werden sollte, waren Vitkas Eltern noch verzweifelt durch die Stadt gelaufen. Hatten bis zuletzt versucht, irgendetwas in Erfahrung zu bringen, während Vitka derweil zu Hause auf sie gewartet hatte. Erst am frühen Abend waren sie zurückgekehrt.
»Was geschieht nun mit uns?«, fragte Vitkas Mutter. Die Tränen in ihren Augen verrieten, dass sie die Antwort bereits zu kennen glaubte. Vielleicht hatte sie auch gehofft, dass Vitkas Vater ihr etwas anderes sagen würde. Dass er ihr versprechen würde, alles käme in beste Ordnung.
Doch stattdessen nahm er ihr Gesicht in beide Hände und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. »Wir werden umgesiedelt«, erklärte er. Das war es, was die Deutschen ihm, dem die familiengeführte Schneiderei gehörte, erzählt hatten.
Am Abend klopfte es dann an ihrer Wohnungstür. »Los, alles einpacken und mitkommen!«, schrien zwei Soldaten mit vorgehaltenen Maschinenpistolen. Eine Viertelstunde später, nachdem sie eilig ihre Koffer gepackt hatten, bestiegen sie einen Lkw. Zusammen mit den jüdischen Nachbarn aus ihrer Straße quetschten sie sich auf die Ladefläche und fuhren in bedrückendem Schweigen durch die Dämmerung.
An der Kirche angekommen, pferchten die Soldaten sie mit gellenden Pfiffen und Geschrei in das Gotteshaus. Draußen, vor den großen, bemalten Bleiglasfenstern, sahen sie ein hellrotes Flackern.
Vitkas Vater begriff es als Erster. Für ihn waren die Fackeln der Beweis: Er war einem fatalen Irrtum unterlegen. In wenigen Minuten würde von den dreitausend Juden aus Kalisz niemand mehr am Leben sein. Verschlungen von den gefräßigen Flammen oder aber erstickt im Rauch des Feuers.
»Du musst verschwinden«, befahl er Vitka augenblicklich. Mit Tränen in den Augen fiel sich die kleine Familie um den Hals. Da war er, der Moment, den Vitka am liebsten niemals, auf keinen Fall aber bereits in so jungen Jahren, erleben wollte.
»Los, los!«, wiederholte ihr Vater. Er trennte Mutter und Tochter, die einander eng umschlungen hielten. »Gleich bleibt dir keine Zeit mehr!«
Dann kämpfte Vitka sich durch die Menschenmenge. Fuhr ihre Ellenbogen aus, wie ihre Mutter es ihr befohlen hatte, und boxte sich so einen schmalen Weg frei. Schließlich entdeckte sie die winzige Kammer, von der ihr Vater gesprochen hatte, und quetschte sich durch ein enges Fenster mühsam ins Freie. Während sie zu dem nahe gelegenen Waldstück rannte, hörte sie Schreie und spürte in ihrem Rücken die Hitze der Flammen. Keuchend erreichte sie die erste Reihe der Bäume. Als sie einen Blick zurück riskierte, waren die Schreie bereits verstummt. Unendlich lange Sekunden später war Vitka die einzige noch lebende Jüdin aus Kalisz.
Abbas mitfühlendes Nicken holte sie zurück in die Gegenwart.
»Ich kann verstehen, dass du darüber nicht sprechen magst«, sagte er. »Mögen deine Eltern in Frieden ruhen.«
»Danke«, sagte Vitka. »Ich hoffe sehr, dass sie es tun.«
Hand in Hand marschierten sie weiter den Lichtern der Stadt entgegen. Ein zarter, am Horizont wabernder Schimmer, der ihnen den Weg leitete.
Im Morgengrauen erreichten Abba und Vitka ihr Ziel. Von einem der bewaldeten Hügel, die Wilna wie eine Kette umschlossen, schauten sie herab auf die in einer Senke liegende Stadt. Im Dunst der frühen Morgenstunden hatte ihr Anblick etwas Malerisches. Gepflasterte Straßen schlängelten sich zwischen byzantinischen Ecken und zerfallenden Holzhäusern hindurch. Die Wilija, auf deren Wasser die wenigen Strahlen der Morgensonne tanzten, zog sich wie ein silbernes Band durch die Stadt. Vorbei an zahlreichen Kirchtürmen mit rostbraunen Kupferdächern, die sich in den Himmel streckten und einander wegen der engen Bebauung beinahe zu berühren schienen. Am Rande des Waldes, der an die Stadt grenzte, erhob sich majestätisch das Schloss.
Abba liebte Wilna. Seine Familie lebte schon seit mehreren Generationen hier. Bevor die Deutschen einmarschiert waren, hatte er zusammen mit seinen Eltern und seiner Schwester in bescheidenen Verhältnissen in einem Haus gewohnt. Sein Vater hatte sich immer gewünscht, dass Abba seinen Lebensunterhalt auf praktische Weise verdienen würde – genauso wie er. Doch dabei hatte er die Rechnung ohne seinen Sohn gemacht. Denn Abba hatte nie etwas anderes im Sinn gehabt, als Künstler zu werden. Zeichnen, Dichten, Bildhauen – das waren die Dinge, für die er sich begeisterte. Unzählige Male war deshalb zwischen ihnen ein heftiger Streit entbrannt. Heute fragte Abba sich, ob sie dazu überhaupt jemals wieder Gelegenheit haben würden.
