Sarah Skitschak

Die Rose im Staub


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      Sämtliche Muskeln meines Körpers zogen sich in einer Schockreaktion zusammen, als mich die Stimme der Hohepriesterin aus den Gedanken riss. In einer raschen Bewegung wandte ich mich zur Seite, linste in die Dunkelheit des Säulenganges hinein und entdeckte die Silhouette meiner Mutter, die sich allmählich dem Kunstgarten näherte. Ihre Schritte folgten einem energischen Takt, während sie die letzten Meter zu mir überbrückte. Dann traten ihre Füße aus dem Schatten des Vordachs und enthüllten ihre Gestalt dem Licht der Sonne, sodass ihre blauen Augen förmlich zu leuchten begannen.

      Leider nicht im Guten. Vielmehr in Sorge.

      Mutter raffte ihr Hohepriestergewand in die Höhe, suchte sich einen ebenen Weg über die Grünfläche und stellte sich neben der Marmorbank auf. Einige Augenblicke blieb sie wie versteinert und hielt den Zeigefinger im Ansatz einer Geste, als wollte sie mich abermals an eine der Steinstatuetten erinnern; letztlich überwog die Emotion den Keim der Zurechtweisung. Mutter ließ ihren Finger sinken und schlug die Zeremoniengewandung zur Seite, um sich neben mir niederlassen zu können.

      Ich selbst fühlte mich mit einem Male bewegungsunfähig. Die Erinnerung an mein Verschwinden während eines Götteropfers blieb bildhaft bestehen, sodass ich den ersten Impuls der Priesterin sehr wohl für mich zu deuten wusste. Ebenfalls erahnte ich die zurechtgelegten Rügenreden und die geplante Zurechtweisung des eigenen Kindes, das gegen die Norm der Gesellschaft verstoßen hatte.

      Nichts dergleichen geschah.

      Stattdessen war ein helles Seufzen der Sorge aus ihrem Mund zu vernehmen, als sie die Hand an meine Wange legte und mit verwässerten Blicken in mir zu lesen gedachte.

      »Weshalb hast du die Zeremonie vorzeitig verlassen, Daegon?«

      Mutters Pupillen zucken unkontrolliert über mein Gesicht, als versuchte sie, sämtliche Ausdrücke in Sekundenbruchteilen zu erfassen. Dann legte sich ihre Stirn in Falten, zog die Augenbrauen gleich mit in die Höhe und verriet mir sämtliche Szenarien, die sie im Geist bereits durchgespielt hatte. Sie kannte mein Geheimnis. Ihr Schmerz überwältigte mich.

      »Hätte jemand dein Verschwinden bemerkt und deinem Vater Bericht erstattet – gute Götter, nicht einmal auszudenken!«

      Ich entzog mich der unangenehmen Berührung und nahm ihre Hand in die meine, sodass es meiner Mutter unmöglich war, die sichere Distanz, die errichtete Mauer, ohne weitere Mühen zu überbrücken. Obwohl ich in ihr meine letzte Vertraute im Chaos der Welt sah und den Schmerz jener Frau als eigenes Leiden empfand, so war uns diese Mauer immer geblieben. Diese eine Grenze, die wir uns nicht zu übertreten gestatten wollten.

      »Du weißt, weshalb ich gegangen bin«, murmelte ich in die Stille. »Du hast im Verlauf der Zeremonie neue Säuberungen angekündigt und nicht ein Sterbenswort im Voraus verraten, mich nicht zuvor darüber in Kenntnis gesetzt oder zumindest eine Andeutung fallengelassen. Ich war unvorbereitet. Dementsprechend war es ein Schock. Ich bin nicht bereit, auch nur einen der Stammeskrieger im Namen der Götter zu ermorden oder einen der Wilden als Sklaven zu halten. Ich bin nicht bereit, im Namen einer vermeintlich höheren Macht zu töten, an deren Existenz ich nicht einmal glaube. Ich kann das nicht.«

      »Daegon …«

      Mutters Hand schloss sich fest um meine Fingerspitzen und versprach mir den Halt, den ich bei mir selbst nicht gefunden hatte … den ich noch immer vergeblich zu finden versuchte. Dennoch blieb der anklingende Vorwurf unüberhörbar, wie sie mich da auf eine unmissverständliche Weise bei meinem Namen nannte. Sämtliche Fragen schienen in die Artikulation eines einzigen Wortes gepresst zu werden, sodass ich die Anklage tausendfach in meinem Geist flüstern hörte und mich einer Antwort nicht mehr entziehen konnte. Eine Antwort auf die Frage, ob ich denn nicht einmal über meinen Schatten springen und meine Furcht vor dem Töten hinter mir würde zurücklassen können. Eine Antwort darauf, ob ich denn tatsächlich mein eigenes Leben riskieren wollte, indem ich mich meinen vermeintlich falschen Moralprinzipien ergab.

