der aufgebrachten Menschenmenge zu verlieren. Abba, den sie vor sich herjagten, konnte sie kaum noch sehen. In ihrem Rücken lauerten weitere hysterische Bewohner, die ihr dicht auf den Fersen waren.
»Gebt uns Wittenberg!«, skandierten die Leute und bewarfen sie mit Abfall.
Nach der gelungenen Befreiung des Löwen war Murer unverhofft in Gens’ Büro aufgetaucht. Natürlich hatte der Oberst gewusst, dass der Chef der jüdischen Polizei auch Kontakte zum Untergrund pflegte.
»Richte diesen Schädlingen Folgendes aus«, hatte er Gens unmissverständlich befohlen, »entweder sie liefern mir Wittenberg oder ich lasse das Getto liquidieren.« In Windeseile hatte sich seine Drohung wie ein Lauffeuer unter den Bewohnern verbreitet.
Im Morgengrauen entbrannte sich der Zorn schließlich. Die Rebellen waren gerade dabei, sich in ihrem Hauptquartier in der Straschun-Straße zu beraten, als plötzlich eine Scheibe klirrte. Zunächst war nur ein einzelner Stein durchs Fenster geflogen. Kurz darauf ein zweiter, dann ein dritter. Alle warfen sich auf den Boden und schützten mit den Händen ihren Kopf.
Als der Boden großflächig mit Steinen und Scherben bedeckt war, kehrte eine kurze Feuerpause ein. Mutig krabbelte Ruzka auf den Knien zum Fenster und lugte durch den gesplitterten Holzrahmen hinaus auf die Straße. Dort unten hatte sich eine Horde johlender Männer formiert. Lautstark forderten sie Wittenbergs Auslieferung. »Gebt ihn raus! Gebt ihn raus!«, riefen sie unablässig.
»Wir müssen da runter«, sagte Abba.
»Und was willst du tun?«, wandte Shmuel ein. »Hört sich das an, als würden die mit uns reden wollen?«
»Wir müssen es versuchen.« Abba richtete sich behutsam auf und zeigte zum Fenster. »Der Löwe darf ihnen unter keinen Umständen in die Hände fallen.«
Unten angekommen, wurden die Rebellen von wütenden Männern und Frauen empfangen. Ruzka glaubte, unter ihnen sogar ein paar ihrer Freunde ausmachen zu können.
»Du bist ein Fanatiker!«, schrien die Bewohner in Abbas Richtung. Einige versuchten, ihm ins Gesicht zu spucken. »Wir wollen nicht für Wittenberg sterben!«
Auf einmal kam Bewegung in den Mob. Binnen Sekunden roch es auf der Straße nach Blut. Auf beiden Seiten stürzten Menschen zu Boden, kauerten sich schützend zusammen und japsten nach Luft. Eine plötzliche Entladung des Hasses, wie die Eruption eines Vulkans. Eine unbändige Wut, von der Ruzka vermutete, dass sie einzig in der ständigen Angst vor dem Tod begründet war, die über den Bewohnern des Gettos schwebte. Ein Ventil, das nach einem Ablass forderte. Zum Glück gelang es Ruzka, den Schlägen und Tritten auszuweichen.
Doch dann ließen die Angreifer überraschend von den Rebellen ab. Unverrichteter Dinge nahmen sie ihre Beine in die Hand und rannten davon.
»Hinterher!«, krächzte Abba. Obwohl er selbst einige Schläge einstecken musste, hatte er sich trotz seines schmächtigen Körperbaus wacker gehalten. Mühsam quälte er sich auf die Beine, und mitsamt den wenigen, die noch bei Bewusstsein waren, nahm er die Verfolgung auf. Ruzka, die verschont geblieben war, hatte alle Mühe, den Trupp nicht aus den Augen zu verlieren.
Wie entfesselt stürmten die Bewohner nun durchs Getto. Filzten Haus für Haus, durchwühlten alle Zimmer, rissen falsche Wände nieder und durchsuchten jeden Winkel nach Wittenberg. Aus Sicherheitsgründen wusste Ruzka selbst nicht, wo der Löwe sich versteckt hielt. Nicht mal Abba und Glassmann, die beiden Oberleutnants, wussten es. Shmuel, der an der Befreiungsaktion des Löwen beteiligt gewesen war, hatte ihn an einem streng geheimen Ort untergebracht.
Dann tauchte Wittenberg mit einem Mal auf der Straße auf. Der Mob hatte seinen Unterschlupf ausfindig gemacht. Der Löwe sprintete aus der Dachkammer, in der er sich versteckt gehalten hatte, verließ das Haus durch die Hintertür und rannte ins Freie. Als wäre die Stimmung nicht schon aufgebracht genug gewesen, lieferte sein Erscheinen nun den Startschuss für eine wilde Hetzjagd. Quer durchs Getto.
