und riss ihn dem Toten vom Kopf. Falls die Deutschen auf ihn schossen, würde er ihn sicherlich gebrauchen können. Genauso wie das Bajonett. Mit einem beherzten Ruck zog er es wieder aus der Brust des Toten heraus, wischte die Klinge an dessen Uniform ab und befestigte es notdürftig an seinem Hosenbund. Anschließend durchwühlte er sämtliche Taschen. Stopfte zwei Packungen Nil-Zigaretten, mit denen man auf dem Schwarzmarkt hervorragend handeln konnte, unter sein Hemd und nahm den Mauser-Karabiner mitsamt dem letzten Munitionsstreifen an sich.
Gerade als Leipke sich wieder aufrichten wollte, traf ihn ein Gewehrkolben an der Schläfe. Zum Ausweichen war es zu spät.
*
Die Deutschen erwarteten ihn am Tor. Grob packten die Gestapo-Männer ihn an den Armen, öffneten eine der hinteren Türen ihres Dienstwagens, drückten seinen Kopf herunter und stießen ihn anschließend auf die Rückbank.
Durch das Fenster des Mercedes warf Jakob Gens einen Blick die Szpitalna-Straße hinunter. Das Getto, das für ihn jahrelang gleichbedeutend mit dem jüdischen Volk gewesen war, lag hinter ihm – sowohl räumlich als auch zeitlich. Nun war es zu einem Teil seiner Vergangenheit geworden. Ein seltsames Gefühl hatte ihn beschlichen, als die Gestapo-Männer ihn durch die Straßen geführt hatten. Denn zum ersten Mal hatte Gens sich tatsächlich wie ein Fremder gefühlt in der Stadt, die schnell zu seiner Heimat geworden war – und das, obwohl es den früheren Hauptmann der Reserve, der in der Gegend um Kaunas aufgewachsen war, erst 1940 zusammen mit seiner Familie hierhergezogen hatte.
An diesem Morgen hatte Gens’ deutscher Kontaktmann ihm die Pläne der Gestapo verraten. In deren Augen hatte Gens versagt, denn als Leiter des Gettos, zu dem er Mitte des vergangenen Jahres nach der Auflösung des Judenrats ernannt worden war, wäre es seine Aufgabe gewesen, den Partisanen den Garaus zu machen. Daran war er spätestens seit dem begonnenen Aufstand nachweislich gescheitert.
»Fliehen Sie auf der Stelle in den Wald«, hatte der Kontaktmann ihm deshalb eindringlich empfohlen.
Doch Gens hatte eine andere Entscheidung getroffen. Er war sich sicher, dass sein Verschwinden den Juden schaden würde – und damit hätte er dem einzigen Ziel, dem er sich von Anfang an verschrieben hatte, zuwidergehandelt: nämlich, das Getto um jeden Preis zu erhalten. So hatte er in dem Glauben, die Bewohner zu schützen, Alte und Kranke an die Deutschen ausgeliefert und sich sogar an der Zerstörung ganzer Dörfer beteiligt. Tausende Menschen hatten durch sein Handeln ihr Leben lassen müssen, und trotzdem war Gens nach wie vor davon überzeugt, dass es ohne ihn noch unzählige mehr gewesen wären. Ob er in einer anderen Zeit ein Held gewesen wäre? Ob die nachfolgenden Generationen sich wohl an ihn erinnern würden? Wenn ja, wie würden sie seiner gedenken?
Nach kurzer Fahrt erreichten sie das Gestapo-Gefängnis in der Rosa-Straße. Ein junger, schneidiger Unteroffizier namens Müller nahm Gens in Empfang.
»Mitkommen«, befahl er. Er führte den Chef der jüdischen Polizei an den Zellen vorbei auf einen Hinterhof, wo eine Reihe uniformierter Soldaten mit hochgekrempelten Ärmeln auf sie wartete. Mit Schaufeln, die in einem hüfthohen Erdhügel steckten, hatten sie ein Loch ausgehoben, dessen Größe und Form nur einen einzigen Schluss zuließ.
»Umdrehen«, befahl Müller forsch.
Nachdem Gens ihm den Rücken zugewandt hatte, fesselte der Unteroffizier seine Hände. Dann spürte er etwas Kaltes am Hinterkopf. Es musste die Mündung der Walther-Pistole sein, die der Deutsche ihm in den Nacken bohrte.
Gens schloss die Augen. Ein letztes Mal erschien ihm seine Frau. Er sah sie vor sich, wie sie sein Gesicht in beiden Händen hielt und ihm zart und flüchtig auf die Stirn küsste. »Hab keine Angst«, sagte sie, »schon bald werden wir uns wiedersehen.«
Der Knall, der über den Innenhof schallte, riss Jakob Gens aus der Welt.
