Hans W. Cramer

Westfalengau


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sich vieles ändern, dachte Sabine traurig. Als Polizistin schon mit 25 Jahren berufsunfähig zu werden, war ein harter Schlag. Wie es mit ihr weitergehen sollte, stand noch in den Sternen, aber Philo kümmerte sich so rührend um sie, dass Sabine sich keine allzu großen Sorgen machte.

      »Können wir?«, fragte sie ihren Freund, der sich offensichtlich in seinem neuen Outfit bestehend aus Jeans, T-Shirt und einfachem Sakko deutlich wohler fühlte.

      Eine halbe Stunde später quälten sich Sabine und Raster durch den erwarteten Freitagnachmittagstau am Autobahnkreuz Dortmund-Nordwest.

      »Wir hätten vielleicht doch durch die Stadt fahren sollen«, meinte Sabine mehr zu sich selbst als zu Raster.

      »Macht doch nichts. So haben wir Zeit für uns.« Er stemmte die Füße auf die vordere Ablage und erntete dafür einen ärgerlichen Blick seiner Freundin, den er geflissentlich ignorierte. »Erzähl mir ein bisschen mehr von deiner Großmutter. Wie ist sie so, was hatte sie für ein Leben, wo wohnt sie überhaupt genau? Wir hatten noch gar keine Gelegenheit dazu«, bat er.

      »Ach, ich weiß gar nicht, wo ich da anfangen soll«, meinte Sabine zögerlich. »Für mich war sie halt unglaublich wichtig, nachdem meine Eltern damals bei dem Verkehrsunfall ums Leben gekommen sind. Ich war oft bei ihr, wir haben uns unterhalten, vor allem natürlich über meine Eltern, aber auch Kindheitserinnerungen aufgefrischt. Die Ferien bei meiner Großmutter waren immer das Größte. Sie hat einen großen Gutshof in der Nähe von Holthausen, nördlich von Dortmund-Eving. Ein kleines Dorf mit zwei Kneipen, ein paar Handwerkern und sogar einer Tankstelle. Knapp drei Kilometer außerhalb liegt der Gutshof. Früher, ich glaube seit 1820 oder so, wurde dort intensiv Landwirtschaft betrieben. Durch die beiden Weltkriege ging dann alles den Bach runter, bis mein Urgroßvater den Hof wieder aufgebaut hat. Mittlerweile sind die Stallungen an einen Pferdebesitzer verpachtet, der wiederum zwei Ferienwohnungen vermietet. Der Reitbetrieb geht nach wie vor ganz gut, soweit ich weiß. Früher bin ich auch oft geritten.«

      »Gut, das waren alles richtig wichtige Infos«, grinste Raster, »was ich aber eigentlich wissen wollte, war, wie sie so ist. Was ist sie für ein Typ?«

      Sabine schwieg eine ganze Weile, während sie sich auf den mittlerweile etwas flüssigeren Verkehr konzentrierte. »Oma ist der beste, klügste und warmherzigste Mensch, den ich kenne«, brach es schließlich aus ihr heraus.

      Raster wartete einen Moment, bis er sie fragend anschaute. »Aber?«

      »Hast du das Aber tatsächlich gehört? Du bist doch sonst nicht so sensibel. Nein, im Ernst. Da ist nichts. Sowohl als Kind als auch später während des Studiums waren die Zeiten bei Oma immer die Highlights. Das Tolle war, dass ich schon früh mit fünf Jahren ein Nachbarmädchen kennengelernt habe, mit dem ich die wildesten Abenteuer erlebt habe.«

      »Was denn für Abenteuer?«, fragte Raster neugierig.

      »Na ja. Kleine Katzenbabys versorgen, Ponyreiten, auf Bäume klettern, Äpfel von den Bäumen stibitzen und solche Sachen halt.«

      »Ach, diese Abenteuer. Ich verstehe«, meinte Raster und verdrehte die Augen.

      Und natürlich gab es ein Aber, dachte Sabine. Doch wie sollte sie ihm davon erzählen, wenn sie es sich selbst nicht erklären konnte.

      2. Kapitel

      Brighton, Südengland, April 2017

      Paul Fisher stand am Fenster der kleinen Wohnung im ersten Stock eines heruntergekommenen Hauses in der Portland Road. Er starrte durch das beschlagene Fenster auf die regennasse Straße, wo nur wenige Passanten, den Pfützen ausweichend, ihrem Ziel entgegen eilten. Wiederholt strich er sich mit beiden Händen über die Arme, um sich etwas Wärme zu verschaffen. Er trug einen dunkelgrauen, kratzigen Wollpullover und feste Bluejeans. Seine Füße steckten in ledernen knöchelhohen Boots. Trotzdem griff ihn die klamme Kälte der Wohnung mehr an, als ihm lieb war. Die meiste Wärme wurde durch den ständig röhrenden alten Kühlschrank produziert, der an einer Wand des nur karg eingerichteten Raumes stand. Außerdem juckte seine Narbe unterhalb des rechten Auges, was immer schon ein schlechtes Zeichen war. Die Narbe hatte er sich bei einer Kneipenschlägerei vor Urzeiten zugezogen. Sie war zwar klein, zog aber das rechte Unterlid ein paar Millimeter Richtung Nase, wodurch diese Gesichtshälfte immer traurig aussah, auch wenn die andere Seite lachte.

