jetzt warf Shmuel ihrem Beobachter einen flüchtigen Blick zu. Kaum erkennbar nickte er in Leipkes Richtung. In einer Stunde, so die Bedeutung dieses verabredeten Zeichens, würden sie wieder zurück sein.
Die Kiste allerdings wäre dann um einige Gewehre leichter. Die erste Waffenlieferung des Widerstands war erfolgreich über die Bühne gegangen.
*
Zunächst nahm sie nur ein flüchtiges Rascheln wahr. Als es jedoch lauter und regelmäßiger wurde, richtete Janina Marewska sich auf und lauschte.
»Hörst du das auch?«, fragte Maria. Ihre kleine Schwester, mit der sie sich ein Bett teilte, war zwölf Jahre jünger.
»Schlaf weiter«, beruhigte Janina sie. Mit einer Hand drückte sie sie zurück in die Waagerechte. »Das kommt von den Feldern.«
Dann legte auch sie sich wieder hin und schloss die Augen. Die tägliche Schufterei in der Bäckerei ihres Vaters forderte ihre ganzen Kräfte, und so war sie dankbar für jede Stunde Schlaf. In Gedanken ging sie noch einmal ihre Aufgaben für den kommenden Tag durch.
Plötzlich wieder ein Klappern.
Janina schoss hoch in die Senkrechte. Hatte sie aus dem Augenwinkel tatsächlich etwas an ihrem Fenster vorbeihuschen gesehen? Hastig griff sie nach ihrer Brille. Im Mondschein erkannte sie die Umrisse eines Helms. Ihr Puls begann zu rasen, als sie in die Augen eines deutschen Soldaten blickte.
Mit einem Mal überschlugen sich die Ereignisse. Janina hörte, wie die Haustür aufgebrochen wurde und eine Gruppe von Männern hineinstürmte.
»Los, los! Alle raus!«, brüllten sie. Dazwischen vernahm Janina das Wimmern ihrer Mutter, die ihren kleinen Bruder Moshe auf dem Arm trug, und das verzweifelte Flehen ihres Vaters. All das nützte nichts. Mit vorgehaltenen Gewehren trieben die Deutschen sie auf die Straße. Sie gaben ihnen nicht einmal Zeit, sich anzukleiden.
Draußen hatten sie bereits das halbe Dorf aufgereiht. Dicht aneinandergedrängt standen die Bewohner in ihren dünnen Nachtgewändern mit dem Rücken zur Kirchenmauer und zitterten vor Kälte. Zwischen ihnen entdeckte Janina das schockerstarrte Gesicht von Yaron. Für gewöhnlich hatte der Nachbarsjunge jeden Tag ein Lächeln auf den Lippen, wenn sie von der Arbeit in der Bäckerei nach Hause an seinem Fenster vorbeiging. Jetzt konnte Janina trotz der Dunkelheit erkennen, dass in seinen Augen nicht das übliche, freudvolle Funkeln, sondern stattdessen nackte Angst lag.
Den Bewohnern gegenüber stand eine Gruppe deutscher Soldaten. Überwacht von einem hochgewachsenen Offizier, der sein Gesicht unter einer Mütze mit dem unverkennbaren Adler verbarg und seine Hände tief in den Taschen seines ledernen Trenchcoats vergraben hatte. Bei seinem Anblick lief es Janina kalt den Rücken hinunter. Augenblicklich wurde ihr klar, dass er derjenige war, der in dieser Nacht über ihr Leben und das ihrer Nachbarn entscheiden würde.
Als plötzlich ein Mädchen in der Reihe die Kräfte verließen und es auf die Knie fiel, nickte der Offizier dem Soldaten an seiner Seite knapp zu. In der tiefschwarzen Nacht erkannte Janina zwar nicht, was dieser antwortete, doch an den Bewegungen seiner Lippen erahnte sie, dass es die zwei deutschesten Worte überhaupt waren: »Zu Befehl!«
Der Soldat eilte zu der Kirchenmauer hinüber, zog hinter seinem Rücken eine Peitsche hervor und prügelte unter dem Flehen der Mutter auf das bewusstlos am Boden kauernde Mädchen ein, bis Blut aus Mund und Nase seines Opfers quoll. Als das Mädchen aufhörte zu zucken, trat der Soldat mit seinen Militärstiefeln so lange auf seinen Schädel ein, bis dieser zerbrach. Das Geräusch fuhr Janina durch Mark und Bein. Die Mutter brach in einen Heulkrampf aus.
»Runter, du Judensau!«, herrschte der Soldat sie an. Mit einer Hand zeigte er auf seine Stiefel. »Ablecken!«
Weil sie seinen Befehl nicht befolgte, schlug er nun auch auf sie ein. Hob sie immer wieder hoch, wenn sie vornüber in den blutgetränkten Matsch gefallen war, und schlug mit dem Ledergriff seiner Peitsche zu. Bis sie schließlich auf allen vieren zu ihm kroch und anfing, mit der Spitze ihrer Zunge seine Stiefel abzulecken. Als der Soldat genug gesehen hatte, zückte er grinsend seine Pistole, presste die Mündung an den Kopf der Mutter und drückte ab. Jegliches Geräusch erstarb mit dem Knall auf dem Dorfplatz. Alle Bewohner schienen zu verstehen, dass niemand von ihnen diese Nacht überleben würde.
