wohl gesagt, komm, besorg mir von der Chira ein Autogramm, und der Fotograf hat noch für Max draufschreiben lassen. Das ist doch nett, oder?«
Auf dem Flur stöhnte sie die Luft, die sie in die Backen aufgesogen hatte, in einem Zug heraus, um ihre Erleichterung zu spüren, dass das Gespräch mit Dr. Moritz vorbei war. Sie schaute zur Decke, flehte den Satz in sich hinein: Bitte lieber Gott, lass mich heute Abend nicht von Giraffen träumen.
7.
»Chira Walldorf – war es Mord aus Liebe?«, titelte das Leute-Magazin »Glitzglotz«, als könnte man aus Liebe einen lieben Menschen umbringen. Darüber musste das Volk reden. An den Kassen der Supermärkte. An den Biertischen der Kioske. In den Schrebergärten. Wo auch immer. Die Menschen fantasierten, wie der Mörder Liebe in Tod umwandelte. Das Schlüsselloch konnte gar nicht groß genug sein, um hindurchzublinzeln in eine unheimliche Welt.
»Glitzglotz«-Chefredakteur Thomas Gardner musste sein Schlüsselloch in einer Talkshow verteidigen, an der zwei weitere Gäste aus der Mode und der Psychologie teilnahmen. Die Vertreterin der Modebranche, eine Unternehmerin für Damenoberkleidung aus Ostwestfalen-Lippe, schaute ihn angewidert an, zögerte kurz und fragte ihn dann: »Herr Gardner, besteht der Sinn Ihrer Arbeit darin, Unsinn zu schreiben?«
Herr Gardner blieb ruhig. Er wusste, dass die Kamera genau im Moment der Kritik auf ihn gerichtet war. Er zeigte sich dem Publikum erhaben, souverän und gönnerhaft, allerdings eine Spur zu lässig. Denn darin lag eine Überheblichkeit, die nicht zu seinen Lesern passte.
Die Moderatorin der Talkshow wollte von der Psychologin wissen, einer Professorin für Neuropsychologie, wie sich der unerwartete Tod einer Berühmtheit auf die Volksseele auswirke, und ehe sie antworten konnte, lästerte Gardner, dass Neuropsychologie doch etwas mit Hirnschädigung zu tun habe. Er drehte sich zum Publikum und fragte, ob wir hier alle hirngeschädigt seien? Das Publikum lachte, und die Psychologin erwiderte spröde sachlich, dass sie sich mit den zentralnervösen Grundlagen des menschlichen Erlebens und Verhaltens sowie ihren Veränderungen befasse. Die Moderatorin verzog ihre Lippen, und die Psychologin führte weiter aus, dass der unerwartete Tod einer Berühmtheit wie Lady Di oder John Lennon oder …
»Lange her«, giftete Gardner.
»Wenn also ein berühmter Mensch plötzlich stirbt, sterben Träume, denn die Menschen projizieren ihre Träume auf den Star. Er personalisiert das Schöne, Gute, Wunderbare, das sich vom Alltag abhebt, und mit seinem Tod entlässt er die Menschen plötzlich mit Wunden in ihren Alltag.«
Gardner, der zu seiner Anzugfarbe immer ein gleichfarbiges Einstecktuch trug, wartete auf seinen Auftritt. Auf seine große Nummer, um den schlau quasselnden Frauen endlich Paroli zu bieten.
Er lächelte die Moderation mitleidig an und bemerkte triumphierend: »Liebe ist nicht immer lieb, Liebe muss Hass und Wehmut aushalten, und wenn das einmal nicht möglich ist, verliert die Liebe ihren Halt, und das endet wie in diesem Fall recht tragisch.«
Die Talkmasterin fragte ihn mit wachen Augen, wie er das genau meine. Denn »Wehmut, Liebe, Tragik, das ist alles nicht neu, das hören wir fast jeden Tag von irgendjemandem von irgendwoher«.
Er lächelte noch klarer dieses »Ach Püppchen, du hast keine Ahnung« und bemühte sich um ein bedeutungsvolles Erscheinungsbild. Sprechtempo verlangsamen, Brille in die Hand nehmen und Blickkontakt suchen. Als er sich seines bedeutungsvollen Ausdrucks ganz sicher war, konnte er endlich davon sprechen, dass ihm aus dem Umfeld der Toten Informationen zugetragen worden seien.
»Zugetragen«, lästerte das Püppchen, »wer hat denn da was getragen? Muss ganz schön schwer gewesen sein.«
Gardner, noch ganz angetan von seiner Andeutung, hätte sich mit seiner Antwort gerne fünf Minuten Zeit gelassen, um die Begierde des Püppchens und der Zuschauer nach einer konkreten Antwort auszukosten und die Neugierde in Ungeduld zu verwandeln. Sag’s endlich, sag’s endlich, sag’s endlich.
