ihre ersten sieben Kinder. Für Ernst, den siebten Sohn in Reihenfolge, übernahm 1849 König Ernst August I. von Hannover die Patenschaft. Doch trotz des königlichen Paten war es dann aber gerade Ernst, der als Einziger der Geschwister eine ziemlich unbürgerliche Karriere einschlug. Er lebte lange Jahre in Mexiko vom Verkauf einer selbst erfundenen »Patentmedizin«. Damals waren solche »Medizinen« nicht unüblich – aber es ist schon bemerkenswert, wenn sich ein Bruder eines später weltberühmten Arztes genau auf diese Branche verlegt. Zu dieser ungewöhnlichen Jungenreihe kamen zwischen 1852 und 1856 noch die erste Tochter, Helene, sowie Eduard, Heinrich und die zweite Tochter, Marie, hinzu. Zwei in den Jahren 1850 und 1851 geborene Kinder verstarben schon kurz nach der Geburt.
Die im 16. Jahrhundert gegründete Clausthaler Bleihütte zählte zu den bedeutendsten Hütten des Oberharzes. Der Stich zeigt die Anlage um die Mitte des 19. Jahrhunderts.
Eine Großfamilie mit elf Kindern war Mitte des 19. Jahrhunderts ebenso wenig außergewöhnlich wie der frühe Kindstod. Die Säuglingssterblichkeit stieg im Verlauf des 19. Jahrhunderts in den deutschsprachigen Regionen an, bis sie erst um die Jahrhundertwende abnahm. Für die hohen Todesraten waren viele Ursachen verantwortlich. Unwissenheit über Hygiene und richtige Säuglingsernährung trug dazu ebenso bei wie Vernachlässigung oder gar bewusste Tötung – aus purer Not oder, bei unehelichen Müttern, auch aus Angst vor Strafe und Schande. »Kinder himmeln« nannte man die Praxis, Neugeborene bewusst sterben zu lassen. Waren sie getauft, fuhren sie dem Glauben zufolge sofort als Engel in den Himmel auf. Eine große Rolle spielten also die elenden Lebensbedingungen weiter Bevölkerungsschichten, die in den Agrarkrisen und wirtschaftlichen Umbrüchen des beginnenden Industriezeitalters im 19. Jahrhundert vollkommen verarmt waren. Und nicht zuletzt war die Medizin bei vielen Erkrankungen mehr oder minder machtlos: In der Ära vor Koch kannte man in der Regel nicht die wahren Ursachen von Infektionen, und auch wirksame Arzneien standen meist noch nicht zur Verfügung.
Als Stadt des Bergbaus präsentiert sich Clausthal auf Robert Kochs Ehrenbürgerurkunde von 1890. Das obere der abgebildeten Wohnhäuser ist das Haus am Kronenplatz, in dem er seine Jugend verbrachte, das untere sein Geburtshaus.
Die Kochs waren mit ihrem Kinderreichtum im 19. Jahrhundert nicht nur eine weitaus durchschnittlichere Familie als sie es heute wären, sie waren zudem eine typische alteingesessene Harzer Familie. Ihre Geschichte ist eng mit dem Bergbau verbunden, der in der Wirtschaft der Region seit Jahrhunderten eine entscheidende Rolle spielte. Blei, Silber, Kupfer und Eisenerz waren die Schätze, die in den Minen des Oberharzes gewonnen wurden. Als Robert Kochs Urgroßvater, Johann Koch, im späten 18. Jahrhundert in Clausthal zum Schichtmeister im Bergwerk befördert wurde, gehörte das Oberharzer Bergrevier mit seinen zahllosen Gruben und Hütten zu den größten Industrieregionen Europas. Ein Forschungsreisender, der sich damals von dieser rauen Region faszinieren und literarisch inspirieren ließ, war Johann Wolfgang von Goethe. Im »Faust« sind einige seiner Erlebnisse und Erfahrungen verarbeitet.
»Wenn ein Arzt hinter dem Sarg seines Patienten geht, so folgt manchmal tatsächlich die Ursache der Wirkung.«
ROBERT KOCH
In der strengen Hierarchie des Harzer Montanwesens der damaligen Zeit hatte Johann Koch mit seiner Position den Rang eines, wenn auch nicht sehr hohen, Beamten oder »Offizianten« erreicht. In späteren Lebensjahren wurde er sogar zum Senator ernannt. Johann Koch war mit Henriette Juliane Hereld verheiratet, der Tochter des Stadtschreibers und Magistratsmitglieds von Clausthal, das mit rund 10 000 Einwohnern in jener Zeit keine kleine Stadt war und sowohl wirtschaftlich als auch industriell Bedeutung besaß. Auch Robert Kochs Großvater väterlicherseits, Conrad, machte im Bergbau Karriere und hielt als Vize-Oberbergmeister einen hohen Verwaltungsposten inne. Seine Frau war die Clausthaler Kaufmannstochter Augusta Meine. Die Familie war wirtschaftlich gut gestellt und besaß ein schönes Haus am Clausthaler Kronenplatz. Als der Harz Anfang des 19. Jahrhunderts an das von Napoleon neu gegründete Königreich Westphalen fiel, geriet sie jedoch in finanzielle Schwierigkeiten und musste das Haus verkaufen.
