ihres Widerstands setzen.
Es knallte, und Vitka zuckte zusammen. Mit lautem Krachen schoss eine meterhohe Stichflamme zwischen den Bäumen empor, und ein grelles Licht, das Vitkas Augen blendete, erleuchtete die umliegenden Felder taghell. Obwohl sie weit genug entfernt lag, spürte Vitka die Hitze der Explosion.
Als hätte diese ihre Wahrnehmung verlangsamt, spielte sich auf einmal alles wie in Zeitlupe ab. Trümmer rieselten wie übergroße Schneeflocken vom Himmel. Knisterndes Feuer hüllte den Zug in eine schwarze Rauchwolke, und die entgleiste Lok tuckerte mitsamt den angehängten Waggons unbeirrt der Schlucht entgegen.
Auf Vitkas Lippen breitete sich ein zufriedenes Lächeln aus. Mithilfe des Karabiners drückte sie sich aus dem Liegen auf die Knie und beobachtete die Szenen, die sich vor ihren Augen abspielten.
Das war für ihre Familie, dachte sie.
Wer Wind sät, wird Sturm ernten.
*
Ruzka schloss die Augen. Zwischen ihren Beinen wurde es warm und feucht.
Seit sie Abba in dem Krankenzimmer zum ersten Mal begegnet war, hatte sie sich gefragt, wie seine Küsse sich wohl anfühlen würden. Derart zart und sinnlich hatte sie sie sich jedoch nicht vorgestellt. Abba liebkoste ihre Brüste, als ob er jeden Zentimeter ihres nackten Körpers erkunden wollte, und wanderte anschließend hinab zu ihrem Bauch, während seine Atmung immer schneller und flacher wurde. Mit sanftem Griff fuhr Ruzka ihm durch seine lockigen Haare.
Jetzt fühlte sie auf einmal auch Vitkas Hände auf ihrem Körper. Spürte die Tropfen des Rotweins, die an der Innenseite ihrer Schenkel hinunter auf die Matratze flossen, und bemerkte, wie Abba sie mit seiner Zunge aufzuhalten versuchte. Im Hintergrund plätscherte leise Klaviermusik aus dem Radioempfänger.
Zur Feier des Tages hatte Abba drei Flaschen eines edlen französischen Tropfens ergattert. Nachdem Vitka von ihrer Mission zurückgekehrt war, hatten sie sich noch am selben Abend in ihrer Wohnung in der Straschun-Straße getroffen und miteinander angestoßen.
»Auf Vitka!«, hatte Abba gesagt und sein Glas gehoben. »Unsere tapfere Kriegerin.«
Die Stunden flogen dahin. Ihre Gespräche wurden heiterer, die Flaschen leerer. Die drei Freunde tanzten schwebend zu der flüsterleisen Musik durch den Raum. Ihre Körper berührten sich, erst flüchtig, dann intensiver und absichtsvoller, bis auch ihre Lippen zueinanderfanden. Mit wachsender Leidenschaft küssten sie sich. Zuerst auf den Mund, danach am Hals und schließlich an den Schultern und dem nackten Oberkörper.
Weitere Gläser Rotwein später drang Abba vorsichtig in sie ein. Für Ruzka war es das erste Mal, dass sie einem Mann so nahe war. Während Vitka weiterhin ihren Körper streichelte und mit zarten Küssen bedeckte, wurden Abbas Bewegungen schneller und heftiger, sodass er zu schwitzen begann. Neben dem Wein, den Vitka aus ihrem Mund auf Ruzkas Lippen träufelte, liefen nun auch warme Schweißtropfen an ihr herunter. Ruzka wollte seufzen, stöhnen, doch weil es zu gefährlich war, musste sie ihre Laute unterdrücken. Kurz bevor sie um ein Haar ihre Lust herausgeschrien hätte, presste Vitka eine Hand auf ihren Mund.
Hoffentlich, dachte sie, wiederholte sich dieser Abend noch viele Male.
*
Wer es wohl sein konnte, der nach ihm verlangt hatte? Zusammen mit dem Boten, einem aufgeweckten Jungen namens Gero, verließ Abba die Wohnung in der Straschun-Straße. »Da ist jemand am Tor, der dich sprechen möchte«, hatte er ihm mitgeteilt, »ich bringe dich hin.«
Als er hinaustrat, glitzerten die Strahlen der Morgensonne im Schnee, sodass Abba sich schützend eine Hand vor die Augen hielt. Die zurückliegende Nacht saß ihm in den Knochen. Den Rotwein, der für seine Kopfschmerzen verantwortlich war, hatte ein Schornsteinfeger für ihn ins Getto geschleust. Genauso wie die Zigaretten, den edlen französischen Käse, das Brot und die ungarische Salami. Als Anführer der Jungen Garde gehörte Abba zu den Privilegierten. Im Gegensatz zu den meisten anderen war es ihm möglich, an exklusive Dinge wie diese heranzukommen. Dinge, für die man im Getto getötet werden würde – nicht nur von den Deutschen, sondern auch von den anderen, von den hungernden Juden. Denn derartiger Luxus weckte Begehrlichkeiten.
