Silvie schlägt eine Stadttour zu Fuß vor, und eine Stunde später stehen die beiden auch schon auf der Kloof Street, einer schönen belebten Straße mit vielen Cafés. Simon hat seine neue Digitalkamera mit Superobjektiv trotz Silvies Protesten eingepackt – wenn er auf der Stadttour keine Fotos schießt, wann dann?
Echt erstaunlich, wie sicher man sich hier fühlt! Die Stadt hat einen exotischen, aber auch irgendwie europäischen Flair. Während Simon Fotos von den drei Bergen, den kapholländischen Häuserfassaden und vielen liebevoll eingerichteten Cafés macht, behält Silvie die Situation im Blick:
# Schwarz, weiblich, mittleres Alter – keine Gefahr
# Weißes Pärchen – keine Gefahr
Ihr Geld hat Silvie in weiser Voraussicht in ihrer Socke versteckt. Für den Fall des Falles, dass die beiden angegriffen werden, ist zumindest das Bargeld gesichert! Dafür schwitzt sie sich jetzt in den Strümpfen und Turnschuhen bei 33 Grad Celsius einen ab.
# Zwei Männer, schwarz, jung –
Sehr suspekt! Silvies Gefahrendetektor schlägt völlig aus.
Ihr Herz schlägt schneller, denn DAS könnte sie sein, die gefährliche Situation, vor der alle Reiseführer warnen. Simon und sie sind hinter einem parkenden Laster versteckt, und außer den zwei vermutlichen Gangstern kann sie gerade niemand sehen – das heißt, niemand könnte zur Hilfe springen, würden sie angegriffen!
Silvie macht schlagartig kehrt um und marschiert mit Simon im Schlepptau in die entgegengesetzte Richtung, um hinter dem Laster rasch auf die andere Straßenseite zu flüchten. Kurzer Blick nach links, dann nach rechts, dann läuft sie schnell rüber ...
Tüt!!! Tüüüt!!! Tüüüüüüüüüüt!!!
Ein blauer Wagen mit Ladefläche bremst nur zwei Meter vor Simon und Silvie ab.
(Apropos: Zweisitzer mit abdeckbarer Ladefläche statt Rücksitzen und Kofferraum sieht man oft auf Kapstadts Straßen – man nennt sie hier ›bakkies‹. Ein paar Autowagenhersteller produzieren sie ausschließlich für den südafrikanischen Markt, weil sie hier so außerordentlich beliebt sind, wie zum Beispiel ›Opel Corsa Utility‹ oder ›Ford Bantam Bakkie‹.)
Mist, stimmt! Die haben ja hier Linksverkehr. Simon hat auch falsch herum geguckt. Das Straßenüberqueren kann hier ja ganz schön gefährlich werden. Dass der Fahrer aber auch nicht vorher abbremst? Der hat sie doch schon von weiter oben über die Straße laufen sehen! Silvie sind die südafrikanischen Autofahrer jetzt schon unsympathisch. Auf der anderen Straßenseite gibt ein Obdachloser, während er eine Mülltonne inspiziert, den beiden seinen Rat mit auf dem Weg: »You must luuuk before you cross the road! Luuuk here, luuuk there. This is very dangerous, you know.«
»Du sag mal, warum hetzt du mich auf einmal auf die andere Straßenseite?«
»Da kamen zwei total gefährlich aussehende Typen auf uns zu.« Unglaublich, Simon hat tatsächlich überhaupt kein Gefühl für Gefahrensituationen.
»They are going to drive right OVER you, if you don’t luuuk!«
»Echt? Ist mir gar nicht aufgefallen ...«
»Do you have some change, brother?«
»NO.«
(Apropos: Besser »Sorry, brother/bru/dude« oder »No, thanks«. Klingt netter.)
»A cigarette?«
»No.«
»Da, dreh dich um – DIE zwei Jungs dahinten!«
Simon ist sich nicht sicher. Er kann Afrikaner nicht so gut einschätzen. Könnte sein, dass das Kriminelle sind, könnte aber auch sein, dass das zwei ganz normale junge Männer auf dem Weg zur Arbeit sind. Als er sich wieder umdreht, bemerkt Simon, dass die obere Hälfte des Tafelbergs auf einmal hinter einer riesigen Wolke verschwunden ist.