Mit seiner Online-Redaktion hatte er bereits vorher ausgemacht: »Wenn ich rede, dann haut die Schlagzeile heraus.«
Er wusste genau, wie er seine Leser packen musste, mit Themen, die zornig, wütend, neidisch oder eifersüchtig machten. Als raffinierter Schleimer der Volksmeinung beherrschte er ohnehin das hinterhältige Zusammenspiel aus Vorurteilen und Intoleranz, und das Spiel ging so: Mehrheit gegen Minderheit, und die Mehrheit gewinnt immer.
Endlich sagte er dann: »Wir gehen davon aus, dass sich Chira Walldorf im lesbischen Umfeld bewegt hat und dass dort die Ursache für den Mord gefunden werden muss.«
Ehe das letzte Wort gesprochen war, hatte »Glitzglotz« schon seine vorbereitete Schlagzeile scharf gestellt:
»Mordverdacht um Lesbenaffäre.«
Die Nachrichtenagenturen und Online-Ausgaben von weiteren Tageszeitungen nahmen die Schlagzeile sofort auf und machten daraus ihre eigene Headline.
»Gerüchte um Chira Walldorf: Liebte sie Frauen?«
»Musste das Model sterben, weil sie eine neue Geliebte hatte?«
»Drama um die Liebe?«
Kilian spürte, dass seine geduldige Gelassenheit zarte Risse zeigte, wie ein Muskel nach überhartem Training. Die Zeit saß ihm im Nacken, weil die Medien Druck machten. Sie schossen mit Schlagzeilen und Schlagworten. Immer schwang der Vorwurf mit, die Polizei tue zu wenig. Sie sei nicht wendig genug und viel zu brav. Beschützt uns endlich.
Immerhin, Kilian verstand nun, wie sich ein Politiker unter medialem Dauerbeschuss fühlt oder ein Bundesligatrainer, dem nach jeder Niederlage sein baldiger Rausschmiss vorausgesagt wird.
Kilian wusste selbst: Wenn ein Fall in zwei, drei Tagen nicht gelöst wird, wird es mit jedem Tag schwerer. Aber was sollte er mit dieser Erkenntnis anfangen?
»Es kommt, wie es kommt«, sagte er so daher. Er wollte keinen tiefen Gedanken aussprechen, sondern einfach etwas sagen, das nach Gelassenheit klang.
8.
Eine Analyse der Verbindungen auf dem Laptop von Chira Walldorf ergab, dass ihr Nachbar Jürgen Wolters in den vergangenen acht Wochen drei E-Mails an sie geschrieben hat. Er diente sich darin als ihr Anwalt an, der sich gerne um rechtliche Alltagsfragen kümmern würde. Sie hatte keine dieser E-Mails beantwortet.
9.
Als Modeverkäuferin einer Kette, die sich darauf spezialisiert hatte, die Haute Couture mit billigen Stoffen nachzumachen und an junge Leute zu verkaufen, legte die junge Frau aus dem Ruhrgebiet Wert auf einen »gewissen Status«. So redete kein Mensch in ihrer Stadt, aber immerhin: Um dem Reden ein Alibi zu verleihen, fuhr sie gerne nach Düsseldorf, um mal etwas anderes zu sehen, wie sie sich ausdrückte.
Natürlich gab es anschließend immer viel zu erzählen vom Bummel auf der sündhaft teuren Königsallee, wo all die Rang-mit-Namen-Boutiquen vertreten waren, und ihr fiel auf, wie überdreht die Verkäuferinnen dort wirkten. Vielleicht waren sie auch nur stolz darauf, für eine Luxusmarke arbeiten zu dürfen, die sie sich selbst niemals leisten konnten. Vielleicht wäre eine gewisse Heiterkeit auch unpassend. Wer für einen Pullover 1.850 Euro bezahlt, erwartet vom Personal respektvolles Verhalten. Angemessene Distanz. Ruhige Stimme. Jede Unebenheit im Aufritt würde das Kaufritual erheblich stören.
Ihr kleines Badezimmer mit einem überdimensioniert großen Spiegel war ihr Sehnsuchtsort. Er war umrahmt mit 16 Glühbirnen, um das Gesicht fasergenau auszuleuchten. Wie eine Sonne aus der Steckdose verbreitete dieses Licht Wärme für ein Gefühl der Genugtuung. »Das bin ich. Ich bin die Schönheit. Die Engel werden es bezeugen.«
Von oben betrachtet wirkte ihr Badezimmer wie ein Atelier. Ordnung würde nur stören. Chaos bedeutete Leben. Ein Leben ohne Anpassung. Wild. Frei. Selbstbestimmt. Lebe dein Leben und nicht die Erwartungen anderer Menschen.
Sie lächelte in sich hinein und die Konturen ihres Gesichtes offenbarten einen Stolz, der auf den großen Applaus wartete. Was in diesem Leben wirkte, war großes Theater. Die kriechende Raupe mutierte zum begehrten