okkulte Person, die niemand je gesehen hatte und über die nur sehr wenige Informationen im Getto kursierten. Niemand konnte Abba sagen, wie alt Wittenberg war, wie er aussah und wo er herkam. Das Einzige, das man über ihn wusste, war, dass er enge Kontakte nach Moskau pflegte.
Nun saßen sich die beiden glühenden Kommunisten gegenüber. Abba studierte Wittenbergs Gesichtszüge genau. So wie er es immer tat, ließ er seinen spontanen Eindrücken freien Lauf und speicherte sie in seiner Erinnerung ab. Immer wieder behauptete Vitka, dass das die typische Angewohnheit eines Künstlers sei. Eine eigentümliche Art, mit der diese die Menschen und ihre Umgebung betrachteten.
Von Wittenbergs Erscheinung war Abba überrascht. Wie ein intellektueller Revolutionär, für den er ihn gehalten hatte, sah dieser Mann beileibe nicht aus. Vielmehr hatte er ein breites Gesicht und einen immensen Stiernacken, wodurch er eher den Charme eines handfesten Bauern versprühte. Ständig zupfte er an seinem Anzug, der ihm nicht recht zu passen schien und in den er sich offensichtlich nur gegen heftige innere Widerstände der Tarnung wegen hineingezwängt hatte.
Von dem Moment an, in dem Wittenberg die Wohnung in der Straschun-Straße betreten hatte, war sein Blick ausgesprochen kühl gewesen. Ebenso wie seine Worte zur Begrüßung: »Normalerweise habe ich nicht viel übrig für Zionisten.« Er sprach mit einer Stimme, die nicht minder kräftig war als seine Schultern. Mit dem Kinn deutete er in die Richtung des einzigen Fensters. »Schon gar nicht für den da.«
Josef Glassmann, der Angesprochene, verzog keine Miene. Stattdessen lehnte er weiter lässig an der Wand, sodass sein römisches Profil deutlich zu sehen war. Ohne auf Wittenbergs Provokation einzugehen, schaute er aus seinen geheimnisvollen, dunklen Augen nach draußen auf die verschneite Winterlandschaft. Der Anführer der Betar, der im Gegensatz zur Jungen Garde rechtsgerichteten zionistischen Jugendorganisation, war Abbas Einladung gefolgt und ebenfalls zu diesem Treffen erschienen. Von ihm, der der jüdischen Polizei beigetreten war, um Jakob Gens im Auge zu behalten, erhoffte Abba sich wichtige Informationen.
Nach einer Weile ergriff schließlich auch Glassmann das Wort. »Es gibt vieles, das uns trennt«, sagte er besonnen, »und anscheinend sind wir einzig in unserer gegenseitigen Abneigung vereint. Trotzdem hoffe ich, dass diese Zusammenkunft noch eine andere Absicht verfolgt als die, uns unserer Differenzen zu versichern.«
Auf Wittenbergs Lippen bildete sich ein Schmunzeln. Anerkennend nickte er Glassmann zu, als habe dieser soeben eine Art Charaktertest bestanden. Mithilfe seiner bulligen Arme drückte er sich von der Matratze hoch, faltete seine Hände hinter dem Rücken und ging an der fensterlosen Wand hin und her. »Einmal mehr irren Sie sich«, setzte er zu einer kurzen, aber offensichtlich vorbereiteten Rede an. »In der Tat gibt es noch mehr, das uns vereint.« Immer wieder verlieh er seinen Sätzen durch wohl platzierte Kunstpausen Wirkung. Eine rhetorische Technik, derer sich auch Abba häufig bei seinen Reden bediente. Im Unterschied zu Wittenberg, der sich diese bewusst angeeignet zu haben schien, war sie ihm jedoch bereits in die Wiege gelegt worden. »Was uns verbindet, ist nicht der Glaube an Gott. Den haben wir längst eingetauscht. Nein, wir alle drei klammern uns an etwas anderes.«
»Die Hoffnung«, vervollständigte Glassmann. »Die Sehnsucht nach einer besseren Welt. Der ewige Traum von einem Land der Verheißung.«
Wittenberg nickte. »Ja, wir mögen unterschiedliche Vorstellungen besitzen, wer der Urheber dieser Verheißung ist und wie das Gelobte Land aussehen soll«, sagte er und schüttelte daraufhin den Kopf, »aber kämpfen wir allein, wird keine davon wahr werden.« Er drehte sich um, zog eine Hand hinter seinem Rücken hervor und streckte sie den Männern entgegen.
Abba sah ihn fragend an. »Ein Pakt?«
»Nennen wir es Waffenstillstand«, korrigierte Wittenberg. »Für die Dauer des Krieges. Hier im Getto kämpfen wir nicht mehr als Kommunisten oder Zionisten. Wir kämpfen zusammen. Als Juden.« Mit seiner ausgestreckten Hand ging er weiter auf die anderen zu. »FPO – Fareinikte Partisaner Organisatzije.«
Glassmanns Lippen formten sich zu einem zaghaften Lächeln. Mit der Schulter stieß er sich von der Wand ab.
