Frank Wilmes

Ein letzter Frühling am Rhein


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durchtrainierten Misstrauens passte.

      Wenn Kilian in sich gekehrt nachdachte, träumte er mit offenen Augen. Seine Frau Charlotte kannte das. Er schaute sie an, ohne sie bewusst wahrzunehmen. So ähnlich erging es jetzt seinem Kollegen Miko Reichenhall, der ihm aus drei Metern Entfernung zurief, dass Chira Walldorf doch diese Modetante sei. Keine Reaktion. Er kam näher und klopfte auf Kilians Schreibtisch. »Hallo, Chef, Chira Walldorf ist eine Weltberühmtheit.«

      Während die Männer der Spurensicherung in ihren weißen Overalls aus Vliesstoff mögliche Beweise sicherten, kniete sich der Gerichtsmediziner Albert Justus über die Leiche. »Oh, noch verdammt jung«, staunte er spontan.

      »Um es genau zu sagen: 28 Jahre«, bemerkte Kilians Kollegin Cosima Winkler und schaute sich den Personalausweis genauer an.

      »Schade für so ein junges Leben«, nuschelte der Mediziner und fragte, wer sie denn sei.

      Die Kommissarin wunderte sich über die Frage. »Ist doch egal, wer das ist. Das hat doch mit deiner Arbeit nichts zu tun.«

      »Mein Gott, bist du heute wieder empfindlich«, raunzte er zurück.

      »Das ist Chira Walldorf, das Model«, mischte sich Kilian ein.

      »Oh, dann kann ich mir ja die Aufzeichnung der Körpermaße sparen«, lächelte Albert provokativ in die Runde.

      »Wie, was?« Cosima schaute ihn frech an.

      Er schaute fröhlich zurück. »Also, wenn ich das recht überblicke, schätze ich ihre Maße auf 87-66-92.«

      »Arschloch!« Sie verließ den Raum. Kilian blieb.

      »Also, jetzt zur Sache, Albert, du kennst doch die Fragen aller Fragen?«

      »Logisch, wann und wie.«

      Kilian sah ihn ungeduldig an.

      Albert war die Ruhe selbst. Er summte leise, als würde er über etwas brüten, über einen Hinweis oder einen Verdacht, aber er meinte nur: »Ich sehe keine Gewaltspuren.«

      »Du siehst gar nichts?«, fragte Kilian ungläubig, schaute dabei zur Decke, als würde er dort seinen Glauben wiederfinden.

      »Kilian, alter Kumpel, lass den Stress raus.«

      »Oh«, intonierte er dann bedeutungsvoll, um eine Entdeckung anzukündigen.

      Kilian drehte sich sofort zu ihm um. »Ja?«

      »Wenn ich mir die Pupillen anschaue, den Schaum an und auf den Lippen und dann den Geruch bewerte, na ja, es könnte sich um Gift handeln.« Als Kilian spontan nichts sagte, ergänzte er: »Hast du verstanden: könnte!«

      »Wie kam das Gift in den Körper? Durch Selbsttötung?«, fragte Kilian pflichtbewusst.

      Er wusste zwar, dass der Brief, der auf der Leiche lag, ebenso wie der, der in den Briefkasten der Polizei geworfen worden war, nicht zu einem Selbstmord passte. Trotzdem wollte er nichts ausschließen. Er ließ nach Anhaltspunkten für einen Suizid suchen. Abschiedsbrief, angebrochene Medikamentenschachteln, Gläschen und Fläschchen mit giftigen Rückständen.

      Später müsste er noch in ihrem Leben herumwühlen. Einsamkeit? Liebeskummer? Trauer? Depressionen? Alkohol- und Drogenprobleme?

      Albert suchte auf den Venen mit einer Lupe nach Einstichspuren. Selbst wenn er welche gefunden hätte, müsste er gleichwohl die Obduktion abwarten, um verlässliche Informationen zu bekommen.

      »Nee, das wird hier nichts mehr.« Er packte seine Utensilien in sein Alu-Köfferchen und versprach: »Morgen mache ich euch glücklich und sage, wann und woran sie starb.«

      Nachdenklich offenbarte er beim Hinausgehen: »Wenn es sich tatsächlich um einen Giftmord handeln sollte, wäre das für mich eine Premiere. In meinen 26 Berufsjahren habe ich so etwas noch nicht erlebt, auch bundesweit kommt es eigentlich kaum vor.«

      Kilian schaute aus dem Fenster. Er sah eine Gruppe älterer Menschen vor einem der Ausflugsschiffe auf dem Rhein. Ein paar Jugendliche stellten Plastikhütchen in Rot, Blau, Gelb, Grün und Lila hintereinander auf, um sie dann mit ihren Skateboards zu umrunden. Der Freitag hatte seinen Nachmittag erst zur Hälfte absolviert. Aber schon jetzt füllten sich die Terrassen der Restaurants. Die fahrenden Eisverkäufer in ihren VW-Bullis mussten aufpassen, dass sie sich nicht gegenseitig die Kunden wegnahmen. Obwohl die Sonne immer mal wieder hinter einer Wolke verschwand und sie schwächelte wie ein ausgepumpter Bodybuilder, saßen auf den meisten Nasen Sonnenbrillen, als müssten sich die Menschen ihrer lieblichen Jahreszeit vergewissern, die nicht nur Wärme bringt, sondern auch die Natur zum Leben erweckt.

