Frank Wilmes

Ein letzter Frühling am Rhein


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zu Rot ein. Keine roten Tulpen. Keine roten Lippen. Kein roter Wein. Wahrscheinlich wusste er auch nicht, dass die Menschen meistens dann Rot einsetzen, wenn sie sich geschwächt fühlen und ihren Energiehaushalt füllen wollen. Wahrscheinlich war also die Polizistin seelisch nicht ganz auf der Höhe, aber er konnte diese Schwäche nicht ausnutzen.

      Cosima fragte ihn, ob er einmal in der Wohnung von Frau Walldorf gewesen war.

      »Nein«, antwortete er sehr bestimmt.

      »Nie?«, fragte sie zurück.

      »Niemals!«

      »Dann berichten Sie doch einmal von Ihren wenigen Begegnungen mit Frau Walldorf.«

      »Ja, gerne. Ich weiß aber nicht, was Sie unter Begegnung verstehen?«, fragte er umständlich zurück, um dann doch weiterzureden. »Was ist eine Begegnung? Ein Gespräch? Ein längeres Gespräch? Also, ich hatte mit ihr nur einige zufällige Hallo-Begegnungen. Ich schätze, dass eine Begegnung maximal zwei Sekunden gedauert hat.«

      »Für ein Hallo brauchen Sie zwei Sekunden? Das geht doch schneller!«

      »Ich sagte ja auch: maximal zwei Sekunden.«

      Cosima merkte, dass ihr die Befragung aus dem Ruder laufen könnte. Er war zu indirekt, zu versteckt, zu defensiv. Das mochte durchaus daran liegen, dass er sie nicht ernst nahm. Er strich sich mehrmals mit der Hand durch seine langen Haare. Vielleicht war er auch nur deshalb nicht gut drauf, weil er sein Haargummi für den Pferdeschwanz nicht finden konnte. Denn er schaute häufig in den Spiegel. Einige Mal ging er nah heran, als wollte er einen Mitesser auf der Nase ausdrücken.

      Sie überlegte, woran Dr. Moritz sie erinnerte. Sie fühlte, dass sie es gleich wüsste. Als er seine Haare zusammenband und sein langer Hals somit in den Mittelpunkt seiner Physiognomie rückte, zumal er ein T-Shirt trug und kein Hemd, schoss ihr durch den Kopf: Er sah aus wie eine Giraffe, was natürlich Blödsinn war. Aber sie bekam den Zwang, ihn für eine Giraffe zu halten, nicht mehr aus dem Kopf. Sie empfand das als amüsant.

      Sie konzentrierte sich.

      »Was wissen Sie über Frau Walldorf oder anders gefragt: Was redet man über sie?«

      Die Giraffe saß aufrecht auf der vordersten Kante des Stuhls, schlug das linke Bein über das rechte Bein und entfernte Flusen von der kanarienfarbigen Leinenhose.

      Cosima kam sich bei diesem Gehabe fast wie ein Kerl vor. Sie saß bequem und angelehnt. Sie weigerte sich, es auf einen Wettbewerb für elegante Sitzhaltung ankommen zu lassen. Denn den würde sie haushoch verlieren. Sie schaute auf die Vitrine mit Porzellanhunden, Porzellankatzen und einem Porzellanaffen.

      Sie stellte sich vor, dass ihr gleich ein Butler mit weißen Handschuhen einen Earl-Grey-Tee mit einem Tropfen Milch bringe, dazu ein Plätzchen ohne Schokoladenüberzug, weil es weniger Kalorien hatte. Oder eine Zirkustruppe mit lustigen Clowns stürmte ins Wohnzimmer und verteilte Zuckerwatte. Oder ein Masseur bot ihr eine Nackenmassage an, damit sie ihre Fragen gelassener vortrage.

      »Ach wissen Sie, Frau Polizistin, Sie fragen, was ich von Frau Walldorf weiß …«

      »Oberkommissarin!«

      »Okay, eins zu null für Sie, das war Ihre Retourkutsche für den Doktor. Ich mag aufgeweckte Frauen, die klar reden wie aus der Pistole geschossen. Oh sorry, das mit der Pistole lassen wir mal lieber. Also Frau Oberkommissarin, ich erwähne gerne Ihren Titel, aber ich muss schon sagen, das ist eine sehr lange Dienstbezeichnung, da muss ich ja dreimal Luft holen, ehe ich das Wort ausgesprochen habe. Was ich Ihnen aber unbedingt sagen möchte: In diesem Haus wird nicht getratscht. Wir leben quasi in einer tratschfreien Zone. Ich finde das sehr bemerkenswert.«

      Cosima veränderte ihren Tonfall wie eine Lehrerin gegenüber einem Schüler, der schon wieder seine Hausaufgaben nicht gemacht hat. Sie ging in sich, bleib locker, zieh dein Ding hier durch, lass dich nicht von der Giraffe beeindrucken.