*
»Ich werde fliehen.« Während Abba diese Worte sagte, streichelte er mit einer Hand über das ausgemergelte Gesicht seiner Mutter. »Wir gehen nach Rudnicki.«
In den Wald, etwa zwanzig Kilometer vor Wilna gelegen, hatte der Partisanenführer in den letzten Monaten immer wieder Rebellen zu Erkundungszwecken geschickt. Mit dem Nachteil, dass sie nie erfuhren, wie viele von ihnen es auch tatsächlich dorthin geschafft hatten. Denn diesbezüglich erhielten sie keine Nachrichten.
Abba erschreckte, als er das schwache Röcheln seiner Mutter hörte. Schon seit Wochen musste er mit ansehen, wie sie im Bett ihrer kargen Wohnung vor sich hin vegetierte. Ihre Wangen waren blass, ihre Arme und Beine spindeldürr geworden. Jetzt, als sie ihn aus ihren kraftlosen Augen ansah, verstand er es: Heute saß er seiner Mutter zum letzten Mal gegenüber.
Wie Abba sich wohl an sie erinnern würde? Würde sie ihm als junge glückliche Mutter in den friedlichen Tagen vor dem Krieg im Gedächtnis bleiben? So, wie er sie aus ihren Fotoalben kannte? Oder aber als abgemagerte, traurige Frau, zur der die Ereignisse der letzten Jahre sie gemacht hatten? Die Deportation seines Vaters, der Krieg, das Leben im Getto.
Als sie mühsam versuchte sich aufzurichten, drückte Abba sie sanft wieder zurück. Es war nicht gut, wenn sie sich anstrengte, das hatte er ihr nun schon mehrere Male gesagt. Sie musste sich ausruhen.
»Was wird aus mir?«, krächzte sie.
Abba holte tief Luft. Wie um alles in der Welt sollte er ihr nur die Wahrheit sagen? Verpackt in wohlklingende Worte? Oder unverblümt und geradeheraus? Egal für welchen Weg er sich entschied, das Ergebnis würde immer dasselbe sein. Denn das, was er seiner Mutter nun erklären musste, war nichts Geringeres als ihr Todesurteil.
»Es wird sehr anstrengend werden«, sagte Abba. »Shmuel hat für uns eine Karte von der Kanalisation angefertigt. So gelangen wir hoffentlich nach draußen.« Wieder streichelte er seiner Mutter übers Gesicht. »Dort unten werden nur Menschen überleben, die …«, sie sah ihn erwartungsvoll an, »in guter körperlicher Verfassung sind.«
Seine Mutter nickte stumm.
In der Tat hatte Shmuel, der umgehend nach dem gescheiterten Aufstand in der Straschun-Straße aufgetaucht war, sich wegen ihrer Flucht skeptisch geäußert. »Ist verdammt schmal da unten«, hatte er von seinen Eindrücken berichtet. Rußverschmiert, als sei er aus der Unterwelt gestiegen, war er aus den Kanälen wieder aufgetaucht. »Schon für uns allein wird’s knapp werden.« Er hatte alles andere als zuversichtlich geklungen. »Aber solange das Wasser nicht steigt, können wir’s schaffen.«
»Und wenn doch?«, hatte Abba gefragt.
»Dann werden wir alle ertrinken.«
Die traurigen Augen seiner Mutter, mit denen sie ihren Sohn ansah, holten Abba zurück.
»Wann werdet ihr gehen?«, fragte sie. Ihr Blick verriet, dass sie erahnte, wie gefährlich das Unterfangen in Wirklichkeit war. Um sie zu beruhigen, streichelte Abba über ihre Hand.
»Bei Anbruch der Dunkelheit«, antwortete er.
So, wie sie es immer getan hatten, wenn eine Trennung auf unbestimmte Zeit bevorstand, versuchten sie nun einander aufzuheitern – mit dem Unterschied, dass es diesmal eine für die Ewigkeit war.
Mit dem breitesten Lächeln auf den Lippen, welches ihr Zustand zuließ, erzählte seine Mutter lustige Anekdoten aus Abbas Kindheit. Davon, wie er ihnen, vor allem jedoch seinem Vater, schon früh als Geschichtenerzähler aufgefallen und ihnen damit manchmal auch auf die Nerven gegangen war. Dass er seinen unverwechselbaren Blick, dieses durchdringende Starren, ebenfalls bereits als Kind entwickelt hatte und wie seine jüngere Schwester unfreiwillig zur ersten Zuhörerin seiner Redekunst geworden war.
»Du bist schon immer ein Anführer gewesen«, flüsterte seine Mutter.
Zum Abschied lagen sie sich minutenlang in den Armen. Weil sie es für einen Fall wie diesen so vereinbart hatten, gingen sie daraufhin wortlos auseinander. Behutsam schloss Abba hinter sich die Tür, während er ein letztes, gequältes Schluchzen seiner Mutter hörte.
Draußen empfing ihn ein wolkenverhangener Himmel. Als er mit tränenfeuchten Augen nach oben sah, kreisten schwarze Vögel über ihm. Mit hängendem Kopf trottete