      Ihm gefiel dieser Anblick, weil der Mensch nicht für Matsch und Kälte geboren wurde. Er selbst brauchte den Aufbruch einer Jahreszeit, die ihn aus der Tristesse befreite.

      Er dachte darüber nach, wie schön es doch wäre, wenn Charlotte ihn nach der Arbeit mit einem Aperol Spritz begrüßen würde, um auf den Frühling anzustoßen. Das hatte sie allerdings noch nie getan.

      Er müsste Charlotte schon anrufen, um das Getränk konkret anzufordern. Aber damit wäre der Reiz des Moments verflogen, nämlich den Frühling mit seinen zarten Anmutungen und Zufällen ohne Plan und Ordnung einzufangen.

      Er hörte aus dem hinteren Zimmer: »Die Leiche kann in die Gerichtsmedizin.«

      Die Nachricht vom Tod der Berühmtheit ließ nur ein paar Stunden auf sich warten – wenn überhaupt. Plötzlich riefen scharenweise Journalisten in der Pressestelle des Polizeipräsidiums an, um Details zu erfahren. Der Pressesprecher musste sich selbst schlaumachen, worum es ging.

      Die Online-Ausgaben der großen Zeitungen reagierten auf den Tod mit reißerischen, spekulativen oder sachlichen Eilmeldungen:

      »Heute tragen die Engel Chanel«

      »Schneewittchen-Mord im Kloster«

      »Drogentod am Altar?«

      »Chira Walldorf ist tot«

      »Warum musste Chira Walldorf sterben?«

      Diese mediale Wucht, die wie nach einem Dammbruch schlammige Wassermassen ins Tal drückte, überwältige Kilian, der in seinem ganzen Leben vielleicht acht Sätze mit einem Journalisten gesprochen hatte. Bisher konnte er unbehelligt von der Öffentlichkeit seine Fälle bearbeiten. Aber jetzt wurde er zu einer Figur des öffentlichen Interesses.

      »Wer ist der Kommissar, der den Model-Mörder jagt?«, titelte eine Nachrichtenagentur. Besorgt rief ihn Charlotte an, er solle einen Anzug mit weißem Hemd anziehen. Diese Notfallbekleidung für repräsentative Anlässe hing permanent in seinem Büroschrank. Aber bisher gab es keinen Notfall. Er konnte auch nicht erkennen, warum die aktuellen Ermittlungen einen Anzug mit weißem Hemd erforderlich machten.

      Beziehungsweise: Er wollte Charlotte bewusst falsch verstehen. Trotz gehörte zu seinem Charakter, und er war mit seiner Art das, was Menschen manchmal als sonderbar oder kompliziert bezeichneten. Die Norm, wie ein Mensch geheimhin sein sollte, um den allgemeinen Erwartungen zu entsprechen, passte nicht in seine Welt. Das machte sich freilich auch an kleinen Dingen des Alltags fest. Er scheute die Petitesse durchaus nicht. So hasste er es zum Beispiel, eine Parfümerie zu betreten. Er sagte, er bekomme in der warmen Raumluft Kopfschmerzen von den unterschiedlichen Düften, die sich die Kundinnen auf die Haut sprühen ließen, um den Geruch zu testen. Außerdem mochte er es nicht, wenn die Verkäuferin ihm ein Parfüm-Pröbchen zum Mitnehmen anbot, weil er nicht als eitel gelten wollte. Männer mit Parfüm waren für ihn eitel. Aber Charlotte meinte, er sollte von der Verkäuferin alles annehmen und sich dafür bedanken. Sie liebe es, wenn Kunden übertrieben »Danke« sagten, das gebe ihr das Gefühl, eine Wohltäterin zu sein. Und die Wohltäterin würde ihr dann beim nächsten Einkauf sagen: »Ach, Sie haben aber einen netten Mann!« Gefolgt von dem Satz: »Warten Sie noch kurz, ich gebe Ihnen noch ein paar Pröbchen mit, die müssen Sie unbedingt ausprobieren.« So funktionierte also Frauen-Kommunikations-Konsum, dachte sich Kilian.

      Da war er natürlich sehr viel klarer im