Daniel Wehnhardt

Zorn der Lämmer


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nur die Wahrheit wüssten, dachte Gens.

      Quälend lange Stunden hatte er mit Franz Murer in seinem Büro verhandelt. Nur dank seines taktischen Geschicks war es ihm gelungen, die Forderungen des stellvertretenden Gebietskommissars zu reduzieren. Der österreichische SS-Oberst hatte nach dreitausend Juden verlangt, die zum Arbeiten in den Osten deportiert werden sollten.

      Heute dachte Gens mit Stolz an diese Verhandlung zurück. Dass es ihm gelungen war, mehrere hundert Menschen vor der Deportation zu bewahren, betrachtete er als großen Erfolg, auch wenn die Menschen im Getto eine andere Meinung vertraten. Denn für sie war er von nun an derjenige gewesen, der dem Schlächter von Wilna Tausende Menschenleben geopfert hatte. Sie ahnten nicht, dass Murer ihm keine Wahl gelassen hatte. Dass er ihn damit erpresst hatte, die Selektion selbst zu übernehmen, falls die jüdische Polizei sie nicht dabei unterstützen würde.

      Diesen ganzen Ärger hätte Gens sich ersparen können. Hätte weiter in den höchsten Kreisen der Stadt verkehren, ungestört Zeitschriften und Bücher lesen sowie Konzerte und Theateraufführungen besuchen können. Alles Privilegien, die er dem Status seiner Frau, einer reichen Nichtjüdin, zu verdanken hatte. Sich der Verbannung ins Getto zu entziehen, wäre daher ein Leichtes gewesen. Gens hätte einfach nur seinen Namen ändern müssen.

      Doch obwohl ihn die Bewohner wegen seiner Position vermutlich nie als einen von ihnen akzeptieren würden, fühlte er sich ihnen dennoch verbunden. Für ihn kam es nicht infrage, sein Volk im Stich zu lassen, und so entschied er sich dafür, freiwillig ins Getto zu gehen. Wegen seiner damaligen steilen Karriere in der litauischen Armee, hatte ihn der Judenrat alsbald zum Chef der jüdischen Polizei befördert. Diese Position hatte ihm eine außerordentliche Machtfülle verschafft. Durch sie und mithilfe seines autoritären Führungsstils hatte Gens für Ruhe und Ordnung gesorgt. Jetzt, während der ersten Sommertage, lag daher sogar so etwas wie Frieden über dem Getto. Die Aktionen, wie die Deutschen ihre regelmäßigen Säuberungen nannten, hatten aufgehört. Für Gens war dies Beweis genug, dass seine Strategie die richtige war. »Wenn wir überleben wollen«, hatte er den Bewohnern stets gesagt, »müssen wir uns unentbehrlich machen.«

      Mit der Zeit war eine neue Gesellschaft im Getto entstanden. Eine eigenständige kleine Welt, die sämtliche Facetten des menschlichen Zusammenlebens beinhaltete. Es gab Mächtige wie den Schneider Weißkopf, der zweihundert Arbeiter beschäftigte und von allen nur »Getto­könig« genannt wurde. Wohlhabende und Neureiche wie die Schornsteinfeger, die auf den Dächern der Stadt arbeiteten und gegen Bezahlung Lebensmittel schmuggelten. Vor allem aber gab es unzählige Arme und Mittellose, die in ständiger Angst vor dem kommenden Tag vor sich hin vegetierten. Im Getto machten sie unbestritten die absolute Mehrheit aus.

      Sogar eine Art kulturelles Leben hatte sich entwickelt. Daran hatte Gens, der selbst vor allem an Literatur interessiert war, tatkräftig mitgewirkt. Einen seiner größten Erfolge verzeichnete er, als er bei Murer die Erlaubnis zur Veröffentlichung einer eigenen Zeitung heraushandelte. Im Getto-Anzeiger erschienen Artikel, Kommentare, Rezensionen und Namenslisten. Es gab eine eigene jüdische Bibliothek, und sogar ein Turnverein wurde gegründet.

      Gegen das geplante Theater hatte sich jedoch großer Widerstand formiert. Sogar am Morgen der Eröffnung musste die jüdische Polizei Spruchbänder von dem Gebäude entfernen. »Auf einem Friedhof spielt man kein Theater«, hatte in Großbuchstaben auf ihnen gestanden. Die Schauspielgruppe erfreute sich dennoch zufriedenstellender Besucherzahlen. Hier, im Theater, konnten Schriftsteller nun ungestört ihre Texte vortragen, Maler ihre Kunstwerke ausstellen und das Orchester Lieder von Beethoven, Chopin und Tschaikowsky spielen.

      Es seien kultivierte Tage, hörte man die Menschen auf der Straße sagen.

      Jakob Gens mochte diesen Ausdruck. Es erfüllte ihn mit Stolz, dass er es war, der diese Errungenschaften maßgeblich ins Leben gerufen hatte. Nur dank ihnen gelang es den Bewohnern, das Leid für ein paar Stunden zu verdrängen.

