André Schmutz

Das Schweigen der Aare


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Leiche, hatte Lisa die sterblichen Überreste ihrer Schwester nicht zu Gesicht bekommen. Würde dort vielleicht ein entscheidender Hinweis zu finden sein? Morgen war die Abschiedsfeier geplant und übermorgen bereits die Kremation. Von ihren Eltern wusste Lisa, dass der Leichnam von Siri in der Rechtsmedizin direkt in den Sarg gelegt und dieser anschließend endgültig verschlossen wurde. Das alles hieß, die Leiche war längstens bis morgen früh noch auf der Rechtsmedizin. Auch wenn sie die Schwester von Siri war, würde es verdammt schwierig werden, in der Rechtsmedizin Zugang zur Leiche zu erhalten, es sei denn, die Kriminalpolizei hätte ein entsprechendes Gesuch ausgestellt.

      »Trachsel muss mir ein solches Gesuch zur Leichenschau und zur Einsicht in den Obduktionsbericht unterzeichnen«, murmelte Lisa mehr zu sich als zu ihrem Partner.

      »Das wird er dir nie im Leben unterschreiben«, entgegnete Zigerli.

      Er mochte recht haben. Zum einen hatte Trachsel den Fall bereits abgeschlossen, und zum anderen hatte er mit Lisa noch eine Rechnung offen. Der Oberkommissar hatte am letztjährigen Weihnachtsessen der Kriminalpolizei spätabends einen eindeutigen Flirtversuch bei Lisa gelandet. Flirtversuch war allerdings etwas untertrieben. Er hatte versucht, Lisa vor der Damentoilette zu küssen. Genau wie Zigerli musste der stark angetrunkene Trachsel auf äußerst schmerzhafte Weise mit der Wehrhaftigkeit der ältesten Manaresi-Tochter Bekanntschaft machen. Resultat seines stümperhaften Annäherungsversuchs waren ein blaues Auge und ein zerrissenes Hemd. Das Schlimmste aber waren Spott und Hohn der Arbeitskollegen. Noch Wochen nach der Feier hatte Trachsel das Gefühl, dass ein schadenfrohes Lächeln über die Gesichtszüge seiner Arbeitskollegen huschte, wenn er diesen im Büro begegnete. Obwohl seit dem Fiasko schon fast ein Jahr vergangen war, hatte sich bis anhin leider noch keine gute Gelegenheit ergeben, um an dieser hochnäsigen Praktikantin Rache zu nehmen. Zwar war Lisa als wissenschaftliche Mitarbeiterin angestellt, Trachsel bezeichnete sie aber absichtlich und despektierlich als Praktikantin. Wegen der offenen Rechnung wartete Lisa täglich darauf, dass er ihr einen gehörigen Stock zwischen die Räder werfen würde.

      Einen Gefallen von ihm zu verlangen und auch zu erhalten, dürfte ein schwieriges Unterfangen werden. Nahezu hoffnungslos. Es sei denn, man kannte die Schwächen seines Widersachers und drehte den Spieß um. Lisa hatte eine Idee, wie sie den Groll Trachsels möglicherweise in eine Gefälligkeit umwandeln konnte. In wenigen Worten schilderte sie Zigerli ihren Plan.

      »Bist du wahnsinnig? Das wird niemals klappen. Willst du dir das wirklich antun? Mit diesem Ekel?«, meldete Zigerli seine Zweifel an.

      »Thomas, du kennst mich inzwischen gut. Wenn ich ein Ziel habe, dann erreiche ich dieses auch«, posaunte Lisa selbstbewusster, als ihr zumute war.

      Es war inzwischen fast 15 Uhr– die Zeit drängte. Lisa und Zigerli verließen den kleinen Pausenraum und hofften, dass niemand etwas von ihrer überlangen Mittagspause mitbekommen hatte. Unbemerkt erreichte Lisa ihr kleines Büro. Vielleicht würde heute doch noch ihr Glückstag werden. Die Wache war wie ausgestorben, sodass Lisa unbemerkt ihre Sporttasche schnappen und sich zum Umkleideraum im ersten Untergeschoss aufmachen konnte. Lisa wusste, dass Trachsel trotz der happigen Abfuhr jederzeit und ohne zu zögern für ein Schäferstündchen mit ihr alles fallen und liegen lassen würde. Je sichtbarer sie ihre weiblichen Formen zur Schau stellte, desto einfacher würde es werden. Deshalb stürzte sich Lisa in ihre hautengen Lauftights und streifte sich ein pinkfarbenes Laufshirt über. Ab jetzt half nur noch gute Schauspielkunst und Beten.

      Ab in die Höhle des Löwen.

      Zuerst schien es, als ob ihre Glückssträhne weiter anhalten würde. Trachsel war in seinem Büro alleine und gerade damit beschäftigt, einen Schokoladeriegel in sechs gleichgroße Bissen zu zerschneiden. In der nächsten Stunde würde er sich alle zehn Minuten eine verdiente Stärkung gönnen. Er betrachtete gerade zufrieden sein Werk, als eine schlimm humpelnde Lisa in sein Büro platzte.

