und sie vor dem Hauptgebäude der jüdischen Polizei antreten lassen. Ihr Auftrag: So viele Juden wie möglich für die Arbeitslager zusammenzutreiben. Ein Kundschafter des Untergrunds, den das Geschrei aus seinem ohnehin unruhigen Schlaf gerissen hatte, sprintete daraufhin über Innenhöfe, kraxelte durch Fenster in zahllose Wohnungen, rüttelte so viele Menschen wie möglich wach und warnte sie vor der Ankunft der Deutschen.
Auch Vitka war eine von ihnen gewesen. Als man ihr die entscheidenden Worte ins Ohr flüsterte, sprang sie schlaftrunken aus dem Bett. Augenblicklich wusste sie, was sie zu tun hatte. Unverzüglich würde sie sich zum Treffpunkt des ersten Bataillons begeben und ihre Waffe in Empfang nehmen.
Sie brauchte ein paar Minuten, um sich an das fremde Umfeld, das Zimmer ihrer Freundin, zu gewöhnen. Ausnahmsweise hatte sie diesmal nicht im Hauptquartier des Widerstands geschlafen, sondern war bei ihrer Freundin Salome geblieben. Wenigstens für eine Nacht hatte sie Abstand gebraucht von dem Ort, den Abba und die anderen mittlerweile in einen Bunker verwandelt hatten: die Fenster mit dicken Büchern verbarrikadiert, um sich vor den Kugeln zu schützen, die Wände meterhoch vollgestellt mit Türmen aus Steinen und Flaschen mit Schwefelsäure sowie etlichen mit kochend heißem Wasser gefüllten Kanistern, die die Rebellen den Deutschen im Vorbeigehen übergießen würden.
Abba holte sie zurück in die Gegenwart. »Kameraden!«, rief er. »Ihr habt nun eure Waffen! Wir sind bereit zum Kampf!«
Dann teilte der Oberleutnant das Bataillon in drei Gruppen auf und gab den jeweiligen Anführern ihre Befehle. Die Vorhut, der auch Ruzka angehörte, sollte ihre Stellung im dritten Stock eines Hauses am Anfang der Straschun-Straße beziehen. Abbas Einheit hingegen würde sich etwa hundert Meter weiter hinten verschanzen. Für die dritte Gruppe, der Vitka zugeteilt war, lautete die Anweisung, sich im Haus gegenüber für den Angriff bereitzuhalten. So würden die Rebellen die Deutschen ins Kreuzfeuer nehmen, sobald sie die Vorhut passiert hätten.
»Juden!«, richtete Abba sein Wort noch einmal an die Widerstandskämpfer. »Es ist so weit: Die deutschen Henker stehen vor dem Tor. Wir haben nichts mehr zu verlieren, denn ihr Beil wird jeden von uns treffen. Deshalb sage ich euch: Erschlagen wir die Hunde, bevor sie uns erschlagen!« Die Rebellen streckten ihre Gewehre zum Himmel und jubelten dem Oberleutnant zu. »Heute ist die Stunde unserer Rache gekommen. Rächen wir uns für Ponary! Für unsere ermordeten Familien! Denn nur wenn wir kämpfen, können wir unser Leben und unsere Ehre bewahren.« Abba griff nach seinem Gewehr, lud es durch und ließ seinen Blick ein letztes Mal durch die Reihen vor ihm wandern. »Deshalb, liebe Freunde, fallen wir lieber im Kampf, als dass wir uns ihnen widerstandslos geschlagen geben.«
*
Yeichel Steinbaum legte sein Ohr ans Fenster und lauschte. Doch alles, was der Anführer der Vorhut hörte, war sein ruhiges Atmen.
Direkt nach Abba Kovners Ansprache versteckten sich die Rebellen in ihren Unterschlupfen. Während sie auf die Ankunft der Deutschen warteten, war bereits der Morgen verstrichen. Dann der Nachmittag, und nun sah Yeichel, wie Schatten der Abendsonne an der Fassade des gegenüberliegenden Hauses hinaufkletterten. Die wenigen anderen, die trotz der Warterei noch nicht eingenickt waren, schauten ihn mit einer Mischung aus Angst, Wut und Hoffnung in die Augen.
Irgendetwas musste schiefgelaufen sein. Ob Jakob Gens dabei seine Hände im Spiel hatte? Ging er davon aus, dass der Widerstand den deutschen Soldaten auflauerte? In diesem Fall hätte der Chef der jüdischen Polizei mit Sicherheit auch alles getan, um die drohende gewaltsame Auseinandersetzung noch abzuwenden. Denn eine solche hätte Gens’ Konzept zunichtegemacht. Wie konnte dieser Verräter nur tatsächlich glauben, dass er mit dieser Strategie der Kollaboration der größtmöglichen Zahl von Juden das Überleben sicherte?
Jetzt, kurz nach Sonnenuntergang, hörte Yeichel schließlich etwas. Ein stetig lauter werdendes Grollen, das sich ihnen von der Oszmianska-Straße her näherte. Wenig später konnte er sie durch das Fenster sehen: etwa zwanzig Männer in deutschgrauen Uniformen, die die Straße entlangmarschierten und mit ihren Gewehrkolben gegen die Fassaden schlugen.