Bis Ruzka aus der Ferne plötzlich einen Trupp jüdischer Polizisten ausmachte. »Halt!«, wollte sie Wittenberg zurufen. Doch der Löwe hätte sie nicht gehört, und so musste Ruzka machtlos zusehen, wie er weiter auf die Polizisten zustürmte. Als sie ihn erkannten, stellten die jungen Männer sich dreiecksförmig auf, wie ein menschlicher Keil, und zückten ihre Schlagstöcke. Doch bevor der Löwe ihnen in die Arme lief, zog er in vollem Lauf eine Pistole hervor, zielte auf die Köpfe der Männer – und drückte ab.
Der Knall schoss Ruzka durch den ganzen Körper und ließ sie an Ort und Stelle erstarren.
*
Während er sich in dem Raum umsah, ließ Isaak Wittenberg die kleine Kapsel durch seine Finger wandern. Schon vor Stunden hatten sie ihn hierhergebracht. In ein Hinterzimmer im Hauptquartier der Gestapo, das sich in der prachtvollen, von Bäumen und luxuriösen Geschäften sowie noblen Lokalen gesäumten Vilnius-Straße befand. Hatten ihn zunächst durch einen langen Flur und schließlich in diese leere, fensterlose Kammer geführt. Als er sie betrat, empfing ihn der finstere Blick Adolf Hitlers, dessen übergroßes Porträt wie eine ständige Drohung an der Wand hing.
Wittenberg fiel es nicht schwer zu erahnen, welches Schicksal ihm bevorstand. Er rechnete damit, dass jeden Augenblick die schwere Zellentür aufgehen, man ihn in einen entlegenen Raum führen und dort das angekündigte Verhör beginnen würde. Doch egal, was sie auch mit ihm anstellten, er würde der geheimen Staatspolizei niemals die Waffenverstecke des Untergrunds verraten. Zu überzeugt war er davon, für die rechte Sache zu kämpfen, und wenn sein Tod das unvermeidliche Opfer war, das zu erbringen ihm von seinem Schicksal auferlegt wurde, würde er diesem mit Freude nachkommen. Er, als Angehöriger einer Generation von revolutionär denkenden und leidenschaftlich kämpfenden Bauernkriegern, würde den Lauf der Dinge jedenfalls nicht aufhalten.
Jetzt nahm Wittenberg die Kapsel genauer in Augenschein. Nachdenklich ließ er sie zwischen seinen Fingern tanzen. Es war Jakob Gens gewesen, der ihm das Zyankali zugesteckt und ihm empfohlen hatte, sie im Mund aufzubewahren.
»Du musst nur das erste Verhör durchhalten«, hatte er ihm bei seiner Verhaftung ins Ohr geflüstert, »danach werde ich meine Kontakte bemühen. Dann hole ich dich hier raus.«
Wittenberg glaubte diesem schmierigen Kollaborateur jedoch kein Wort mehr. Zu frisch war die Erinnerung an seinen Verrat. Daran, dass der Chef der jüdischen Polizei ihn, Kovner und Glassmann, die beiden Oberleutnants der FPO, unter einem Vorwand zu sich gelockt hatte. Nur um Wittenberg umgehend den beiden SS-Offizieren auszuliefern, die plötzlich in seinem Büro aufgetaucht waren. Noch während sie ihn abgeführt hatten, hatte Gens ihm schließlich die schlanke Kapsel mit Blausäure gegeben.
»Falls du es nicht mehr aushältst«, hatte er geflüstert und ihm dabei zugezwinkert.
Jetzt hörte Wittenberg dumpfe Geräusche hinter der Zellentür. Offensichtlich versuchte jemand, sich Zugang zu dem Kerker zu verschaffen.
Es ging los, dachte Wittenberg. Ein letztes Mal schwor er sich, dass sie kein Wort aus ihm herausbekommen würden. Was auch immer ihn erwartete.
*
Mit stolzgeschwellter Brust richtete Vitka sich auf. Neben ihr standen die Angehörigen des ersten von zwei Bataillonen, die Abba aufgestellt hatte. Ein Kampfgenosse schritt durch die Reihen und verteilte Gewehre und Granaten.
Vitka lächelte: Endlich hatte ihre Stunde geschlagen! Endlich verspürte sie wieder so etwas wie Hoffnung. Jetzt, da war sie sich sicher, würden sich sogar die restlichen Wilnaer Juden zum Aufstand gegen die Deutschen entschließen.
Denn die Nachricht vom Tod des Löwen hatte selbst diejenigen erzürnt, die dem Widerstand kritisch gegenüberstanden. Auch der Schuldige war schnell gefunden: Jakob Gens, dieser Verräter, der Murers Forderungen nach weiteren Menschen für die deutschen Arbeitslager immer widerspruchsloser nachkam. Doch obwohl er für seinen nächsten Auftrag sogar zweihundert neue jüdische Polizisten verpflichtet hatte, konnte er die Quote von fünftausend Menschen um Längen nicht erfüllen. Das Getto, in dem nur noch etwa zehntausend Bewohner lebten, glich mittlerweile einem leer gefischten See.
Deshalb waren im Morgengrauen deutsche Soldaten