      Der Coop-Laden gegenüber war mal wieder aus unerfindlichen Gründen geschlossen, stellte Paul in einem weit peripher liegenden Teils seines Gehirns fest, während seine Gedanken woanders ihre Bahnen zogen.

      Was konnte er schon dafür, dass er hier gelandet war? An ihm lag es nun wirklich nicht. Es war ihm bewusst, dass er klug genug war, um etwas anderes als das hier, auf die Beine zu stellen. Aber welche Chancen hatte das Leben ihm denn gegeben? Ach was, das Leben; seine Eltern hatten ihm letztendlich das alles eingebrockt. Allen voran sein Vater, der alte Hurenbock. Eines Tages hatte es seiner Mutter gereicht, ständig Beweise für eine neue Schlampe zu finden, die er unbedingt hatte abschleppen müssen. Die Trennung war unvermeidlich. Aber damit hatte das Drama erst so richtig an Fahrt aufgenommen. Er selbst war damals gerade einmal zehn Jahre alt, sein neun Jahre älterer Bruder diente seit Kurzem in der Marine, und so war er dem, was kam, hilflos ausgeliefert. Sein Vater weigerte sich, Unterhalt zu zahlen, sodass die Mutter mit drei Putzjobs die kleine Familie erhalten musste. Die bisherige Wohnung konnte sie trotzdem nicht finanzieren, und so fanden sie sich schon bald in einem Drecksloch von Sozialwohnung in Preston wieder. Hier, im Preston Park, lernte Paul mit 13 seine erste Gang kennen, mit der er kleinere Unternehmungen startete, die am Rande der Legalität lagen. Aber was hätte er denn anderes machen können? Die Mutter wiederholte mantramäßig, dass sie alles tun würde, damit das Geld reiche, und sein Job wäre es, verdammt noch mal, alles dafür zu tun, dass er eine vernünftige Schulausbildung bekäme. Die Schule, ha! Es war einfach alles nur langweilig. Paul hatte schon früh gemerkt, dass der angebotene Stoff für ihn ein Klacks war. Das Wissen, dass er die schulischen Inhalte beherrschen könnte, reichte ihm völlig. Folglich wurden die Noten trotz Ermahnungen der Lehrer und der Mutter immer schlechter, bis er nach der elften Klasse mit einem miserablen Zeugnis die Comprehensive School beendete. Andere Dinge waren eben interessanter und spannender.

      Er begann unter massivem Druck seiner Mutter eine Ausbildung in einer Autowerkstatt, wo er seine erste große Liebe traf: Sarah, Tochter seines Chefs und mit einer unersättlichen Lebensfreude ausgestattet. Sie schmiss das Büro der kleinen Werkstatt, pflegte die Kundschaft auf ihre unnachahmliche, charmante Weise, schäkerte und flirtete, wo es nur ging und verdrehte schlichtweg der gesamten Männerwelt die Köpfe. Eines Tages, Paul erinnerte sich noch gut daran, es war der Abend nach seinem 18. Geburtstag, ergab es sich dann, dass Sarah, die Sarah Dickinson, Tochter von Peter Dickinson und Schwarm aller normalfühlenden Männer, ihn, den schmächtigen Paul, zu einem Drink einlud. Danach ging es sehr schnell. Es waren die wunderbarsten Tage in Pauls bisherigem Leben. Vergessen waren die Kumpel im Preston Park, vergessen die kleinen und größeren Gaunereien. Es gab nur noch Sarah. Aber es waren eben auch nur Tage. Wenige. Denn nach genau zwei Wochen war alles vorbei. Ohne Angabe von Gründen wurde Paul von Sarah versetzt, und nur drei Tage später steckte ihm ein Kollege in der Werkstatt, dass sie mit so einem Typen aus der Innenstadt rumhängen würde.

      Das war zu viel. Er schmiss die Ausbildung, zog von zu Hause aus und kroch bei seinem Freund Keith unter. Ab diesem Zeitpunkt begann die eigentliche kriminelle Karriere des Paul Fisher. Aber mal ehrlich: Was konnte er denn dafür?

      »Werden die Reds es dieses Jahr schaffen? Was meinst du, Paul? Seitdem dieser Klopp Trainer ist, geht es echt spürbar bergauf!«

      Jäh aus seinen Gedanken gerissen, drehte sich der Angesprochene seufzend um und betrachtete kopfschüttelnd seine drei Kumpel, die auf den Sofas der zerschlissenen Sitzecke herumlümmelten.

      Rechts saß sein alter Freund Keith, ein Bein lässig über die Lehne des Sessels geschwungen. Wie immer cool und abgeklärt, eine halb abgebrannte Kippe im Mund, dünn wie ein Spargel und fast immer grinsend. Er war der Einzige, der aus der Zeit des Preston Parks übriggeblieben war. Genauso alt wie er, waren sie über all die Jahre – Paul dachte kurz nach, es waren tatsächlich schon 21 – unzertrennlich geblieben. Sogar das eine Mal, als Paul für zwei