»Achtung!«, hallte der Befehl eines Unteroffiziers zwischen den Steinmauern. Synchron schlugen die übrigen Soldaten ihre Hacken zusammen. »Legt an!«
Janinas Blicke schossen zwischen ihnen und Yaron hin und her. Die Hände hinter dem Kopf gefaltet, stand der schmächtige Kerl mit den kurzen Haaren, für den sie schon seit geraumer Zeit schwärmte, reglos da und starrte in den Lauf des auf ihn gerichteten Gewehrs.
»Juden«, ertönte mit einem Mal die Stimme des Offiziers im Trenchcoat aus einem Sprachrohr. »Vierhundert tapfere und ehrenhafte deutsche Soldaten sind bei einem feigen Anschlag ermordet worden. Wie wir wissen, haben Bewohner dieses Dorfes die Täter bei der Ausführung unterstützt. Auf Befehl des Führers werden die Verbrecher nun ihre gerechte Strafe erhalten.«
Janina hatte davon gehört. Nur ein paar Kilometer von hier war auf einer Brücke ein Zug der Wehrmacht explodiert und in die Schlucht gestürzt. Ihr Vater hatte sogar die Flammen gesehen, die am Himmel aufgetaucht waren. Im Dorf hatte man gerätselt, wer wohl für diesen Anschlag verantwortlich gewesen war. Es mussten Partisanen gewesen sein, hatte so mancher gemutmaßt. Viele äußerten die Sorge, dass die Widerstandskämpfer sie eines Tages noch alle ins Grab bringen würden, und so hatte es niemanden gegeben, der diese Aktion offen für gut befunden, geschweige denn sie unterstützt hätte. Außer Yaron, von dem Janina wusste, dass er die stille Kollaboration vieler Menschen immer wieder scharf verurteilt hatte. In ihren seltenen zweisamen Gesprächen hatte er davon fantasiert, nach Wilna ins Getto zu gehen und sich dort einer Gruppe von Rebellen anzuschließen. Für diesen Mut bewunderte Janina ihn, denn sie selbst hätte ihn niemals aufgebracht.
Ein plötzlicher Schrei holte sie zurück.
»Feuer!«, befahl der deutsche Unteroffizier. Ließ seinen Arm nach unten fallen wie das Beil eines Henkers und gab damit den Soldaten das Zeichen zum Abdrücken. In dem Bruchteil einer Sekunde riss die Salve die Menschen von den Beinen. Als Janina sah, wie Yaron getroffen fiel, brach auch sie zusammen, als hätte ihr jemand den Boden unter den Füßen weggerissen. Nur kurz spürte Janina den schmerzhaften Aufprall eines Gewehrkolbens, mit dem der Soldat in ihrem Rücken sie ohnmächtig schlug.
*
Abba konnte nicht glauben, was er da hörte. Mit leuchtenden Augen rückte er dicht an den Empfänger heran. Ihn lauter zu drehen, wäre zu riskant gewesen, denn den Juden war der Besitz von Radios und Telefonen strengstens verboten.
Davon ließ sich der Oberleutnant der FPO jedoch nicht beirren. Nacht für Nacht verbarrikadierte Abba sich in einem Keller im Getto, mehrere Meter unter der Straße. Rauchte eine Zigarette nach der anderen und hörte SWIT, den Rundfunksender des Untergrunds. In der Hoffnung, irgendein Lebenszeichen von außerhalb des Gettos zu erhalten.
Manchmal, wenn Vitka und Ruzka ihn begleiteten, ließ Abba sogar Musik laufen. Dann tanzten sie miteinander die Nächte durch, vergaßen für ein paar Stunden den quälenden Hunger, der sie schwächte, die Strapazen des Waffenschmuggels und die schwindende Hoffnung darauf, dass die Juden sich ihnen, den Rebellen, eines Tages anschließen und gegen die Deutschen kämpfen würden. Seltene, deshalb aber umso süßere und ungetrübtere Freude. Hinterher kam es vor, dass Abba sich manchmal schuldig fühlte, weil die Menschen im Getto niemals solche Momente, sondern nur tägliches, grenzenloses Leid erlebten. Ein Gefühl, das ihn auch befiel, als er von der Racheaktion in Oszmiana erfuhr. Eines der Rebellenmädchen, die auf seinen Befehl die Dörfer in der Umgebung abklapperten, hatte ihm die erschütternde Botschaft überbracht: Im Schutz der Nacht war die SS in das Dorf einmarschiert und hatte alle Bewohner erschossen. Alte und Junge, Männer und Frauen, Kinder und Neugeborene. Danach hatten sie sämtliche Häuser in Brand gesteckt und waren wieder abgezogen. In dem Dorf schwelte noch tagelang das Feuer. So blieben von Oszmiana nur Erinnerungen übrig. Als Vergeltung für den ersten Anschlag der FPO, die Sprengung des Wehrmachtszuges, hatten die Deutschen das Dorf von der Landkarte