Gesicht Paul zugewandt, saß Simon. Ein dunkelhäutiger Typ, gerade einmal 23 Jahre alt, der erst seit wenigen Monaten bei ihnen war. Eigentlich ein ganz cleverer Bursche, wenn er nur nicht so viel reden würde, dachte Paul. Und vor allem fast ausschließlich über Fußball, es war zum Haareraufen.
»Lass Paul in Ruhe, Simon«, antwortete der Vierte im Bunde. »Er hat bestimmt noch wichtige Dinge durchzuspielen, bevor es morgen ernst wird, stimmt’s, Paul?« Ethan war klein, so schmal wie Keith, hatte aber eine ganz andere Körpersprache. Den Rücken immer krumm, machte er sich noch kleiner, als er sowieso schon war. Dazu kamen die fettigen Haare, deren größter Teil schräg auf seiner linken Stirn klebte. Auch die stets abgerissene Kleidung zeigte sein fehlendes Selbstbewusstsein. Wie er vor etwa einem Jahr zu ihrer Gruppe gestoßen war, konnte Paul kaum noch erinnern. Bei einem kleineren Coup war er zufällig da gewesen und hatte ihnen geholfen. Na, hoffen wir das Beste, dachte Paul besorgt. Morgen wird es sich zeigen. »Ist schon gut, Ethan. Lass Simon ruhig quatschen. Mir ist das vollkommen schnuppe, wer dieses Jahr Meister wird. Ich möchte nur, dass alles glatt läuft. Sollen wir noch einmal die einzelnen Schritte durchgehen? Keith?«
»Von mir aus. Dann komm aber her, sonst bekommt Simon eine Genickstarre. Schnapp dir ein Bier und setz dich zu uns.«
Paul tat, wie ihm geheißen. Nach dem ersten Schluck Lagerbier aus der Flasche begann er zum vielleicht 100. Mal, seinen Plan für den kommenden Tag zu erläutern. Eine gute halbe Stunde, einige Nachfragen und entsprechende Antworten später kam Paul zum Schluss. »Also, Leute. Nochmal das Wichtigste zum Mitschreiben. Völlig egal, was ihr in den Kassen vermutet, haltet euch nicht damit auf. Es geht ausschließlich um die Schließfächer. Ist das klar? Ich weiß zwar nicht, was wir dort finden, aber die Wahrscheinlichkeit, dass das wesentlich mehr ist als alles Bargeld, das die da vorrätig haben könnten, ist enorm. Mein Kumpel war da ganz sicher. Und wehe, einer von euch vergisst sein Spezialwerkzeug!«
»Ja, Papa. Wie oft denn noch? Alles klar. Jetzt lasst uns ein paar Bier zischen, und dann geht’s bald in die Falle, okay?«
Widerstrebend nickte Paul. Es musste einfach klappen. Die Chance war einmalig. Es hatte damit begonnen, dass er einige Monate zuvor in einem Pub in Worthing am Tresen auf sein Bier wartete. Warum er an diesem Abend in Worthing war, wusste er nicht mehr. Neben ihm standen zwei Anzugträger, die sich lautstark über ihre Arbeit unterhielten. Offensichtlich Banker, wie Paul dem Inhalt des Gesprächs entnehmen konnte. Er bekam sein Bier und wollte gerade an seinen Tisch zurückgehen, da schnappte er einen Satz auf, der ihn stutzig machte und ihn bewegte, am Tresen stehen zu bleiben.
»Es wird auch höchste Zeit, dass diese alten Fächer ausgetauscht werden. Wann soll das gemacht werden?«, fragte gerade der eine, dessen rotgeränderte Augen von mehr als einem konsumierten Pint Zeugnis gaben.
»Im nächsten Mai. Also ehrlich. Wenn ich etwas Wertvolles einlagern wollte, dann sicherlich nicht bei uns. Der Vertreter der Firma, die die neuen Schließfächer einbauen wird, hat mir gestern erst gezeigt, wie leicht man diese alten Dinger aus den 60er-Jahren aufbekommt.« Es folgte eine detaillierte Beschreibung der notwendigen Werkzeuge und des Verfahrens. Paul wollte seinen Ohren nicht trauen. Was waren das denn für Knalltüten? Wenn ihr Chef wüsste, was die hier in aller Öffentlichkeit breittraten, würden die beiden keinen Job mehr bei irgendeiner Bank in England bekommen. Er folgte dem einen der beiden nach der Sperrstunde zu seinem Haus, notierte den zugehörigen Namen und zwei Tage später wusste er, bei welcher Filiale in Worthing die beiden arbeiteten.
Paul hatte all seine finanziellen Reserven aufgebraucht und sich zwei Reihen der alten Schließfächer sowie vier der Spezialwerkzeuge bauen lassen.
Man musste, so hatte er es verstanden, einen flachen, vorne zu einer Art Haken gebogenen Stahlstab unterhalb eines Faches in den Schlitz einführen, um dann mit einer ruckartigen Bewegung nach rechts und zu sich hin eine Arretierung zu lösen. Wochenlang hatten er und seine drei Kumpel gefummelt, geübt, verbessert und weiter geübt, bis sie schließlich alle das Öffnen im Schlaf beherrschten. Die Probefächer waren mittlerweile fachgerecht entsorgt worden, und auch die Haken würden morgen auf Nimmerwiedersehen verschwinden.
