Andreas Brendt

Ganesha macht die Türe zu


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verlassen und etwas wagen, wo dann? Es geht nicht nur um ihre Privatsphäre, das ist vielleicht sogar nur ein Vorwand in meinem Kopf. Es geht darum, mich meinen Ängsten und Widerständen zu stellen, denn eins ist klar: Ich hab Schiss.

      Nach einer Weile verlässt die Gruppe den Raum. Wir sind allein.

       Do one thing every day that scares you!

      Ich erhebe mich, schleiche zu Katarina herüber. Auf halbem Weg wundere ich mich, weil ich gar nicht mitbekommen habe, irgendeine Entscheidung gefällt zu haben. Ich setze mich zu ihr. Sie schaut auf, lächelt mich glücklich an und schließt ihre Augen. Ich lege meinen Arm um sie, wir meditieren zusammen.

      Nach einer Weile öffne ich die Augen. Katarina ist voll da, aber auch irgendwo weit weg. Sie wirkt wach und präsent.

      Während die Ereignisse des Tages vor meinem geistigen Auge vorbeiziehen, streichele ich über ihren Kopf. Sie schmiegt sich in meine Hand, genießt die Zärtlichkeit. Ich bin der Giver.

      Nach ein paar Minuten hebe ich meine Hand in die Luft und fahre ihre Aura entlang. Sie räkelt sich voller Genuss. Ohne jeden Körperkontakt. Ich schmunzele: Alle verrückt in diesem Land. Dann reibt sie ihre Oberschenkel aneinander, ihr Atem rauscht. Sie öffnet den Mund, atmet, macht ein Geräusch, bewegt sich, die Augen sind geschlossen. Ich fühle den Raum zwischen meiner Hand und ihrem Körper, gleite mit dreißig Zentimetern Abstand über ihre Scham, zu den Oberschenkeln, den Knien und wieder hinauf zum Bauch. Ein Keuchen verlässt Katarinas Lungen. Ich spüre ihren Brustkorb, ihren Kopf, ohne ihn zu berühren, dann lege ich Zeige- und Mittelfinger auf ihren Solarplexus. Im Moment der Berührung beginnt ihr Körper zu zittern. Sie keucht, ihre Hüfte zuckt, ihr Atem strömt stoßweise durch den Mund. Der Kontaktpunkt ist minimal, total subtil, aber er geht tief, wird warm, ist unzertrennlich. Als wenn Strom durch meine Finger in sie hineinfließt. Ich beobachte, was mit Katarina geschieht, und das ist nur unmöglich. Direkt vor meiner Nase, einfach nur unmöglich. Großartig. Es zuckt in ihr, die Intensität wächst, wird gewaltig. Als ich meine Hand löse, ergießt sich ein Hauch Entspannung über sie, und sie zerfließt in gleichmäßige Erregung. Sinnliche Geräusche entschwinden ihrem Mund. Ich bin bereit für den nächsten Schritt, bin wohl jetzt ein Sex-Guru. Ich habe aufgepasst, also lege ich Daumen und Zeigefinger an ihren Hals …

      »AAAHHAAHHHH!!!«

      Zum Glück sind wir allein, denn sie stöhnt so heftig, als würde wild gefickt. Die nächste Welle bricht über sie hinein. Sie bebt, vibriert, keucht, windet sich. Ich kann das alles gar nicht glauben und blicke mich um. Niemand hier. Ich muss das Ole erzählen. Aber erst mal will ich wissen, wo das jetzt alles hinführt!!!

      Als ich nachts in unserer Hütte ankomme, ist Ole noch wach. Er liest, ist nicht mehr ganz so blass und sieht eigentlich ganz brauchbar aus. Gut, denn es gibt einiges zu besprechen. Das glaubt mir doch keiner! Ole ist wahrscheinlich der Einzige im ganzen Universum. Eine Tasse Tee dampft auf seinem Nachttisch, neben einer Packung Salzstangen und einem Glas, in dem ein letzter Rest Coca-Cola schwimmt.

      Ich berichte, er fragt nach allen Einzelheiten, ist morgen mit dabei. Mit tausend Grad Fieber oder Übelkeit, ganz egal. Nach zehn Minuten bin ich durch und schnaufe. Packe das alles nicht.

      Ole blickt mich mit großen Augen an: »Und dann seid ihr zu ihr und habt richtig guten Sex gehabt?«

      »Leider nein. Wir sind Hand in Hand am Strand entlanggelaufen, sie hat mir erzählt, wie sich die Energie angefühlt hat, wie intensiv, wie geil, wie die Energie durch mich hindurch in sie hineingeströmt ist. Sie konnte meinen Energiekörper sehen, war begeistert von meinen, na ja, außergewöhnlichen energetischen Fähigkeiten. Sie arbeitet wohl viel mit Energie. Und sie konnte nicht glauben, dass ich gar nix davon mitbekommen habe, was da geschehen ist.«

      »Du warst der Giver. Wie ging’s weiter?«

      »Als wir bei ihrer Unterkunft angekommen sind, war irgendwie klar, dass da nix läuft. Wir haben uns umarmt, wie Freunde, wie spirituelle Liebhaber. Dann ist sie glücklich schlafen gegangen. Ohne mich.«

      »Immerhin bist du jetzt ein Guru. Und du musst mir unbedingt beibringen, wie das geht.«

      Ich wache auf, drehe mich zur Seite, sehe die Dämmerung, höre Stille und den frühen Morgen. Es ist noch Zeit. Alles an diesem Tag ist ungewiss, aber das hat eine schöne Seite. Eine knappe Stunde später summt der Wecker. Wir machen uns fertig, Ole geht es passabel. Nach dem Frühstück laufen wir zum Love Center.

