Hans W. Cramer

Westfalengau


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Aber unerfahren und dumm, wie er war, blieb er nicht im Schutz des eigenen Grabens, sondern sprang mit einem Siegesgeheul heraus und feuerte mit dem Gewehr in die Luft. Die Befehle seines Hauptmanns, sofort zurückzukehren, hörte er nicht oder wollte er nicht hören. Für Alfred war der Krieg in diesem Augenblick vorbei, und das galt es zu feiern. Plötzlich nahm er vor sich Bewegungen wahr: Männer, die sich ihm in der einsetzenden Dämmerung mit dem Gewehr im Anschlag näherten. In diesem Augenblick passierten zwei Dinge: Ein weiterer Mann sprang auf ihn zu, brüllte: »Get down, immediately!«, und riss ihn von den Füßen. Gleichzeitig fielen zwei Schüsse, und Alfred verspürte einen fürchterlichen Schmerz in der linken Schulter. Einen Moment blieb er benommen liegen, nur undeutlich war ihm klar, dass der Engländer noch immer auf ihm lag. In der schnell einsetzenden Dunkelheit wurden beide in den englischen Graben gezogen und notversorgt. Sein Retter hatte eine Kugel ins Bein bekommen. Sie konnten gerade noch ihre Namen austauschen, dann wurden sie auch schon getrennt. Alfred kam in Kriegsgefangenschaft, sein Lebensretter, ein junger Soldat namens William Danning aus York, wurde vor Gericht gestellt und wegen »Feindsbegünstigung« zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt.

      Von Strelitz hatte sich mittlerweile auf eine Bank vor dem Münsteraner Hauptbahnhof gesetzt. Er schwitzte leicht trotz der noch winterlichen Temperaturen und zog ein Taschentuch aus der Hosentasche, um sich das Gesicht trocken zu wischen. Außerdem spannte seine Uniform. Vielleicht war es doch nicht eine so gute Idee gewesen, zu Fuß nach Hause zu gehen. Er beobachtete ein paar Frauen, die über die Straße eilten. Die meisten waren einfach gekleidet, nur wenige hatten einen Hut auf. In der Hand trugen sie einen Korb mit den wichtigsten Dingen zum Überleben. Fast alle mussten den Gürtel zurzeit enger schnallen. Das ist so in Kriegszeiten, dachte Alfred. Die Frauen bewegten sich im Laufschritt. Man wusste von der Gefahr eines erneuten Bombenangriffs. Aber noch waren die Sirenen intakt. Die Warnung würde früh genug überall in der Stadt zu hören sein. Ein paar wenige Lkws brummten vorbei und hinterließen ihre stinkende Abgaswolke.

      Inzwischen waren auch einige Dienstwagen der SS vorbeigefahren, und die ihm bekannten Offiziere hatten ungläubig geschaut, dass er da so alleine vor dem Bahnhof auf einer Bank saß. Er meinte, bei manchen ein spöttisches Lachen bemerkt zu haben. Ihn interessierte das nicht.

      Bis heute war ihm schleierhaft, warum William ihm damals das Leben gerettet hatte. Oft hatten sie in den 20er-Jahren bei diversen Besuchen darüber diskutiert, aber verstanden hatte Alfred es trotzdem nicht. Diese Art der Selbstlosigkeit war ihm zutiefst fremd. Sie waren Freunde geworden. Einmal, weil sie dieses einschneidende Erlebnis in Belgien verband, aber auch, weil sie eine gemeinsame Leidenschaft pflegten: Beide hatten nach dem Krieg Kunstgeschichte studiert. Keiner von ihnen hatte ein besonderes Talent für eigene Gemälde, aber beide liebten die Bilder der Renaissance und der Impressionisten.

      6. Kapitel

      Im Norden Dortmunds, Juli, 2019

      Die Kuchenberge waren geschrumpft, der Kaffee war ausgetrunken. Wie in Westfalen üblich, war man zu einer Runde guten westfälischen Korns übergegangen, zumal eine der ältesten und größten Kornbrennereien hier ganz in der Nähe ansässig war. Entsprechend gab es einen Krämer Doppelkorn.

      »Du musst jetzt sehr tapfer sein«, flüsterte Sabine Raster zu.

      »Warum?«, fragte dieser zurück.

      »Es beginnen die Festtagsreden. Das kann dauern.«

      Raster schluckte und machte der jungen Kellnerin ein Zeichen, das Pinnchen noch einmal zu füllen. Eigentlich stand er überhaupt nicht auf Hochprozentiges, aber irgendwie musste das ja überlebt werden.

      Als Erster kam Pfarrer Hilgenstock an die Reihe. Seine Ansprache war erstaunlich prägnant und kurz. Allerdings ließ er es sich nicht nehmen, mit einem spitzbübischen Lächeln darauf hinzuweisen, dass er Oma Lina, wie er sie nannte, gerne etwas öfter in der Messe sehen würde. Ansonsten hob er das hohe Alter und die herausragende Gesundheit der Jubilarin hervor und verband das selbstverständlich mit einem kurzen Dankgebet, das von den Anwesenden teilweise inbrünstig, teilweise peinlich berührt mitgetragen wurde.