Natürlich konnte Paul sich nicht sicher sein, dass sich der ganze Aufwand lohnen würde, aber Worthing war ein altes, nicht unvermögendes Städtchen. Viele wohlhabende Damen in fortgeschrittenem Alter waren hier nach mehrfachen Kuraufenthalten hängengeblieben, und deren Schmuck und Wertgegenstände mussten ja nun einmal sicher aufbewahrt werden. Also standen die Chancen nicht schlecht. Dazu kam, dass Paul im Laufe seiner Karriere diverse Hehler, Antikhändler und Schmuckspezialisten kennengelernt hatte, sodass er davon ausging, nicht allzu lange auf der erhofften Beute sitzen zu bleiben. Denn das war, wie er aus leidiger Erfahrung wusste, die gefährlichste Zeit.
Müde rieb er sich mit den Händen übers Gesicht und strich seine langen braunen Locken nach hinten. »Leute. Ich pack’s dann mal, und ihr haut euch jetzt auch aufs Ohr. Kein Bier mehr, verstanden? Ich will nichts riskieren, nur weil einer von euch morgen verkatert ist.«
3. Kapitel
Im Norden Dortmunds, Juli 2019
Nachdem sie Holthausen in nordöstlicher Richtung verlassen hatten, tauchten sie in eine ganz eigene Welt ein: weitläufige Wiesen mit Hecken und kleinen Baumgruppen. Hier und da eine Kuhherde mit Kälbern, die träge wiederkäuten und dem Auto hinterherschauten. Nach fünf Minuten Fahrt durch diese Idylle machte Raster ein Wäldchen aus, durch das das rote Dach eines stattlichen Gebäudes zu erkennen war. »Ist es das?«, fragte er.
»Das ist es«, antwortete Sabine, ohne etwas Stolz in ihrer Stimme verbergen zu können.
Sie bogen nach links in eine schnurgerade Allee ein, die beiderseits von alten Eichen gesäumt war. Nach 500 Metern öffnete sich der Blick auf ein hufeisenförmiges flaches Gebäude. In der Mitte befand sich eine überdachte Durchfahrt, hinter der man einen kiesbedeckten Innenhof erreichte. An der gegenüberliegenden Seite erhob sich der eigentliche Gutshof. Ein klassischer Herrensitz, eigentlich eher typisch für das Münsterland, das allerdings auch in Steinwurfnähe begann: breit mit mittiger Eingangstreppe, rotem Giebeldach und drei Etagen. »Die übrigen Gebäude beherbergen die Stallungen, die zwei Ferienwohnungen und Wirtschaftsräume«, erklärte Sabine ihrem Freund, während sie am rechten Rand des Vorplatzes den Wagen parkte. »Der Verwalter lebt auch im Haupthaus, da ganz links. Ist ein total netter Typ. Friedrich Ehlert heißt er, wird aber von allen nur Fritz genannt. Du wirst ihn mögen.«
Sabine und Raster schnappten ihre Taschen aus dem Kofferraum und steuerten auf die breite Freitreppe zu.
»Es scheinen ja schon einige Leute da zu sein«, meinte Raster und wies auf mehrere Fahrzeuge, die weiter links geparkt waren. In diesem Augenblick öffnete sich die reich verzierte Haustür, und heraus trat eine freundlich lächelnde alte Dame. Schlank und mit geradem Rücken hätte man sie auch als 70-Jährige durchgehen lassen können, wenn da nicht die unendlich vielen Falten und Fältchen in ihrem Gesicht gewesen wären. Sie trug ein nachtblaues elegantes Kostüm, das nicht so recht zu ihrem freundlichen und natürlichen Lächeln passen wollte. Das noch volle weiße Haar hatte sie zu einem akkuraten Dutt aufgesteckt.
»Ist das deine Großmutter?«, flüsterte Raster.
»Oma! Ist das schön, dich endlich wiederzusehen! Und alles, alles Gute zum Geburtstag!«, rief Sabine, ohne auf seine Frage direkt einzugehen, und sprang die Stufen hinauf, um ihrer Großmutter in die Arme zu fallen.
»Das ist sie ja wohl«, murmelte Raster und folgte seiner Freundin.
»Raster, darf ich dir meine liebe Oma vorstellen? Frau Lina Funda. Oma, das ist mein Freund Raster, ich meine Hans Schulz«, verbesserte sie sich.
Erneut öffneten sich die Arme der alten Dame, und ein warmes Lachen verschönerte aufs Neue das faltenreiche Gesicht. »Sie glauben gar nicht, wie froh ich bin, dass meine Sabine endlich jemanden gefunden hat. Und wen sie liebt, den mag ich schon mal erst recht. Ich bin Lina, darf ich auch einfach Raster sagen?«
»Selbstverständlich, gerne. Und auch von mir meinen herzlichsten Glückwunsch!«, antwortete Raster etwas unsicher.
»Jetzt kommt mal erst rein«, half ihm Lina