»Du siehst traurig aus«, bemerkte Vitka.
Erschrocken drehte Abba sich zu ihr herum. Wieder schaute sie ihn aus ihren kindlich-naiven Augen an.
»Du hast recht«, antwortete er und nickte zaghaft. »Auch ich habe einen Teil meiner Familie verloren.«
Die Große Provokation hatte Abbas Leben für immer verändert. Noch immer blitzten die Erinnerungen an diesen Tag regelmäßig in ihm auf: das ohrenbetäubende Poltern der Soldaten, die durch die Treppenhäuser gestürmt waren und jeden Juden verhaftet hatten, den sie in die Finger bekamen. Die flehenden Rufe der Menschen, die die Deutschen aus ihren Wohnungen auf die Straße geschleift, verprügelt oder an Ort und Stelle hingerichtet hatten. Unter Tränen hatte Abba mit angesehen, wie ein Soldat ein Baby an den Füßen gepackt und seinen winzigen Kopf so lange gegen eine Hauswand gehämmert hatte, bis dessen Schreie für immer verstummt waren.
Ihm, Abba, hatte die Junge Garde hingegen ein sicheres Versteck besorgt. Von dort aus hatte der Anführer die Räumung des Gettos miterlebt. Auch seine Mutter war verschont blieben. Im Gegensatz zu seinem Vater, den ein anderes Schicksal ereilt hatte. Zusammen mit anderen Männern hatten die Deutschen ihn zu einem Bahnhof verschleppt, um sie in den Osten umzusiedeln, wie sie es nannten, wenn sie die Juden an die Orte brachten, von denen nie jemand zurückgekommen war. Deshalb befürchtete Abba, dass er seinem Vater am Morgen dieses Tages zum letzten Mal in die Augen gesehen hatte.
Jetzt spürte er plötzlich eine sanfte Berührung. Vitkas Hand ruhte auf seiner Schulter und schob seine Erinnerungen beiseite.
»Lass uns gehen«, sagte sie, »Sarah wartet auf uns.«
*
Ungläubig starrte Ruzka Korczak ihm ins Gesicht. Er war es tatsächlich: Abba Kovner, der Anführer der Jungen Garde.
Bisher hatte sie ihn noch nie gesehen, sondern immer nur gehört, wie sich die anderen Mitglieder über ihn unterhielten. Sie alle sprachen von ihm in den höchsten Tönen, und für viele, so bekam Ruzka den Eindruck, stellte er so etwas wie einen Retter dar. Einen Heilsbringer, der sie alle erlösen würde.
Ein Mensch allein konnte unmöglich solche Erwartungen erfüllen, dachte sie.
Doch nachdem Abba das Zimmer betreten hatte, erschien es ihr, als habe seine Energie augenblicklich den ganzen Raum erfüllt. Seine Anziehungskraft war gewaltig, und so ertappte Ruzka sich bei dem Gedanken, dass er wie geboren sei für seine Rolle als Anführer. Welch großes Glück sie doch hatten, dass es Vitka gelungen war, ihn an den Deutschen vorbei ins Getto zu schleusen.
Nun stand Abba leibhaftig neben ihr in dem Krankenhauszimmer. Mit wachen, einfühlsamen Augen schaute er auf das einzige Bett im Raum.
In ihm lag Sarah. Das Mädchen, auf das Mitglieder der Jungen Garde im Wald gestoßen waren, in dem es sich tagelang vor den Deutschen versteckt hatte.
Sarah war leichenblass. Obwohl die Schwestern sie mehrmals gekämmt und sich intensiv um ihre Verletzungen gekümmert hatten, war sie noch immer gezeichnet von den Strapazen ihrer Flucht. Als ob jede Zelle ihres Körpers stumme Schmerzensschreie ausstieß.
»Ich bin Abba«, stellte der Anführer der Jungen Garde sich vor. Behutsam streichelte er Sarahs Hand. Seine Stimme klang warm und kraftvoll. »Ich bin gekommen, um mir deine Geschichte anzuhören.«
Sarah schaute ihm wortlos in die Augen. Ihr Blick wanderte umher, als ob sie vor den Erwartungen, die die Anwesenden an sie und ihre Erzählungen knüpften, zu fliehen versuchte.
»Aktion Gelbe Scheine«, flüsterte sie schließlich. »Die Deutschen, sie haben alle aus dem Getto getrieben.« Ruzka erkannte eine Träne, die langsam an der Wange des Mädchens herunterkullerte. »Mein Vater hatte einen Arbeitsschein, das war sein Glück. Für meine Mutter und mich