Sarah Skitschak

Die Rose im Staub


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      Nein, ich selbst glaubte nicht an Götter.

      Ich glaubte nicht, dass es weit über unseren Köpfen oder an einem verborgenen Ort im Herzen der Welt eine Macht geben sollte, die über unser aller Leben verfügte oder gar Schicksalsgarne aus Schafswolle knüpfte. Denn dann hätte ich wider mein eigenes Wissen in deren Augen ein Sünder und Schänder sein müssen, dann hätte ich ein Vergehen an den Göttern begangen, dann wäre ich ein schlechter Mensch gewesen, wenn ich den Verlauf meines bisherigen Lebens bedachte.

      Ich hatte nicht eine Regel in meinem Leben verletzt. Noch nicht einmal getötet hatte ich im Auftrag der Stadt.

      Dennoch strafte mich das vermeintliche Schicksal mit einem gewalttätigen Vater, der mich gegen jedes meiner Moralgefühle zu einer Soldatenausbildung zwang und mir seinen eigenen Titel als Senator zum Vorwand hielt. Denn der Sohn eines Senators hatte ein strammer Mann zu werden, sich nicht ausschließlich den Geisteswissenschaften zu verpflichten … und er hatte im Namen der Stadt zu kämpfen, so es seine Ehre verlangte! Der Sohn eines Senators hatte sein Leben dem Soldatendasein zu verpflichten, der Bevölkerung mit seiner Stärke zu imponieren und dem Namen seines Vaters alle Ehre zu machen.

      Ich verabscheute Gewalt.

      Und doch hatte mich das Leben bereits mit meinem ersten Atemzug in eine Welt der Gewalt gesandt. In eine Welt voller Grausamkeiten und Unrecht, in eine Welt, in der ein Senator seine ungehorsame Frau schlagen durfte, in der ein Senator seine Sklaven wie Dreck behandeln und seinen kleinen Sohn noch öfter mit Schlägen bedenken durfte … noch öfter als die Frau, die der Junge zu verteidigen versuchte.

      Ich glaubte nicht mehr an Götter.

      Mir blieb bloß die Dankbarkeit über das Glück, welches meiner Mutter mit der Aufgabe als Hohepriesterin zuteilgeworden war. Hätte man sie vor drei Jahren nicht mit jener Stellung betraut, so wäre sie vermutlich auf ewig an meiner Seite geblieben und hätte sich selbst den Händen ihres eigenen Ehegatten ausgeliefert. Nein, ich schätzte mich zum glücklichsten Menschen, sie mit einem Lächeln auf den Lippen Zeremonien leiten zu sehen und von ihr durch die Tempelanlagen geführt zu werden, die ihr ein neues Heim ohne Gewalttaten boten. Dort konnte ich ihr guten Gewissens versichern, dass ihre Entscheidung die goldrichtige Wahl gewesen war.

      Ihre Sicherheit blieb meine Priorität. Ihr neues Heim ein besonderes Privileg.

      Nun muss ich lediglich mein eigen Leib und Leben schützen.

      Nun kann ich allein mich schützen, ohne mich in Sorge um ihre Sicherheit zu verlieren.

      Mit einer kopfschüttelnden Geste schob ich die Gedanken aus meinem Geist, während die Zeremonie ihren Höhepunkt erreichte, als nun die Beipriesterinnen aus den Schatten der schmalen Tempelsäulen traten und mit anmutigen Schritten einen Weg auf das Hohepriesterplateau suchten. Ihre Gewandungen schwebten über die blankpolierten Böden, schienen kaum mehr als Nebelschleier zu sein und verhüllten doch jegliche Details ihrer Körper. In den Händen trugen sie Krüge aus verzierten Tonscherben unterschiedlichster Farben, in deren Bäuchen sich unser kostbarstes Gut befand: Wasser.

      Wasser, das den Göttern geopfert werden sollte.

      Wasser in zerbrochenen Tonkrügen, die dereinst wieder zusammengefügt worden waren – so wie auch die Götter eine zerbrochene Welt fügen würden.

      Aus den höheren Lagen der Tempelanlage erhob sich ein düsterer Chor aus männlichen Stimmen, deren Urheber in den versteckten Emporen verborgen standen und die Atmosphäre in demutfordernde Vibrationen versetzten. Die tiefen Klänge schienen die Luft zu durchdringen, wellengleich auf die Körper der Gläubigen zu sinken und als Schwingungen in ihren Muskelfasern widerzuhallen. So schunkelten die Schlafwandler mit einem Male im gleichen Rhythmus und gaben sich der Liedbeschwörung des Chores hin.

      Auch meine Nervenbahnen reagierten mit Spannung. Mir war, als durchzuckten mich winzige Blitze, als würde ich von einem aufkommenden Gewitter durchflutet werden und müsste indessen sämtliche Muskeln zu steinernen Klumpen ohne Funktion anspannen. Lediglich die Beipriesterinnen schienen sich dem Zauber der Zeremonie erwehren zu können und setzten ihren Weg zur Mitte des Priesterplateaus fort, während sich ihre weiblichen Stimmen über die männlichen Gesänge legten.

