etwas aß. An sich wäre dies gar keine so schlechte Sache gewesen, wäre nicht die große Traurigkeit und die depressive Verstimmtheit hinzugekommen. Nach fünf Wochen hatte Lisa ein Einsehen. In einer über vier Stunden dauernden Aussprache verständigten sich die beiden darauf, wie ihre Freundschaft in Zukunft auszusehen hatte und wie nicht. In der Zwischenzeit hatte sich Zigerli damit abgefunden, dass Lisa für ihn unerreichbar war. Er genoss ihre gemeinsame Zeit und war glücklich, oft mit Lisa zusammen sein zu können.

      »Gestern Abend habe ich nochmals die Kirchenfeldbrücke und die Fangnetze untersucht«, begann Lisa. »Ich konnte nirgends eine noch so kleine Spur einer Beanspruchung durch eine Person entdecken. Ich bezweifle immer mehr, dass Siri von der Brücke gestürzt ist. Weder gewollt noch durch Fremdeinwirkung.«

      »Im Grunde gibt es drei mögliche Szenarien«, meldete sich nun Zigerli zu Wort. »Erstens: Siri hat sich selbst von der Brücke gestürzt. Wenn ja, bleibt immer noch die Frage, ob in suizidaler Absicht oder ob sie von jemandem dazu gezwungen wurde. Zweitens: Siri wurde bereits vorher umgebracht und anschließend von der Brücke geworfen.«

      »Diese Möglichkeit scheint mir bei der Breite der Fangnetze reichlich unwahrscheinlich. Außer, jemand hätte sich die Mühe gemacht, selber mit einer Leiche auf die Fangnetze zu steigen und diese anschließend in die Tiefe zu befördern.«

      »Da magst du recht haben«, pflichtete Zigerli Lisa bei. »Allerdings müssen wir alle Möglichkeiten in Betracht ziehen, schließlich sind wir nun die Ermittler. Drittens: Siri wurde anderswo von großer Höhe in die Tiefe gestürzt. Auch bei dieser Möglichkeit kann sie sich durch den Sturz die tödlichen Verletzungen zugezogen haben oder sie wurde bereits vorher umgebracht und im Anschluss in die Tiefe gestürzt, um exakt einen Sturz von einer Brücke vorzutäuschen.«

      »Das heißt, wir haben im Grunde vier Optionen«, präzisierte Lisa.

      »Ja, wenn du so willst, sind es vier Optionen.«

      »Die Möglichkeit, dass Siri gar nicht von der Kirchenfeldbrücke gestürzt ist, sondern dass ihre Leiche unterhalb der Brücke deponiert wurde, um einen Sturz vorzutäuschen, ist mir heute Nachmittag auch eingefallen. Der Abschiedsbrief von Siri passt aber nicht richtig dazu. Dieser deutet doch auf einen Suizid hin.«

      »Hast du den Brief mit eigenen Augen gelesen? Ist dir dabei nichts Verdächtiges aufgefallen? Theoretisch könnte der Brief auch von jemand anderem geschrieben worden sein«, mutmaßte Zigerli.

      »Ich konnte den Brief noch nicht persönlich sehen. Du hast recht. Der Brief könnte uns weiterbringen. Er ist immer noch bei meinen Eltern. Kommst du mit?«

      »Wenn es für deine Eltern okay ist.«

      »Thomas, es ist für meine Eltern okay.«

      Seit seinem Fiasko nach der Grillparty hatte Zigerli Hemmungen, die Eltern von Lisa zu besuchen. Bei der Begrüßung stieg ihm jedes Mal die Schamröte ins Gesicht, und er fühlte sich wie ein begossener Pudel. Lisa hatte ihm 1000 Mal versichert, dass die Affäre ein Geheimnis zwischen ihr und Thomas sei und selbst ihre Eltern nichts davon wüssten. Zigerli war sich dessen nicht so sicher. Die Begegnungen waren für ihn deshalb Teil der Buße für seinen Sündenfall.

      Von Lisas Studio bis zur Wohnung ihrer Eltern waren es weniger als 20 Minuten zu Fuß. Bereits wenige Sekunden nach dem Klingeln öffnete eine sichtlich erfreute Elin die Tür.