Abba wusste um sein Glück. Wie so oft, wenn er sich durch die engen Straßen des Gettos bewegte, wurde es ihm auch an diesem Morgen erneut vor Augen geführt.
Die Bürgersteige waren voll von wandelnden Skeletten. Ein Mann, der Abba besonders aufgefallen war, sah aus, als wäre er in bettelnder Haltung eingeschlafen. Abba ahnte, was mit ihm geschehen würde. Er hatte dieses grauenvolle Schauspiel weiß Gott schon zu oft mitverfolgt. Bald würde eine deutsche Patrouille vorbeikommen und auf den Mann aufmerksam werden. Dann, weil er auf ihre Befehle nicht reagierte, würde es Knüppelschläge hageln. So lange, bis die Deutschen genug hätten und ihn schließlich in der Gosse liegen lassen würden. Dort würde sich niemand um den Leichnam kümmern, außer um seine Kleider, seine Schuhe und alles, was man auf dem Schwarzmarkt tauschen konnte. Der Wind, der an diesem Februarmorgen eisig durch die Straßen pfiff, würde den Leichengeruch bis in den letzten Winkel verteilen. Doch an ihn hatten sich die Bewohner bereits gewöhnt. Er gehörte dazu, lag wie eine Glocke über ihrem Viertel.
Nun näherten Abba und Gero sich dem Gettotor. Sie stoppten an einer blut- und kotverschmierten Hauswand, vor der eine unscheinbare junge Frau stand, die auf sie zu warten schien. Sie trug einen schäbigen Mantel, auf dessen linker Brust ein Davidstern genäht war. Erst als sie das Tuch von ihrem Kopf abstreifte, erkannte Abba sie.
Das durfte doch nicht …? Mit einem Schnippen schickte er Gero davon.
»Ima«, sprach er die Frau mit dem hebräischen Wort für Mutter an, »was machen Sie denn hier? Im Getto ist es viel zu gefährlich für Sie.«
Anna Borkowska lächelte. »Ich habe nachgedacht«, sagte sie. Damit niemand sie belauschte, beugte sie sich zu Abba. »Ich möchte mich euch anschließen.«
»Uns anschließen? Was meinen Sie?«
»Den Juden. Ich möchte mit euch kämpfen.«
Abba konnte nicht glauben, was er hörte. Waren Nonnen wie die Mutter Oberin nicht zu absoluter Gewaltlosigkeit verpflichtet? »Ich halte das für keine gute Idee«, sagte er deshalb.
»Warum?«, fragte sie. »Gott ist auch im Getto. Und so wie ich das sehe, könnt ihr jeden Mann und jede Frau gebrauchen.«
Womit sie recht hatte. Trotz der erfolgreichen Gründung der FPO waren Abbas Aufruf in der Silvesternacht bisher erst wenige gefolgt. Dem Widerstand mangelte es an Menschen, die zu allem bereit waren. Allerdings gab es etwas, das ihnen noch viel mehr fehlte. Diese Erkenntnis brachte Abba auf eine Idee.
»Es ist zu gefährlich, wenn Sie ins Getto kommen«, sagte er. Noch bevor die Mutter Oberin ihm ins Wort fallen konnte, legte er einen Zeigefinger auf seine Lippen. Die Frau, ohne deren Mut weder er noch der jüdische Widerstand überhaupt existieren würden, verstand. »Wenn Sie uns unterstützen wollen …«
Abba rückte dicht an ihr Ohr heran. Als er ihr seinen Plan ins Ohr flüsterte, weiteten sich Anna Borkowskas Augen.
*
Verstohlen wagte Jakob Gens einen Blick auf die Zeiger: Es war kurz nach halb drei Uhr morgens. Der Chef der jüdischen Polizei seufzte. Schon wieder, wie so oft in den letzten Wochen, hockte er auch heute bis spät in die Nacht in seinem Büro im Ratsgebäude. Während er aus seinen schmalen Augen über die steilen Dächer des Gettos sah, lockerte er zunächst seine Krawatte und knöpfte schließlich sein Hemd auf. Nur langsam breitete sich in ihm ein Gefühl der Entspannung aus.
Wieder einmal hatten ihn die Listen, Dokumente und Aufzeichnungen, die er stets gewissenhaft durchstöberte, viel zu lang an seinen Schreibtisch gefesselt. Wie besessen hatte er auch heute nach Mitteln und Wegen gesucht, um das Überleben der Gettobewohner zu sichern – in der Hoffnung, dass sein Volk ihn dafür eines Tages als Held verehren würde.
Davon war Gens jedoch noch weit entfernt. Für die meisten Juden aus Wilna war er nicht nur der Chef der verhassten jüdischen Polizei, sondern sogar noch etwas weitaus Schlimmeres. Einen Verräter nannten