»Kommt raus, ihr Judenschweine!«, schallten ihre Schreie zwischen den Häuserschluchten. »Oder wir sprengen euch in die Luft!«
Mit einem Handzeichen erteilte Yeichel den anderen den Befehl, die Gewehre zu laden und Stellung zu beziehen. Er legte den Zeigefinger auf seine Lippen und flüsterte: »Alles wartet auf mein Kommando.«
Yeichel wagte einen Blick auf die Straße. Aus dem Augenwinkel sah er einen Deutschen mit Schnauzbart, der eine große Kiste in das Haus gegenüber schleppte und kurze Zeit später ohne sie wieder herauskam. Auf sein Rufen hin flüchteten sich die übrigen Soldaten in nahe gelegene Toreinfahrten, warfen sich zu Boden oder gingen hinter der nächsten Ecke in Deckung.
Dann ertönte ein Knall und eine gewaltige Feuersbrunst schoss aus den Fenstern des gegenüberliegenden Gebäudes. Yeichel sah, wie Trümmer und Leichenteile auf die Straße regneten. Die Explosion hatte das Nachbarhaus mitsamt den Juden, die sich darin versteckt hielten, in Schutt und Asche zerlegt. Yeichels Augen weiteten sich. So etwas hatte er noch nie zuvor gesehen. Sein Herz galoppierte. Er spürte, dass der entscheidende Moment nun gekommen war.
»Feuer«, rief er, »mäht diese Hunde um!«
Die Rebellen schossen. Ein rauschender Kugelhagel prasselte auf die Deutschen ein, und inmitten des tödlichen Pfeifkonzerts der Projektile suchten die Soldaten panisch nach Schutz. Auch Yeichel zielte auf die uniformierten Männer drei Stockwerke unter ihm. Dabei war er so sehr auf sie konzentriert, dass er den Mann, der sich inmitten der Trümmer hinkniete und seinen Karabiner anlegte, zu spät entdeckte.
Wieder ein plötzlicher Knall. Yeichel spürte, wie ihn etwas getroffen haben musste. Sofort ließ er sein Gewehr fallen und tastete nach der Wunde am Hals. Blut lief zwischen seinen Fingern hindurch, er konnte es nicht aufhalten. Nur ein Röcheln entkam seinem Mund. Yeichel sah an sich herunter. Dunkles, dickflüssiges Blut quoll aus seinem Hals und bildete eine Lache auf dem Boden.
»Oh mein Gott!«, hörte er Ruzka schreien.
Ihr angsterfüllter Blick war das Letzte, das Yeichel Scheinbaum zu sehen bekam, bevor er in sich zusammenfiel.
*
»Nein, warte! Das ist viel zu –«
»Hoch«, wollte er sagen. Doch seine Warnung war vergeblich. Kopfüber sprang Ruzka durch das offene Fenster im Treppenhaus hinaus in den Innenhof.
Leipke hörte einen dumpfen Aufprall. Um nachzusehen, blieb ihm keine Zeit. Auch er musste so schnell wie möglich raus aus diesem Haus. Hierzubleiben wäre sein sicheres Todesurteil. Deswegen schob er seine Sorgen um Ruzka beiseite und sprintete weiter die Treppen hinunter.
Im Erdgeschoss angekommen, wagte Leipke einen vorsichtigen Blick um die Ecke. Zu seiner Rechten lagen deutsche Soldaten zwischen den Trümmern in Stellung und feuerten unablässig auf das Fenster der Wohnung, aus der die Rebellen sie beschossen hatten. Doch deren Gegenwehr wurde immer schwächer.
Er musste weitergehen, ermahnte Leipke sich in Gedanken. Schaute nach links und blickte in das kantige Gesicht eines deutschen Gefreiten.
»Stehen bleiben!«, befahl ihm der Soldat. Offensichtlich überrascht, dass ihm einer der Rebellen direkt in die Arme gelaufen war, ließ er vor Schreck beinahe sein Gewehr fallen.
Leipke zögerte nicht. Wie eine Raubkatze sprang er dem Deutschen an den Hals. Schlug ihm schnell hintereinander mehrmals ins Gesicht, bis seine Nase brach und ihn der Schmerz kurzzeitig lähmte. Leipke nutzte diese Gelegenheit, zerrte mit aller Kraft an dem Bajonett, das an der Koppel des Gefreiten befestigt war, zog es aus der Scheide und rammte die Klinge so fest er konnte in die Brust des Mannes, der nun unter ihm lag und wild um sich schlug. Die Stichverletzung ließ ihn seine letzten Kräfte mobilisieren. Er schlug weiter um sich, versuchte, Leipke zu treffen und so von ihm herunterzustoßen. Doch Leipke wehrte ihn ab, presste eine Hand auf seinen Mund und stieß das Bajonett noch einmal in seinen Oberkörper hinein. Blut quoll zwischen Leipkes Fingern hervor, und damit war die Gegenwehr gebrochen. Der Kopf des Soldaten kippte zur Seite. Ein letztes Zucken, dann war es vorbei. Leipke sah ihn sich genauer an. Er war jung, keine zwanzig Jahre alt. Glatte Wangen, keine Falten.