      »Hallå Mamma, dürfen wir kurz reinkommen?«

      »Schön, euch beide zu sehen, kommt rein. Coccolone ist auch da.«

      Mit Coccolone war Luca gemeint. Es war sein Kosename und bedeutete auf Deutsch so viel wie Kuschelbär. Wenn die Manaresis unter sich waren, genossen sie es, sich in einem oft wilden Mix aus Schwedisch, Italienisch und Deutsch zu unterhalten. Als Coccolone hörte, dass Lisa im Anmarsch war, hellte sich sein trauriges Gesicht schlagartig auf. Es bestand eine besondere Beziehung zwischen Luca und seiner ältesten Tochter. Die beiden waren sich sehr ähnlich. Deshalb verstanden sie sich in vielen Situationen, ohne miteinander sprechen zu müssen. In einem Punkt unterschieden sie sich aber grundlegend: Lisa war von Natur aus dominant. Sie hielt gerne die Zügel in der Hand und war glücklich, wenn sie ihren Willen durchsetzen konnte. Diese Seite hatte sie von ihrer Mutter geerbt. Luca hingegen war der sanfte, konfliktscheue und herzliche Padre – ein Coccolone eben.

      Nach einer herzlichen Begrüßung lenkte Lisa die Unterhaltung rasch in Richtung Abschiedsbrief. Der Originalbrief war tatsächlich noch bei ihren Eltern. Zwar hatte Trachsel darauf bestanden, das Original mitzunehmen und eine Kopie bei der Familie Manaresi zu belassen. Er hatte die Rechnung ohne Elin gemacht. Trachsel hatte kurz versucht, seine polizeiliche Autorität spielen zu lassen. Er war damit bei Elin ungefähr so sang- und klanglos gekentert wie ein Schlauchboot im Aarehochwasser.

      Ungeduldig wartete Lisa darauf, dass ihre Mutter ihr den Abschiedsbrief endlich aushändigte.

      »Danke, Mamma, Thomas und ich werden uns wahrscheinlich eine Weile mit dem Brief beschäftigen.« Mit diesen Worten verschwanden die beiden ins ehemalige Zimmer von Lisa, welches jetzt als Gästezimmer diente.

      Mindestens fünf Mal lasen Lisa und Zigerli den Brief. Es war ohne Zweifel die Handschrift von Siri. Der Brief war ein Original, keine Kopie. Er war mit Tinte geschrieben, fast so, als ob der Abschied stilvoll und nicht billig vonstattengehen sollte. Jedes Wort legten sie auf die Waagschale, sie hinterfragten jede Formulierung und suchten nach versteckten Hinweisen. Nichts. Deprimierend.

      Die Tatsache, dass der Brief echt zu sein schien, stützte natürlich die Hypothese des Suizids. Die Stimmung war am Boden.

      Und dennoch – irgendetwas in Siris Abschiedsbrief war nicht stimmig. Ganz tief in ihrem Unterbewusstsein erkannte Lisa eine Lampe. Sie leuchtete rot.

      Kapitel 8

      Bern, Waisenhausplatz, 17. November 2019, 12:30

      Die Nacht war niederschmetternd gewesen, ebenso der Morgen. Es gab einen Abschiedsbrief, der auf einen Selbstmord hindeutete, und es gab einen Leichenfundort, welcher diese Hypothese ebenfalls stützte.

      Hatte Trachsel doch die richtigen Schlüsse gezogen?, musste sich Lisa eingestehen.

      »Hallo, Lisa, wie stehen die Ermittlungen?«, platzte Zigerli in Lisas Mittagsmeditation. Ein kurzer Blick von ihr genügte, und Zigerli bereute seine unterschwellige Provokation.

      »War nicht so gemeint«, versuchte er, sich aus der Affäre zu ziehen.

      »Setz dich und lass uns noch einmal alles im Detail durchgehen«, entgegnete Lisa gereizt.

      Zusammen gingen Lisa und Zigerli nochmals chronologisch alle Geschehnisse und Indizien durch. Sie merkten gar nicht, dass die Mittagspause eigentlich längst vorüber war. Schließlich war es Lisa, welche eine entscheidende Eingebung hatte.

      »Ein Puzzleteil haben wir noch nicht