      *

      Aus sicherer Entfernung observierte er das Gettotor. Leipke lehnte an einer bröckelnden Hauswand in der Ostrobramska-Straße und kaute auf einem Zahnstocher. In Gedanken ging er wieder und wieder die Schritte ihres Plans durch. Den litauischen Soldaten, der mit misstrauischem und geschultem Blick das Tor bewachte, verlor er dabei nicht aus den Augen.

      Hoffentlich schöpfte dieser Scheißkerl keinen Verdacht, dachte Leipke.

      Wie immer, wenn er nervös war, nestelte er an seiner Kleidung herum. So gut es eben ging, seitdem er bei der Explosion vor einem Jahr vier Finger an der rechten und drei an der linken Hand verloren hatte. Dennoch arbeitete er weiterhin in der Waffenfabrik, obwohl die Ursache des Unfalls nach wie vor nicht bekannt war. Von dem Unglückstag wusste Leipke nur noch, wie er mit bandagierten Händen im Krankenhaus aufgewacht war, denn die Detonation hatte auch den Großteil seiner Erinnerung geraubt. Manche seiner Kollegen behaupteten, es habe an einem fehlerhaften Zünder gelegen.

      Plötzlich hörte Leipke das erlösende Geräusch: den Motor eines Lkw, der sich dem Gettotor näherte.

      Äußerlich scheinbar desinteressiert, sah er dabei zu, wie das Fahrzeug im Schritttempo in die Niemiecka-Straße bog. Hinter dem Lenkrad erkannte er das unverwechselbare Gesicht von Shmuel Kaplinsky. Wie eine Landkarte der Gegend um Wilna sah es aus, gezeichnet von Hügeln und Tälern, durchzogen von roten und blauen Linien, die die Haupt- und Nebenstraßen markierten.

      Nun kreuzten sich flüchtig die Blicke der beiden Männer. Doch obwohl sie einander kannten, reagierten sie nicht. Kein Nicken, kein geflüstertes Hallo, keine zum Gruß erhobene Hand. Nichts durfte ihren Plan gefährden.

      Wenige Meter vor dem Tor kam der Lkw schließlich zum Stehen. Auf der Rückseite war das Firmenzeichen der Wilnaer Wasserwerke zu erkennen. Shmuel, der wie so viele in der Jungen Garde überzeugter Kommunist war, stieg aus, überquerte die Straße und strebte mit entschlossenen Schritten auf den Kanaldeckel in der Nähe des Gettozauns zu. Bekleidet mit einem blauen Arbeitsanzug und einem gelben Schutzhelm auf dem Kopf, trug er die perfekte Tarnung.

      Wochenlang war Shmuel damit beschäftigt gewesen, Karten der Kanalisation anzufertigen. Dafür hatte er alle Männer, die Abbas Aufruf zum Widerstand gefolgt waren, auf Erkundungsgänge durch die Schächte geschickt. Manchmal, wenn der anhaltende Regen diese überschwemmte, gab es dort unten nur wenig Luft zum Atmen. Die Männer mussten dann ihre Köpfe in den Nacken legen und sich schweigend durch die engen Rohre schieben, während sie beteten, in dem Geflecht aus Kammern und Korridoren nicht die Orientierung zu verlieren. Leider verschlang dieses düstere Labyrinth so manche von ihnen und spuckte sie erst Tage später als aufgequollene und von Ratten angenagte Leichen wieder aus.

      Der kritische Blick des litauischen Soldaten holte Leipke zurück. Shmuel hatte nun dessen volle Aufmerksamkeit erregt.

      »So früh am Morgen?«, fragte der Soldat mit kräftiger Stimme. »Was zum Teufel tun Sie da?«

      Doch Shmuel ließ sich nicht beirren. Ruhig sah er seinem Gegenüber in die Augen und setzte schließlich wie selbstverständlich seine Arbeit fort.

      »Ein sieben Meter langes Rohr verlegen«, antwortete er kühl. Umstellte den Kanaldeckel mit Pylonen, sicherte den Bereich zusätzlich mit Absperrband und pfiff kurzerhand zwei weitere Arbeiter herbei. Die Männer, die mit Taschenlampen und Brecheisen bewaffnet waren, zerrten gerade eine offensichtlich schwere Holzkiste von der Ladefläche des Lkw. Zu Leipkes Erleichterung schien der Soldat auf ihr Schauspiel hereinzufallen.

      »Sieht nach ’ner echten Plackerei aus«, kommentierte er und nickte in die Richtung der beiden Arbeiter.

      »Wenn Sie uns unter die Arme greifen möchten?« Shmuel sah ihn einladend an. »Wir können jede Hilfe gebrauchen.«

      Der Soldat schmunzelte und winkte ab. Wortlos drehte er sich daraufhin zur Seite, begann seinen Kontrollgang entlang des Zauns und überließ die drei Männer sich selbst.

      Das war gerade noch mal gut gegangen.

      Nun sah Leipke dabei zu, wie Shmuel mit einer Brechstange den Kanaldeckel anhob. Als ob er etwas Bestimmtes suchte, leuchtete er mit einer Taschenlampe in das dunkle Loch hinab. Anschließend signalisierte er seinen Begleitern grünes