      »Love Temple!!!«

      Natürlich gehen wir zu Hariprem. Die Halle ist zum Bersten gefüllt. Ein paar bekannte Gesichter, alle nicht mehr ganz so fremd. Ich atme aus. Ole erkämpft sich einen Platz mit bester Sicht. Ich bleibe am Rand. Die Leute sitzen dicht gedrängt auf dem Boden, quatschen, dehnen sich oder sitzen in Stille. Um neun Uhr betritt Hariprem mit seiner Frau Kaulika, einer heiligen Peruanerin, die Halle und schreitet nach vorn. Er ist groß, hat sehr helle Haut, trägt ein weißes Gewand, der graue Bart schwebt über seiner Brust. Sie nehmen Platz, er schaut durch die Reihen, fühlt den Augenblick. Etwas umgibt ihn, eine Ruhe, eine Gewissheit, die das Geschnatter im Raum erlöschen lässt. Seine Präsenz ist fühlbar. Neben ihm seine Frau, sie legt ihre Hand auf seine Oberschenkel, er legt seine auf ihre. Er blickt sie mit großen Augen an, als wenn er sie noch nie gesehen hätte. Sie sind in diesem Moment die einzigen Menschen in dieser Halle. Nein, auf dem Planeten. Er verehrt sie wie eine Königin. Sie schauen sich an, verliebt wie Teenager. Er schmunzelt und richtet, als ob er sich erinnert: Da war noch was!, den Blick zurück zu uns. Seine Bewegungen sind langsam, sie schweben. Er erlebt jeden Millimeter. Total. Jemand reicht ihm ein Mikrofon. Eine kindliche Neugierde wohnt in seinen Augen. Und Vertrauen. Er wartet darauf, dass etwas passiert. Er wartet, ohne zu warten. Ohne Eile. Ohne Idee. Dann entstehen Worte, die durch seinen Mund über das Mikrofon zu uns gelangen.

      »Wir sind umgeben von den Elementen. Sie spielen mit uns. Es sind vier, aber jedes Element ist auch die Liebe.«

      Er beschwört die Elemente herauf.

      »Feuer.« Ein Schmunzeln huscht über sein Gesicht.

      »Erde.« Sein Körper ist vollkommen aufgerichtet und verwurzelt.

      »Wasser.« Sein Atem fließt, die Arme in sanfter Bewegung.

      »Luft …«, eine Entscheidung ergreift von ihm Besitz, »… aber heute ist es Wasser!«

      »Feuer ist wild, ungezügelt, es brennt. Erde ist unverrückbar. Sie ist unser Fundament. Luft ist leicht, sie schwebt, sie wandert mit uns in ungeahnte Sphären, aber wir werden heute das Eis in unseren Herzen mit Wasser schmelzen lassen.«

      Eine süße Traurigkeit wandert aus meiner Brust in meine Augen. Eine Träne kullert über meine Wange. Wo kommt das denn her? Wieso werde ich traurig, nur weil ein Typ mit langem weißem Bart ein paar abstrakte Sätze spricht? Wie lange habe ich nicht mehr geweint? Und jetzt: keine schlechte Nachricht wie der Tod eines Familienmitglieds oder das Ende einer Liebe, nichts, was Kummer bringt. Vielleicht sind es die Worte, vielleicht dieses subtile Unbeschreibliche in dieser Halle. Aber etwas in mir löst sich. Ich blicke wieder nach vorne. Dieser Mann strahlt so viel Frieden aus.

      Wir sollen uns bequem und aufrecht hinsetzen. Äääh, was denn jetzt: bequem oder aufrecht? Na ja, jetzt keine Haare spalten, also schließe ich die Augen, denn Hariprem wird uns in eine Meditation geleiten.

      »Lasst den Atem wie das Wasser fließen. Wasser läuft den Berg hinab, so wie ihr ausatmet, und strömt wie ein starker Fluss, wenn der Atem den Körper füllt. Fühlt die Kraft des Elements. Nichts kann das Wasser aufhalten. Lasst es fließen, lasst es wie einen Wasserfall in die Tiefe stürzen und lebendig sprudeln, während es seinen Weg beschreitet.«

      Alle beginnen zu atmen, einige seufzen, andere stöhnen. Ich fühle, wie meine Brust sich wölbt und senkt, fühle die unbändige Kraft der Atmung.

      »Intensiviert den Fluss! Wasser ist die Quelle des Lebens. Sprudelt!«

      Seine Worte treffen mich. Unmittelbar. Im Körper. Der Raum um mich herum bebt, die Menschen werden größer. Alles ist nah. Dann wird die Halle zu einem brausenden Sturm. Hariprem peitscht uns an. Es wird laut,