      Raster fiel auf, dass der Pfarrer in dieses Dankgebet auch die vielen Wohltätigkeiten einschloss, die die Familie des Geburtstagskindes für die Gemeinde geleistet habe. Er sagte jedoch zunächst nichts dazu.

      Als Nächstes durfte Onkel Günter das Wort ergreifen. Seine Rede war deutlich länger, und Raster verspürte schon nach wenigen Minuten einen unsäglichen Drang, dem Korn erneut zuzusprechen. Wobei ihm ein Glas Bier viel lieber gewesen wäre. »Ich muss mal auf die Toilette«, raunte er Sabine zu. »Wo finde ich die denn?«

      »Kannst du nicht noch ein bisschen warten? Jetzt kommt der Bürgermeister. Dann zeig ich dir alles.«

      Raster rollte mit den Augen, ergab sich aber in sein Schicksal. Eigentlich musste er ja auch gar nicht. Letztlich war er jedoch froh, die Ansprache des Oberhaupts von Dortmund-Brechten nicht verpasst zu haben. Es wurde interessant: Fleischhauer lobte Lina Funda über den grünen Klee für ihr Engagement beim Bau des Kindergartens, der Grundschule, des Sportplatzes und so weiter. Und das sogar gegen den Widerstand ihres verstorbenen Gatten – Gott habe ihn selig. Diese Wohltätigkeiten hätten ja schon mit ihrem Vater, dem alten von Strelitz, begonnen, ohne den es Holthausen und Brechten in ihrer jetzigen Form wahrscheinlich gar nicht geben würde.

      Raster kam aus dem Staunen gar nicht mehr heraus. »Dann bist du ja eine richtig gute Partie. Ich wusste gar nicht, dass deine Familie so reich ist«, flüsterte er ein wenig verwaschen.

      »Sch. Sei still! Ich will weiter zuhören.«

      Da sähe man mal wieder, dass auch aus der dunkelsten Vergangenheit Gutes entstehen kann, endete gerade Bürgermeister Fleischhauer seine wirklich schöne Rede und prostete Lina zu. Alle Gäste erhoben ihre Gläser, und ein vielstimmiges Hoch-soll-sie-leben schallte über die Wiese, und die angrenzenden Koppeln.

      »So richtig freut sich deine Oma aber nicht über diese tolle Ansprache«, sagte Raster.

      Lina war auf ihren Stuhl gesunken und wirkte plötzlich kleiner als vorher. Gedankenverloren schaute sie auf ihren leeren Teller und schien gar nicht zu bemerken, dass Onkel Günter begeistert auf sie einredete.

      »Raster, bitte! Ich habe dir doch schon gesagt, dass ich dir das später erklären möchte. Nicht jetzt.« Sabine stand auf und verabschiedete sich von den Freunden aus dem Dorf, die aufbrechen wollten.

      Die übrige Gesellschaft nutzte die freien Plätze, sich neu zu gruppieren, und Raster landete neben Cousine Barbara, mit der er ein angeregtes Gespräch über IT-Anwendungen führen konnte, da auch sie in der Branche tätig war. Die kleine Ungereimtheit hatte er schon bald wieder vergessen.

      Sabine spielte mit Hanna, den beiden Mädchen und Max Krocket, und die übrige Familie hatte sich im kleineren Kreis zusammengesetzt und plauderte über dies und das. Die Mädchen wurden schließlich zu ihrer versprochenen Reitrunde abgeholt, und nach und nach wurden die ersten Jacken für die Damen herausgebracht. Es wurde kühler, und der Abend brach langsam an. Barbara entschuldigte sich bei Raster, sie hätte versprochen, bei den Vorbereitungen für das Abendessen zu helfen.

      Einen Moment genoss es Raster, allein das mittlerweile ruhigere Treiben auf dem Rasen beobachten zu können. Verliebt schaute er Sabine zu, wie sie Max half, die Kugel durch ein schwieriges Doppeltor zu schlagen. Wie lange hatte er vergeblich darauf gewartet. Über 20 Jahre wohnten sie mit Philo zusammen in der WG in Dortmund. Alles hatte er versucht, Sabines Herz zu erobern. Mit Romantik, was ihm mehr schlecht als recht gelungen war, mit Coolness, was schon eher sein Ding war, aber so überhaupt nicht Sabines. Er hatte sein Leben für sie riskiert, als er damals nur für sie nach Afrika gereist war, um ihr die Augen zu öffnen. Er hatte sie mit seinem Körper vor einem drohenden Schuss geschützt. Aber all das hatte ihr Herz nicht für ihn geöffnet. Und was war es dann letztendlich gewesen? Raster musste unwillkürlich laut lachen, als er daran zurückdachte, und zog einige irritierte Blicke auf sich. Sein Geruch war es. Sein ihm ganz eigener Geruch. Plötzlich stimmte die Chemie. Alles war klar. Und was das Besondere war: Diese 20 Jahre, die sie miteinander verbracht hatten, waren ja nicht verloren. Nein, sie konnten darauf aufbauen. Sabine und er kannten sich so gut wie kaum ein anderes