»FPO«, wiederholte er und legte seine Hand auf die von Wittenberg.
Erwartungsvoll sahen die beiden Männer zu Abba herab. Noch immer hockte der Anführer der Jungen Garde im Schneidersitz auf seiner Matratze. Doch schließlich erhob er sich, legte seine Hand auf die der anderen und sprach die drei Buchstaben leise vor sich hin.
»Darauf stoßen wir an«, sagte Wittenberg. Mit seiner freien Hand fischte er eine Flasche Wodka aus seinem Beutel. »Auf dass wir eines Tages als freie Männer miteinander trinken können.«
*
Mit pochendem Herzen lag Vitka im Gras. Inzwischen hatte das Zittern ihren ganzen Körper erfasst.
»Bleib ruhig«, sagte sie sich. »Verlier jetzt bloß nicht die Nerven!«
Vorsichtig tastete sie mit ihrer linken Hand nach dem Karabiner, der neben ihr im Gras lag. Mit der rechten umklammerte sie den Stiel der Handgranate, als ob ihr Leben davon abhing, und gewissermaßen tat es das auch: Für den Fall, dass etwas schiefging, waren das ihre einzigen Waffen.
Eine Woche lang hatte Vitka nach der perfekten Stelle gesucht. War stundenlang an den Gleisen entlanggelaufen, unermüdlich, trotz ihrer schmerzenden Füße, bis sie sie endlich gefunden hatte: die Brücke, von der Abba ihr erzählt hatte. Sie lag etwa zwanzig Kilometer von Wilna entfernt und führte über eine tiefe Schlucht. Hier sollte der deutsche Zug vorbeikommen, beladen mit Soldaten, Nahrungsmitteln und Nachschub für die Front. Er würde das erste Ziel der Partisanen sein. Von diesem Anschlag erhofften sie sich, dass sie der Wehrmacht einen spürbaren Schlag versetzen würden. Als es darum ging, wer den Plan ausführen sollte, hatte Vitka sich sofort freiwillig gemeldet.
Nun, während es zu dämmern begann, wurde sie ungeduldig. Mit aller Macht kämpfte sie gegen die Müdigkeit, die allmählich Besitz von ihr zu ergreifen drohte. Immer wieder fielen ihr für ein paar Sekunden die Augen zu. Sie glaubte, sich nicht mehr lange wachhalten zu können. Wann tauchte dieser verdammte Zug endlich auf?
Einen Moment lang befürchtete Vitka, dass sie mit ihrem Auftrag scheitern würde. So wie gestern Abend, als die Mission auf Messers Schneide gestanden hatte. Sie war so vertieft gewesen in die Untersuchung der Bahnschienen, dass ihr die Soldaten, die in dem nahe gelegenen Wald Schießübungen abgehalten hatten, nicht aufgefallen waren.
»Hände hoch!«, hatte plötzlich eine Stimme in Vitkas Rücken befohlen. »Hast du die Schilder nicht gelesen?«
Vor ihr stand ein junger Unteroffizier mit vorgehaltenem Karabiner. Als er sie misstrauisch beäugte, durchfuhr Vitka augenblicklich eine eisige Kälte. Sofort war ihr klar, dass jedes falsche Wort ihren Tod bedeuten könnte.
»Ich komme aus Wilna«, erklärte sie mit sanfter Stimme. Sie versuchte, so unschuldig wie möglich zu klingen. »Ich habe mich verlaufen. Können Sie mir helfen?«
Vermutlich war es ihr nicht jüdisches Aussehen, das ihr auch diesmal wieder das Leben rettete. Denn sofort winkte der junge Deutsche einen Bauern herbei, der gerade mit seinem Karren den Waldweg entlangkam. »Zeigen Sie diesem Mädchen den Weg nach Wilna«, befahl er ihm und zwinkerte Vitka vielsagend zu, bevor er wieder im Wald verschwand.
Doch erst nachdem auch der Bauer davongefahren war, wich allmählich die Anspannung aus Vitkas Körper. Es war pures Glück gewesen. Wäre der Deutsche nur kurze Zeit später aufgetaucht, hätte er sie auf frischer Tat ertappt, wie sie die Sprengladung angebracht hätte. Ihr Aufeinandertreffen wäre gänzlich anders verlaufen. Er hätte sie verhaftet und entweder der SS oder der Gestapo vorgeführt. So oder so wäre es ihr Todesurteil gewesen.
Ein flackerndes Licht holte Vitka aus ihren Erinnerungen. Sie schüttelte sich und kniff ihre Augen zusammen. Wie ein scheues Reh huschte das Licht zwischen den Bäumen umher. Über ihnen erkannte Vitka einen zarten, verblassenden Schweif, der in staccatoartigem Rhythmus mit dem Nachthimmel verschmolz.
Es musste der Rauch einer Dampflok sein. Der Zug, auf den sie nun schon seit Stunden wartete, näherte sich ihrer Stellung. Von jetzt auf gleich war Vitkas Müdigkeit verflogen.
Jeden