      »Herr Trachsel, es tut mir leid, dass ich einfach so bei Ihnen hereinschneie. Ich wollte heute ein bisschen früher Feierabend machen und noch bei Tageslicht eine Joggingrunde an der Aare drehen. Beim Hinausgehen bin ich unten an der Treppe gestolpert und habe mir den Knöchel verdreht. Es tut höllisch weh«, mimte Lisa mit schmerzverzerrtem Gesicht den sterbenden Schwan. Sie spielte ihre Rolle perfekt.

      »Dann wird es wohl nichts mit dem Rumrennen«, blaffte Trachsel. Er konnte ohnehin nicht verstehen, wie sich jemand freiwillig mehrmals pro Woche bei Wind und Wetter durch die Gegend kämpfte.

      »Sie sind doch quasi unser Arzt hier auf der Wache. Ihre Kollegen nennen Sie nicht ohne Grund Doktor Trachsel.« Er hatte zwar die obligatorischen Samariter- und Reanimationskurse besucht. Mehr aber nicht. Das Zertifikat für den Reanimationskurs hatte er sogar verpasst, da er beim Schlusstest die geforderten 80 Prozent an richtigen Antworten mit 47 Prozent knapp verfehlt hatte. Von Arzt konnte keine Rede sein. Von Medizinbanause hingegen schon.

      »Ich soll der Dame also den Fuß untersuchen? Haben Sie eigentlich eine Ahnung, wie eng der Terminplan eines Dezernatsleiters aussieht? Ich stelle fest, Sie haben keinen blassen Schimmer, unter welchem Druck ich tagtäglich hier den Laden am Leben erhalte.«

      Die Arroganz von Trachsel erstaunte Lisa immer wieder von Neuem. Das Ausmaß an Selbstüberschätzung schien kaum mehr übertreffbar. Dennoch schaffte es Trachsel, sich diesbezüglich immer wieder auf eine neue unrühmliche Ebene zu hieven.

      »Natürlich ist mir klar, wie viel Sie zu tun haben. Ich bin gerade ein bisschen verzweifelt, weil ich mit meinem verletzten Fuß nicht einmal Fahrrad fahren kann und nicht weiß, an wen ich mich wenden soll.« Diese Worte hauchte Lisa förmlich über Trachsels Pult, nicht ohne dabei ihre Reize ins beste Licht zu rücken. Für einen Moment konnte Lisa ein lüsternes Flackern in seinen Augen erkennen, und Trachsels Zunge strich kurz über seine Lippen.

      Der Fisch hatte angebissen.

      »Ich bin einfach zu hilfsbereit. Wenn ich Sie hier jetzt verarzte, heißt es für mich wieder Überstunden schieben. Aber kommen Sie schon, zeigen Sie Ihr Pfötchen mal her.«

      Lisa humpelte zu seinem Schreibtisch und setzte sich direkt vor ihm auf den Tisch. Die plötzliche Nähe machte Trachsels Mund ganz trocken. Zufrieden stellte Lisa fest, dass bis jetzt alles nach Plan lief. Lisa hob nun leicht ihr rechtes Bein und hielt Trachsel ihren Fuß mit einem leidenden Blick direkt vor seine Nase. Trachsel seinerseits hatte keine Ahnung, was er nun tun sollte – medizinisch gesehen. Diesen Verdacht hatte auch Lisa.

      »Können Sie sich bitte meinen Knöchel und das Sprunggelenk ansehen. Sie werden mir dann sicherlich sagen können, was am besten zu tun ist.« Um ihrer Aufforderung Nachdruck zu verleihen berührte Lisa mit ihrer großen Zehe ganz kurz die Nasenspitze von Trachsel. Genau in dem Augenblick, als er aufstand, um sich den Fuß doch anzusehen, ließ sich Lisa rücklings auf den Schreibtisch fallen. Sie lag nun auf Trachsels Schreibtisch, das rechte Bein in Richtung Trachsel ausgestreckt.

      »Herr Trachsel, bevor Sie mit der Untersuchung beginnen. Mir ist da gerade noch etwas anderes, Dringendes eingefallen. Morgen wird meine verstorbene Schwester auf der Rechtsmedizin eingesargt. Für mich wäre es sehr wichtig, dass ich sie noch einmal sehen und mich persönlich von ihr verabschieden kann. Ich habe diese Art, sich von einem Verstorbenen zu verabschieden, von meinen Eltern als Kind mitbekommen, und wir haben dies als Familie stets so gelebt. Meine Eltern konnten Siri heute Morgen nochmals sehen. Verstehen Sie mich?«

      Trachsel konnte nicht. Trachsel war inzwischen auf Betriebstemperatur und hatte seine eigenen, völlig andersartigen Ziele.

      »Können Sie mir eine entsprechende Bewilligung ausstellen, damit ich heute Abend oder morgen in der Früh nochmals zu meiner Schwester kann?«

      Im Grunde hatte Trachsel ganz und gar keine Lust, Lisa dieses Schreiben auszustellen. Eigentlich wäre dies eine perfekte Chance, um mich bei dieser arroganten Dame, zumindest ein erstes Mal, für die erlittene Schmach zu revanchieren, sinnierte Trachsel.

      Die Aussicht auf ein bevorstehendes Abenteuer, welches sich im Grunde pfannenfertig auf seinem Schreibtisch präsentierte, trübte Trachsels Sinne.

      »Also gut, ich unterschreibe Ihnen den Wisch. Das ist aber eine einmalige Ausnahme, die Sie ausschließlich meiner Gutmütigkeit