      »Ich habe nicht danach gefragt, wie Sie oder die anderen Hausbewohner ein Gespräch führen, sondern, was Sie über Frau Walldorf wissen oder was man über sie sagt.«

      »Natürlich wissen wir, dass Frau Walldorf eine Berühmtheit ist, äh, war, und wenn wieder eine große Story über sie in der Zeitung stand, war das ein Gespräch wert, oder wenn da Schaulustige vor dem Haus standen. Viele wussten ja, dass sie hier wohnt.«

      »Wer hat sie denn besucht, ich meine, hatte sie häufiger Besuch, haben Sie Besucher gesehen?«

      »Da fragen Sie den Portier, an dem müssen alle vorbei, die Hausbewohner und die Besucher.«

      »Sie haben nie Besucher oder Besucherinnen gesehen?«

      »Wer zu Frau Walldorf wollte, fuhr mit dem Fahrstuhl direkt zu Ihrer Wohnung, und im Eingangsbereich habe ich nichts gesehen, zumindest nichts Auffälliges. Ich sehe den Leuten ja nicht an, zu wem sie wollen.«

      Sie schaute auf ein übergroßes Gebiss, mit Goldblatt überzogen. Es stand in einer schwarz lackierten Kommode auf einem Glasregal. Dr. Moritz arbeitete weiterhin hartnäckig daran, unsympathisch zu wirken. Er wirkte gönnerhaft. Er pflegte seine Allüren.

      Nach dem Gespräch bedankte er sich bei Cosima für die Zeit, die sie sich für ihn genommen hatte.

      Sie war sprachlos.

      Beim Hinausgehen sah sie erst undeutlich, dann beim Nähertreten sehr deutlich ein gerahmtes Foto von Chira Walldorf mit der Aufschrift: »Für Max.«

      Sie las es laut vor: »Für Max.«

      »Ist doch schön«, erwiderte Dr. Moritz mit einer ungewohnten Helligkeit in seiner Stimme, als hätte er sie in diesem Augenblick nicht im Griff.

      Sie schaute ihm in die Augen. Er schaute zurück. Blick auf Blick. Wer jetzt zuerst wegschaute, hatte verloren.

      »Und nun?«, fragte er ungeduldig, um Bewegung in den Augenkontakt zu bringen.

      »Nun müssen Sie mir das erklären«, entgegnete sie ihm hart, fordernd, scharf, als müsste sie den Fall jetzt festmachen, festbinden, festkleben.

      Er lächelte herausfordernd und prüfte den Sitz seines Pferdeschwanzes. Offenbar wollte er in diesem Moment seinen Spielraum zwischen Verlegenheit und Überlegenheit ausloten. Vielleicht ärgerte er sich auch nur darüber, dass er das Foto vor dem Besuch der Polizei nicht weggelegt hatte.

      Er lächelte erneut. Allmählich ging ihr dieser Max Moritz mit seinem Lächeln auf die Nerven.

      Er reckte seinen langen Hals nach vorne: »Ach, entschuldigen Sie, ich bin wohl etwas begriffsstutzig. Das Foto gehört nicht mir, sondern meinem Freund. Der heißt auch Max.«

      Er machte eine kurze Pause, weil er dachte, die Oberkommissarin würde direkt etwas sagen oder fragen wollen, weil das aber nicht der Fall war, setzte er seinen Satz fort.

      »Oh, Sie dachten wohl, das wäre mein Foto, und ich hätte die Chira Walldorf eben doch persönlich gekannt. Gefährlich, gefährlich, so schnell kann man zum Beschuldigten werden, aber ich rede zu viel, sorry.«

      Cosima schaute in ihren Notizblock. Das tat sie immer, um Abstand zu gewinnen oder Abstand zu demonstrieren. In diesem Fall bedeutete Abstand, auf sein Geplänkel nicht einzugehen und ihn das auch spüren zu lassen. Als würde sie ihre Frage vom Notizblock ablesen, fragte sie ihn mit einer Geste der Beiläufigkeit, wo denn sein Freund überhaupt wohne.

      »Der Max wohnt nur am Wochenende hier. Während der Woche ist er auf seinem Bauernhof im Münsterland. Den hat er vor zwei Jahren gekauft, komplett umgebaut. Na ja, dort ist er von montags bis freitags, um Lieder zu komponieren, zu lesen und zu verstehen, wie Muse funktioniert, und am Wochenende will er Großstadt erleben. Aber sein erster Wohnsitz ist diese Wohnung, das können Sie beim Einwohnermeldeamt ganz schnell klären.«

      »Das mache ich doch glatt«, bemerkte Cosima trotzig und wollte von Dr. Moritz wissen, weshalb Frau Walldorf seinem Freund das Foto mit Widmung geschenkt hatte.

      Er zog zunächst seine Lippen übereinander, als wollte er auf diese Weise sein Lippenbalsam gleichmäßig verteilen.