(Apropos: Der Tafelberg ist ein Schauspiel für sich. Obwohl er sich mitten in der Stadt befindet, verschwindet er im Winter oftmals völlig hinter einer weißen Nebeldecke. In den Sommermonaten wiederum bedeckt manchmal eine schmale Wolkenschicht seinen oberen Teil. Kapstädter nennen dieses Phänomen ›table cloth‹, also Tischtuch, denn es sieht so aus, als hätte man eine weiße Tischdecke über die lange Bergtafel ausgebreitet. Das ›Tischtuch‹ besteht aus feuchten Luftmassen, die vom offenen Meer aus den Tafelberg überströmen. Aus diesen zum Aufstieg – und damit zur Abkühlung – gezwungenen Luftmassen bilden sich Wolken. Da aber im Sommer an den Hängen des Berges gleichzeitig ein trocken-warmer Fallwind weht, ›verrutscht‹ das kühle Wolkentuch nicht nach unten.)
Sieht völlig surreal aus! Als er gerade ein Foto knipsen will, reißt ihm Silvie mir nichts, dir nichts die Kamera aus der Hand und steckt sie in ihre Korbtasche.
»Nicht hier!«
»Warum?«
»Da kommt schon wieder so ein zwielichtiger Typ auf uns zu.« Die beiden stehen mitten an einer Riesenkreuzung, was soll denn HIER schon passieren? Ein älterer, gepflegter Mann mit weißem Bart, Uralt-Anzughose und freundlichem Gesicht geht an den beiden vorbei und sagt »Hello, how are you«, als er bemerkt, dass die zwei ihn anstarren.
Simon wundert sich, was Silvie an diesem alten Mann mit Mandela-Ausstrahlung nicht geheuer findet. Wahrscheinlich ist es einfach die Tatsache, dass man hier auf einmal mit so vielen völlig anders aussehenden Menschen umgeben ist.
»Schatz, wir sind hier in Afrika! Nicht jeder Schwarzafrikaner, der uns entgegenkommt, ist ein Gangster.«
STREETWISE VS. STREETWAHN
Jeder Südafrikaner wird Ihnen raten, sich streetwise zu verhalten, um Kriminellen nicht zum Opfer zu fallen. ›Streetwise‹ bedeutet ›Straßen-clever‹. Heißt: aufmerksames und umsichtiges Verhalten, sobald man sich außerhalb der eigenen vier Wände bewegt. Tagträumerisch durch die Straßen spazieren geht in einem Land wie Südafrika nicht. Ein bisschen Aufmerksamkeit reicht aus, um Gefahren auf ein Minimum zu reduzieren. Hier sind ein paar grundsätzliche Tipps:
Man sollte sich ausschließlich in sicheren Gegenden bewegen und im Zweifelsfall Einheimische, Hotelbesitzer und Gastgeber fragen, welche Stadtteile und Vororte man lieber aussparen sollte. Manche Stadtteile sind zum Spazierengehen und Sightseeing tagsüber in Ordnung, sollten aber abends gemieden werden.
Wertgegenstände gehören in den Hotelsafe. Handys, Geldbörsen und alles andere, was man bei sich trägt, sollte man in einer Tasche verstauen. Egal ob im Zimmer, im Auto oder unterwegs – nichts von Wert sollte sichtbar sein. Beim Parken sollte man ALLES in den Kofferraum räumen – auch Pullis und Supermarkttüten, wenn man eine eingeschlagene Scheibe verhindern will.
Wer ist um mich herum? Darauf sollte man jederzeit ein Auge behalten. Vor sich hin träumen macht man lieber, wenn man wieder zu Hause ist. Wenn man ein komisches Gefühl hat, sollte man auf Nummer sicher gehen und die Straßenseite wechseln oder umkehren.
Als Tourist benutzt man am besten keinen Zug – Busse und Minitaxen sind okay, aber nur unter der Woche und nur wenn es hell ist.
Sollte man tatsächlich überfallen werden, gilt: Ruhe bewahren und ALLES WIDERSTANDSLOS ABGEBEN – egal was und wie viel es ist. Wegen eines Fotoapparats sein Leben aufs Spiel zu setzen, ist völlig irrsinnig. Man sollte sich darüber im Klaren sein, dass die meisten Gangster unberechenbar und sind und bei Widerstand auch wegen fünf Euro nicht zögern werden, ein Messer zu ziehen. Deswegen bringt man sich am besten von vornherein gar nicht erst in solche Situationen.
Oftmals, wenn man dann in Südafrika vor Ort ist und feststellt, dass das Land nicht den Horrorbildern entspricht, die man aus den Medien kennt, schlägt die Angst in Selbstüberschätzung um, und man kann sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass es ein Kriminalitätsproblem gibt, wird unachtsam, zieht abends mit der Kamera um den Hals und dem teuren Smartphone