      Mit belegter Brust verfolgte ich die feenhafte Anmut der Frauen. Sie drehten sich um die eigene Achse, schwebten über die Marmorböden und ließen ihre Gewänder in den Bewegungen fliegen, bis der Raum gänzlich von den weißen Schleiern erfüllt schien, bis sämtliche Luftpartikel um die Kleider tanzten und den Stoff wie gefallene Blätter im Winde trugen. Dann knieten sich die Frauen zu den Füßen der Hohen und reckten die Krüge über das Haupt, sodass die Gefäße auf Höhe ihrer Hüfte schwebten.

      Welch eine Kraft es wohl erfordern mochte, diese Position über den Zeitraum der Zeremonie zu halten? Wie viele Jahre der Übung es wohl erfordern mochte, die Wasserkrüge leicht wie eine Feder vor den Augen der Bevölkerung wirken zu lassen?

      Schon immer hatte ich die Leichtigkeit jener gefrorenen Momente bewundert. Ein scheinbares Standbild – und doch ein Kraftakt, der nicht wie ein Kraftakt anmuten wollte.

      Der Augenblick, der den wahren Zenit jener Gebete markierte.

      »Ich rufe die Dreigottheiten bei ihren Namen«, erhob die Hohepriesterin erstmalig das Wort … und ihre Stimme echote in die tiefsten Winkel der Halle, sodass sich ein Mantel der Wärme über den Tempel legte. »Ich rufe Zeit – Göttin unserer Gegenwart, Schöpferin der Vergangenheit und Hüterin unserer Zukunft, die Göttin der Geschehnisse, die Göttin, die den Lauf der Zeiten schenkt, die ihn schenkt, ohne ihn jemals zu lenken. Ich rufe Geist – Gott unseres Glaubens, Erschaffer des Wissens und Weber der Handlung, den Gott der Taten, den Gott der Götter, der unser Schwert lenkt wie unseren eigenen Geist. Ich rufe Zufall – Göttin unserer Leben, Pfadbereiterin der Lebenswege und Element der Unberechenbarkeit, die Göttin des Chaos, der Würfel und Waagenspiele, die Göttin, die über jede Vorherbestimmtheit und Schicksalsgabe erhaben ist. Ich rufe die Dreigottheiten bei ihren Namen, um sie in unsere Mitte treten zu lassen! Zeit, Geist, Zufall – weilt unter uns Menschen, seid unsere Gäste und nehmt unser Opfer.«

      Als ihre Worte zwischen den Säulen und Steinen verhallten, neigten die Beipriesterinnen ihre Krüge ein wenig nach vorn und entließen ein stetig fließendes Rinnsal auf die Marmormuster des Tempelbodens. Während sich die Gefäße langsam leerten und immer weiter, immer mehr dem Wasser nach neigten, sammelte sich das goldgleiche Gut des Lebens in einer Lache vor den Knien der Frauen und rann über die Treppenstufen zu den Menschen hinab. Dort schien es zwischen den Spalten der Steinplatten zu versickern, als würde es tatsächlich von höheren Mächten genommen.

      »Wir bitten euch, schenkt uns Regen«, intonierte das Volk.

      »Wir bitten euch, schenkt uns Zukunft«, intonierte auch ich.

      »Wir bitten euch, gewährt uns Gnade«, intonierten wir alle.

      Da mochte ich den Göttern noch so wenig das auf dem Tempelboden versiegende Wasser vergönnen, meinen Respekt vor den Menschen in diesen Räumen … den hatte ich mir seit jeher bewahrt. Also stimmte ich in die sinnlosen Floskeln mit ein und folgte dem Rhythmus der betenden Priester, die allesamt in einem Land fremder Sphären der Realität entglitten schienen.

      Unaufhörlich plätscherte Wasser über die Stufen, formte wasserfallgleiche Vorhänge vor den Marmorsteinen und musste letztlich seinen lebensspendenden Zweck an die Opferschlitze zu unseren Füßen verlieren.

      »Gütige Götter«, rief die Hohepriesterin über die Gebetswellen der Zeremonienteilnehmer hinweg, »nehmt unser Opfer und schenkt uns den Regen, denn unsere Vorräte in den Katakomben gehen zur Neige. Segnet auch die kommenden Säuberungen, die unsere Soldaten euch zu Ehren führen werden. Wir tilgen die namenlosen Götter vom Lande, die eure Namen in den Schmutz ziehen wollen, die euren Glanz mit dem Staub der Wüste zu verhüllen und eure Schöpferkraft infrage zu stellen gedenken. Schenkt unseren Soldaten die nötige Stärke, diesen Einsatz zu euren Gunsten zu zeigen und die Welt in einen reineren Ort zu verwandeln!«

      »Wir bitten euch, schenkt