Der Bergbau spielte auch auf der mütterlichen Seite der Familie eine wichtige Rolle. Robert Kochs Großvater Andreas Biewend nahm lange Jahre hohe Posten ein, zuerst in der Verwaltung der Eisenhütte in Rothehütte und der Königshütte bei Lauterberg im Harz, und war Mitte des 19. Jahrhunderts der Administrator von Rothehütte. Seine Familie war schon seit Jahrhunderten in der Region ansässig. Seine Frau Louise stammte aus der alteingesessenen Harzer Familie Werlisch, zu der Ratsherren in Zellerfeld gehörten. Ihre Tochter Mathilde heiratete 1839 Hermann, den einzigen Sohn von Conrad und Auguste Koch.
Hermann Koch arbeitete nach dem Abitur am Clausthaler Gymnasium wie schon sein Vater und sein Großvater im Bergwerk, nebenbei besuchte er die Bergschule in Clausthal, auf der auch sein Schwiegervater Andreas Biewend ausgebildet worden war. Die renommierte Lehranstalt für die leitenden Beamten des Bergwerkswesens war die Vorläuferin der Bergakademie und späteren Technischen Universität Clausthal. Dort lernten Berg- und Hüttenleute die theoretischen Grundlagen ihres Faches und wurden in Mathematik, Naturwissenschaften und Technik ausgebildet. Sein Studium ergänzte Hermann mit einigen Semestern an der Universität Göttingen, finanziert von einem Onkel. Gut ausgebildet begann er 1835 als einfacher Bergmann im Harz, der nun zum Königreich Hannover gehörte, seine Laufbahn. 1838 nahm er eine einmalige Karrierechance an und führte für eine französische Grubengesellschaft im südlichen Frankreich als deutscher Leiter die Verfahren des Harzer Bergbaus ein. Die Arbeit war anspruchsvoll und interessant, gut bezahlt und bot eine wunderbare Gelegenheit, den eigenen Erfahrungs- und Wirkungskreis zu erweitern.
»In der Wissenschaft entscheiden bekanntlich die Tatsachen, aber nicht schöne und wohlgesetzte Reden.«
ROBERT KOCH
1839 heirateten Hermann Koch und Mathilde Biewend in Clausthal. Das junge Paar zog nach Frankreich, wo in Ceilhes ihr erster Sohn, Adolf, auf die Welt kam. Mathilde litt jedoch unter Heimweh, und die kleine Familie kehrte schon bald nach Clausthal zurück. Eine problematische Entscheidung: Dort war die wirtschaftliche Lage extrem schwierig geworden, weil der Harzer Bergbau immer schlechter auf dem Weltmarkt konkurrieren konnte. Hermann Koch musste wieder als Untersteiger in der Grube arbeiten, finanziell konnte sich die Familie jedoch mit den Ersparnissen aus Frankreich vergleichsweise gut über Wasser halten. Dank seiner Ausbildung und Auslandserfahrung wurde er 1843 zum Grubensteiger befördert. Im selben Jahr wurde Robert Koch am 11. Dezember – angesichts des Harzer Klimas sicherlich ein ungemütlicher Tag – in Clausthal im Haus eines Verwandten geboren, und es ist eine leise Ironie der Geschichte, dass gerade bei ihm, dem späteren »Papst der Genauigkeit«, die Hebamme mit dem Geburtsdatum schluderte. »12. Dezember« trug sie als Geburtsdatum ein, obwohl Robert noch vor Mitternacht auf die Welt kam. Schon als Kind bestand er jedoch immer mit Nachdruck darauf, dass er am 11. Dezember geboren sei.
Wie so viele andere drückten auch die Kochs in den 1840er-Jahren Zukunftssorgen, obwohl Hermann Koch in seinem Beruf erfolgreich war und dank seines umfassenden Fachwissens ab 1847 zudem an der Bergschule lehrte. Als hoher Beamter war er ein politisch informierter und interessierter Mensch – 1849 wurde er außerdem zum Stellvertreter des Deputierten in der Zweiten Kammer der Allgemeinen Ständevertretung in Hannover gewählt –, und wahrscheinlich brachte er der Situation in den Jahren um die gescheiterte Deutsche Revolution von 1848 eine gewisse Skepsis entgegen. Letztendlich hatten die politischen Ereignisse im Königreich Hannover nur einige wenige Veränderungen bewirkt, darunter die Abschaffung der Zensur und die Gleichstellung der Juden. Ganz sicher erfüllten ihn jedoch die wirtschaftlichen Probleme jener Jahre mit Sorgen über das wirtschaftliche Wohl seiner Familie. Denn in Clausthal konnten der Bergbau und das Hüttenwesen nicht mehr die ökonomische Sicherheit vergangener Jahrzehnte bieten, und immer mehr Menschen verloren ihre Arbeit.
Der Clausthaler Marktplatz auf einem Aquarell von Wilhelm Ripe von 1856. Links die Holzkirche Zum Heiligen Geist, daneben