      Denn nichts anderes würde geschehen, sollte ich die Säuberung ausschlagen.

      Man würde mich zweifelsohne hinrichten lassen – als Fahnenflüchtigen, als Sympathisanten, als denjenigen, der nicht nach den Regeln spielte.

      Allein die Liebe meiner Mutter hatte mich bisher vor solch einem Schicksal bewahrt, mich durch die dunkelsten Täler getragen und vor den kritischen Blicken der anderen Soldaten verborgen. Nun sollte ich dieses eine Mal die Schrecken der Säuberung überwinden und als rechte Hand der Ungerechten agieren, als hätte ich niemals Zweifel an deren Taten gehegt? Für sie – so lauteten sie doch, die Gedanken!

      »Du weißt, was es bedeutet«, flüsterte Mutter erkennend und senkte ihren Blick auf unsere Hände.

      Ihr Daumen fuhr in kreisenden Bewegungen über meine Handrückenfläche, jagte prickelnde Impulse durch mein Nervensystem und machte mich glauben, ich hätte soeben das schlimmste Verbrechen an ihr begangen.

      Ach, verflucht seist du, mein Herz!

      Ich richtete meinen Blick in die Ferne des Priestergartens und suchte den einen Punkt in meinen Gedanken, an dem sich das Chaosgebilde des eigenen Herzens lösen sollte, an dem all meine Sorgen auf einen allumfassenden Sinn streben würden … Doch dieser Punkt existierte nicht.

      »Ich liebe dich, Mutter«, konstatierte ich leise. »Ich würde für dich die Feuer deiner Götter durchqueren und die finstersten Schächte unserer Katakomben durchdringen, würde selbst meinen übermächtigsten Dämonen entgegentreten und meine eigene Seele im Zuge der Säuberungen verpachten, doch bitte ich dich inständig: Verlange es nicht von mir. Ich habe zu deinem Schutz viele Dinge getan und bereue bis heute nicht, dass ich die Ausbildung für dich abgeschlossen habe. Ich bin ein guter Kämpfer geworden, damit Vater seinen Ruf als Senator nicht zu Grabe tragen muss und dir die Schuld hierfür anlasten kann. Aber ich bin kein Mörder. Missbrauche nicht meine Gefühle.«

      Als meine Worte in der Weite des Gartens verklangen, spürte ich die unmissverständlichen Zuckungen der Frau neben mir. Ihr Körper krümmte sich in gramgebeugter Haltung nach vorn, während sie die Hand aus der Umklammerung löste und ihre Miene dahinter zu verbergen versuchte. Ihr Brustkorb blähte sich in den unterdrückten Schluchzern, zitterte wie von ihren eigenen Dämonen durchdrungen und entließ schließlich einen Klagelaut in die Stille.

      »Und ich kann dich nicht verlieren«, wimmerte sie. »Ich kann dich nicht gehenlassen, Daegon.«

      »Mutter!«

      Mit einem erschreckenden Male verwandelte sich das Antlitz der sonst stolzen Hohepriesterin in die Miene eines jungen Mädchens, das von all ihren Lieben verlassen auf einer Marmorbank im Priestergarten harrte. So schmolzen die Jahre der Macht binnen Sekunden dahin, vergingen wie Butter in der Hitze auf dem Land der Namenlosen und verflossen in den Tränen der trauernden Frau, die einen Todgeweihten vor seinem Tode beweinte.

      »Mutter …«

      Als ich mich von meinem Platz erhob und mit schmerzverzogenen Brauen die Gestalt musterte, die sich ohne inneren Kampf den Eindrücken ihrer Trauer ergab … da schien der Moment meiner Entscheidung gekommen.

      Mutter hatte den Kampf vor seinem Beginn aufgegeben.

      Obgleich ich mich vor den eigenen Wunden fürchtete und selbst dem Spiel dieser Welt ein Schnippchen schlagen wollte, war mir die Wahl des Kampfes durch die Tatsachenlage genommen worden.

      Sie ist nicht stark genug.

      Sollte ich mich weigern, wird auch sie meinen Tod nicht überleben.

      Erneut ballten sich meine Hände zu Fäusten und verwandelten sich in erdrückendes Steingewicht, wie ich mich da so vor den Scherben zweier zerstörter Existenzen wiederfand. In den Trümmern toter Hoffnung lagen zwei Seelen, deren Leben sie abermals zu Boden ringen wollte … deren Leben sie vor einen Scheideweg stellte und auf unbarmherzige Weise zwang, sich zu stellen; sich zu stellen … oder den Tod zu erleiden. Ein Mann hatte uns in den Staub getreten … und so blieb es an uns.

      »Ich komme wieder«, flüsterte ich. »Mutter, ich komme wieder.«

      Mit